Estelle Blaschke
Die Geschichte des Mikrofilms
Von den 1920er bis in die 1950er Jahre
Forschungsprojekt, Université de Lausanne, Centre des Sciences historiques de la culture, Projektteam: Prof. Olivier Lugon (Projektleiter), Dr. Estelle Blaschke (Senior Researcher, Projektausarbeitung), Davide Nerini (Doktorand), Beginn: Mai 2015, Finanzierung: SNF, Schweizerischer Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung. Kontakt: estelle.blaschke(at)unil.ch
Erschienen in: Fotogeschichte, Heft 140, 2016
Die Vorstellung umfangreiche Sammlungen, eine „komplette Bibliothek“[1] oder gar „die Archive einer Nation“[2] mit Hilfe der Fotografie auf ein möglichst kleines Format zu reduzieren, ist fast so alt wie das Medium selbst. In Folge der ersten Präsentation von Mikrofotografien [3] auf der Londoner Weltausstellung von 1851 etwa pries John Herschel die Fotografie als die „bedeutendste Erfindung der Neuzeit, die es erlaubt, Behördendaten in einer konzentrierten Form auf mikroskopischen Negativen aufzubewahren.“[4] Das Forschungsprojekt untersucht die bislang nur kursorisch erforschte Geschichte der Fotografie als Kopiermaschine und als ein Medium für die Handhabung, Zirkulation und Konservierung unterschiedlichster Text- und Bildvorlagen. Der Forschungszeitraum konzentriert sich auf die 1920er bis 1950er Jahre. Es war eine Zeit in der die Entwicklung des Mikrofilms als Speicher- und Diffusionsmedium konkrete Formen annahm, eine Zeit des Experimentierens, der Fortschritte und Sackgassen, der Zukunftsphantasien und Kontroversen.
In den 1920er und 1930er Jahren, die bekanntlich für die ästhetische Emanzipation der Fotografie wesentlich waren, kulminierten eine Reihe von technologischen, kulturellen und wirtschaftlichen Faktoren, die auch für die functional photography [5] wie Katalysatoren wirkten. Die Geschichte des Mikrofilms nahm ihren Anfang in Europa, jedoch waren es Ingenieure, Wissenschaftler, Bibliothekare, Hersteller und Dienstleister in den USA, die sich als die Pioniere einer neuen Technologie verstanden und diese als ein Exportprodukt aufbauten.
Datenkontrolle und Datenfluss
Die Eastman Kodak Company, die bereits Ende des 19. Jahrhunderts den Rollfilm in seinen Kameras verwendete, investierte beträchtliche Summen in die Etablierung der auf Mikroverfilmung spezialisierten Tochtergesellschaft Recordak. Unter dem Slogan „Accounting by Photography“ kam 1928 die Recordak 16mm-Kamera auf den Markt, die in zahlreichen US-Banken, Versicherungen und Handelsunternehmen zur Speicherung von Geschäftstransaktionen, insbesondere der Kontrolle von Scheckdaten genutzt wurde. Für den Bibliotheks- und Archivbetrieb konkurrierten amerikanische, deutsche und französische Hersteller bei der Entwicklung von Kameras und Lesegeräten in unterschiedlichen Formaten und mit unterschiedlichen Kapazitäten. Auch Kleinbildkameras wie die ab 1925 erhältliche Leica I wurden als ein neues Accessoire der wissenschaftlichen Recherche beworben, die es erlaubte „nicht an den Ausstellungsort gebunden zu sein, sodass der Bibliotheksbenutzer selbst als Photograph auftreten kann.“[6] Weitere technische Neuerungen erfolgten im Bereich des Filmmaterials. Neben der kontinuierlich gesteigerten Feinkörnigkeit der chemischen Emulsionen, wurde 1925 der Celluloseacetat-Film, der sogenannte Sicherheitsfilm, als ein vermeintlich stabiles Trägermaterial auf den Markt gebracht. Aus archivarischer Sicht war Celluloseacetat nicht nur eine gute Alternative zum leicht entflammbaren Nitratfilm, sondern ebenso die Basis für alle Arten von synthetischen Fasern, Plastik und Lacken – und somit der Grundstoff einer bahnbrechenden, globalen Industrie. Als Teil dieses aufstrebenden Marktes gründete Eastman Kodak 1928 die Tochtergesellschaft Eastman Chemical Corporation und sicherte sich damit die Kommerzialisierung des Rohmaterials und der Hardware. Die Geschichte des Mikrofilms, so scheint es, ist eng verknüpft mit der Geschichte der chemischen Industrie des 20. Jahrhunderts.
Netzwerke und Infrastrukturen
Die Absicht des Forschungsprojektes ist es die vielfältigen Überschneidungen von Fotografie,- Medien,- Technologie,- Industrie,- Wissens- und Kulturgeschichte aufzuzeigen, die sich in der Geschichte des Mikrofilms (des Microfiche und der Filmlochkarte) konzentrieren. Es ist ein Versuch, die Grenzen der wissenschaftlichen Disziplinen aufzubrechen, welche die Historiografie der Fotografie lange gekennzeichnet haben. Ein besonderer Schwerpunkt liegt auf der Erforschung der Entstehung und Ausweitung von Netzwerken und Infrastrukturen in den USA und Europa, ohne die der Mikrofilm nicht möglich gewesen wäre. Während der Einsatz des Mikrofilms in Industrie- und Handelsunternehmen ein wichtiger Teil der intendierten Untersuchung ist, behandelt das Forschungsprojekt vornehmlich die Verwendung des Mikrofilms als Speicher- und Diffusionsmedium in Bibliotheken und Archiven.
Wie bereits Paul Otlet, der Gründer des Brüsselers Office International de Bibliographie, in seinem erstmals 1906 erschienenen (und mehrfach aktualisierten) Essay „Sur une forme nouvelle du livre. Le livre microphotographique“[7] (in Ko-Autorschaft mit dem Physiker und Entrepreneur Robert Goldschmidt) postulierte, versprach der Mikrofilm die Reduzierung von Produktionskosten und Speicherraum und die Möglichkeit mehr oder bislang unzugängliche Bild-und Textdokumente verfügbar zu machen. Neben der Ausweitung der Kopiertätigkeit für wissenschaftliche Zwecke, welche die externe Leihe und Fernleihe ersetzen sollte, bot sich der Mikrofilm zudem zur Vervielfältigung von Bibliothekskatalogen und Verzeichnissen an. Im Vergleich zu manuellen Abschreibetechniken und frühen Formen der Fotokopie (z.B. Photostat), schaffte die Datenspeicherung auf leichten und flexiblen 16mm und 35mm-Filmrollen die Aussicht auf einen zukunftsträchtigen Markt und deutete auf einen weiteren Schritt in der erhofften „Demokratisierung“ des Wissens hin.
Eine potentiell globale Technologie?
Amerikanische Bibliotheken, Universitäten und Forschungsinstitute, die noch junge Einrichtungen waren und mangelnden Zugang zu europäischen Publikationen hatten, setzten ganz auf die Realisierung großangelegter Pilotprojekte und damit auf das Potenzial der Fotografie für die Informationstechnologie. Im Jahr 1927 etwa, begann die Library of Congress mit Hilfe einer großzügigen Finanzierung der Rockefeller Foundation mit der systematischen Reproduktion von Handschriften, Grafiken und Büchern zur Geschichte der Vereinigten Staaten, die sich in den Bibliotheken, Archiven und Museen Europas befanden. Intern als Project A bezeichnet, resultierte der Plan in über drei Millionen Einzelaufnahmen und wurde später in das Foreign Copying Program eingegliedert, welches auch Bestände außereuropäischer Institutionen reproduzierte und in Washington D.C. zentralisierte. Die Universitätsbibliotheken von Harvard, Yale und Chicago etablierten hauseigene Mikrofilm-Labore oder schlossen Verträge mit Zuliefererfirmen ab. Der Einsatz „neuer“ Technologien wurde als eine wichtige Etappe in der Entwicklung der jeweiligen Forschungssammlungen erachtet.[8] In der Photographs and Print Division der Library of Congress koordinierte Paul Vanderbilt, der für die Fotografie-Sammlung der Farm Security Administration (FSA) zuständig war, die Mikroverfilmung der über 175,000 Bilder als ein zusätzliches Back-up und Referenztool. Gegen Ende der 1930er Jahre avancierte der Mikrofilm zu einer Kriegstechnologie.[9] Mikroverfilmungen wurden zu Geheimdienstzwecken eingesetzt und dienten als Korrespondenzsystem. Auch sollte der Mikrofilm gefährdetes Kulturgut – durch seine Kopie – vor dem vollständigen Verlust bewahren. All diese Investitionen und Erwartungen in die Zukunft des Mikrofilms vor, während und nach dem zweiten Weltkrieg waren keineswegs unumstritten. Dennoch: trotz diverser technischer Defizite und juristischer Unklarheiten, die über Jahrzehnte anhielten, entwickelte sich ein klares Interesse insbesondere seitens der US-amerikanischen Institutionen und Unternehmen in der Hoffnung eine zukünftige, globale Technologie zu monopolisieren, die das Potential hatte das Sammeln, Prozessieren und Teilen von Daten zu verändern. In Folge der relativen Etablierung des Mikrofilms und des Microfiche im Bibliothekswesen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, hat die digitale Datenform den Mikrofilm heute nahezu ersetzt. Abgesehen von vereinzelten Langzeitarchivierungsprojekten, sind nur geringe Mengen der weltweiten Mikrofilm-Sammlungen tatsächlich in Gebrauch oder werden in das Digitale übertragen.
Der Großteil der existierenden Publikationen zum Mikrofilm sind Handbücher und Zeitschriftenbeiträge im Bereich der Bibliotheks-und Informationswissenschaften mit einem starken Fokus auf die Praxis. Die Medien- und Kulturgeschichte des Mikrofilms wurde bislang nur rudimentär behandelt (u.a. Luther, Meckler, Saffady, Shaw), jedoch sind wegweisende Beiträge in der jüngeren Forschung zu verzeichnen (Dommann, Gitelman), die denselben Zeitraum fokussieren und an denen das Forschungsprojekt anknüpfen wird. Weitere wichtige Publikationen zur Bibliotheks- und Archivgeschichte (u.a. Lebart, Rayward), Protagonisten des Mikrofilms (u.a. Buckland, Sachsse) sowie zu Teilaspekten, wie z.B. Standardisierungsprozesse (Sterne), Technologie-Romantik (Coyne, Gitelman), Materialität (Edwards, Manoff), wissenschaftliche Datenerfassung (u.a. Lemov) und Institutions- und Unternehmensgeschichte fließen in das Projekt mit ein. Ausgehend von der These, dass der Mikrofilm erstens ein integraler Teil der Fotografiegeschichte ist und zweitens als ein Scharnier oder missing link zwischen der Materialität des Papiers und der Immaterialität der digitalen Form zu sehen ist, unternimmt mein Habilitationsprojekt den Versuch eine umfassende und interdisziplinäre Geschichte des Mikrofilms während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu schreiben. Darüber hinaus, wird sich Davide Nerinis Dissertationsvorhaben auf das Werk des Bibliothekars, Archivars, Kunsthistorikers und Fotografen Paul Vanderbilt (1905–1992) konzentrieren, der einen wichtigen Beitrag zur Theorie des Fotoarchivs und der Ikonografie sowie zu den Wechselbeziehungen zwischen Fotografie und Bibliotheks- bzw. Informationswissenschaft geleistet hat. Als Teil einer breiter angelegten Forschung zur Geschichte der Projektion, untersucht Olivier Lugon schließlich die Geschichte des „film fixe“ (Stehfilm) in den 1910er bis 1930er Jahren und seine Entwicklung als Medium zwischen Mikrofilm und Diapositiv.
[1] Suzanne Briet: Qu’est-ce qu’est la documentation?, in: Revue de la documentation, Heft 19, 1952, S. 104-119, hier S. 111. [Originalzitat: On transfère un ouvrage entier, avec ses illustrations sur des microfilms, sur des microfiches, sur des “microcards”. Un épais dossier se glisse, microfilmé, dans une poche de veston. Une bibliothèque entière est renfermée dans un sac à main.]
[2] The Photographic News, 1859 zitiert nach Frederic Luther: Microfilm. A History 1839–1900, Annapolis 1959, S. 23.
[3] Ich verwende den Begriff der Mikrofotografie als einen Oberbegriff für alle Arten der Mikro-Reproduktion auf transparentem Film, welche neben der Filmrolle, d.h. den Mikrofilm, den Mikrofiche und die Filmlochkarte, die Lochkarte mit eingesetztem Negativ, beinhaltet. All diese Formen der Mikroreproduktionen unterscheiden sich in ihrer Verwendung und der Art und Weise ihrer Lesbarkeit. Das Forschungsprojekt konzentriert sich zunächst auf den Mikrofilm, der im Untersuchungszeitraum die dominante Form war.
[4] John F.W. Herschel: New Photographic Process, in: Athenaeum (9. Juli 1853), S. 831.
[5]So eine gängige Bezeichnung der Eastman Kodak Company.
[6]Heinrich Schreiber: Pflicht und Recht der Bibliotheksphotokopie, in: Sonderdruck aus Archiv für Urheber- Film und Theaterrecht, Band 7, Heft 5 und 6, 1935, S. 442-463, hier S. 447.
[7]Paul Otlet, Robert Goldschmidt: Sur une nouvelle forme du livre: le livre microphotographique, Publication 81 des Institut International de Bibliographie, Brüssel, 1906.
[8] Siehe u.a. A.F. Kuhlman: Microphotography in Research and Library Work, in: Peabody Journal of Education, 17. Jg., Heft 4, 1940, S. 223-235 und Keyes D. Metcalf: Implications of Microfilm and Microprint for Libraries, in: Library Journal, 70. Jg., Sept. 1945, S. 718-723.
[9] Siehe u.a. Pamela Spence Richards: Information Science in Wartime: Pioneer Documentation Activities in World War II, in: Journal of the American Society for Information Science, 39. Jg., Heft 5, 1988, S. 301-306.
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