Ulrike Matzer
Der belgische Barthes
Henri Van Lier: Philosophy of Photography. Mit einem Vorwort von Jan Baetens und Geert Goiris, hg. Barbara Baert, Jan Baetens, Hilde van Gelder (Lieven Gevaert Series, Vol. 6) – Leuven : Leuven University Press, 2007 – 23 x 16,8 cm, 128 Seiten, 30 Abb. in Farbe und S/W, broschiert – 27,50 Euro
Erschienen in: Fotogeschichte 106, 2007
Dasselbe Thema in verschiedenen Sprachen behandeln hieß für Vilém Flusser, es von je anderer Warte aus betrachten, und gerne ließ der Kultur- und Kommunikationsphilosoph sich dabei von Etymologien leiten. Seinen am Umbruch von der Text- zur Bildkultur entlang geschriebenen Essay "Für eine Philosophie der Fotografie" (1983) hat der gebürtige Prager etwa auf Deutsch verfasst. Dass es damals bereits eine französisch formulierte Abhandlung ähnlichen Titels gab, "Philosophie de la photographie", ist wenig bekannt: Henri Van Lier, Anthropo- und Semiologe, und über seine zwei Reflexionen zur Fotografie[1] belgisches Pendant zu Roland Barthes, konzipierte 1981 in Brüssel eine Serie von Vorträgen zum Thema (ein Jahr also nach Veröffentlichung von La chambre claire). 1983 erschienen die Lectures als Aufsätze in den Cahiers de la Photographie, zehn Jahre später eigenständig dann als Buch – herausgegeben jeweils von Gilles Mora. Dass Van Liers Schrift so lange nur klandestin existierte, liegt zu keinem kleinen Teil an der Editionsgeschichte: Moras Unternehmen wurde bald insolvent. 2005 besorgten Les Impressions Nouvelles eine ökonomische Neuausgabe des besagten Bands – mit frischem Schutzumschlag. Die englische Übersetzung des Essays nun, gut ein Vierteljahrhundert nach der Niederschrift, mag ihm hoffentlich breitere Leserschaften bieten. Denn Henri Van Liers Beitrag zur Fotografie (und womöglich darüber hinaus) hält durchaus Vergleichen stand mit jenem Barthes" und Benjamins, Sontags und Malraux". [2]
Spezifisch an Van Lier ist, dass er weit ausholen kann und lässig (auch gestisch übrigens), um nicht notwendig nahe beisammen liegende Disziplinen zu verlinken: Semiotik, Psychoanalyse, Anthropologie, Physik – anhand der Ästhetik und in erster Linie: Materialität von Fotografien. Darin nämlich vereinen sich für ihn Techno- und Kosmologie: Textur und Struktur einer Aufnahme entstehen durch Eindruck einzelner Photonen; der Welle-Teilchen-Dualismus des Lichts, dessen konstante Geschwindigkeit zum einen und das Diskontinuierliche, Quantische seiner Energie zum andern generieren Flecken auf der lichtempfindlichen Substanz – und somit das Bild. Oder, wie schon Benjamin eben jenes magische Moment exakter Technik metaphorisch korrelierend fasste: "das winzige Fünkchen Zufall [...], mit dem die Wirklichkeit den Bildcharakter gleichsam durchsengt"[3]. Von der sakramentalen Präsenz einer Reliquie[4] nachgerade sind für Henri Van Lier Daguerreotypien: ein Extrem körperlicher Signatur – denn eben die Photonen, die die abgebildete Person zuvor berührten, berührten auch die unikate Platte (die wiederum zum Betrachten in Händen hin und her gewendet werden will). Photonenabdrucke sind also Indizien, die auf ihre Ursache verweisen, während – so Van Lier – ein Index im Sinne eines Zeigegestus intentional bestimmte Teile einer Fotografie betont: sei das durch Kadrage, Beleuchtung, mise en scène oder Attitüde des Motivs, durch nachträgliche Retusche, oder am deutlichsten: über einen Pfeil im Bild, wie auf diversen Fotos in Gazetten.
Brauchbar ist diese Differenzierung etwa, wenn es um fotografische Reproduktionen geht, die vor allem das gesamte 19. Jahrhundert über eine Menge hybrider Techniken und Bilder zur Folge hatten; Bilder, in denen nur indirekt, in zweiter Ebene auf das Abgebildete verwiesen wird: eine zum bloßen Zweck der Vervielfältigung gemachte Fotografie eines Stiches zeigt diesen nicht als physikalisches Objekt (zumindest nicht vordergründig), sondern das, was er repräsentiert. Solches wie das Wechselspiel zwischen fototechnischen und manuellen Mitteln (Kolorierung) lassen den direkten Konnex mit dem Abgebildeten unklar werden, verschwimmen – jene (vermeintliche) Punkt-für-Punkt-Korrespondenz, die ein anderer Semiologe einfach und eindeutig als "Index" sah: Charles Sanders Peirce[5], auf den sich Henri Van Lier bezieht – nicht ohne ihn dabei heftig zu kritisieren. Und auch Roland Barthes, dem die Semiotik ein gewisses Renommée verdankt, weist er zurecht: nicht nur dessen auf studium und punctum fixierter Blick auf Bilder sei zweifelhaft (denn dies gäbe es für das Gros berühmter Fotografen nicht); auch dem ça a été und le voici kreidet er eine gewisse Krausheit an: denn weder das "das" noch seine Vorgegenwart ließen sich exakt lokalisieren; und voici als "hier" sei zuvorderst die Fotografie per se, und nur, wenn es in ihr indexikalische Bezüge gibt, ein Verweis auf darin Abgebildetes: "possibly indexed indices" nennt Van Lier Fotografien dementsprechend.
Derartige Spitzfindigkeit im Sprachlichen erhellt den Blick für verschiedene Formen des Fotografischen, seine "Transmutabilität"; für Reproduktionsverfahren damit auch: vor allem die universitäre Kunstgeschichte verwendet das Diapositiv (und andere Arten von Projektion) so unhinterfragt als bloßes Dokument, dass darüber sein eigentlicher Status üblicherweise ausgeblendet ist. Dabei macht gerade das projizierte Bild die es bedingenden Lichteigenschaften sichtbar: man badet geradezu darin. Daraus, dass Kunstwerke teils so erst adäquat wiedergegeben werden, zieht Van Lier den Umkehrschluss, ein Maler wie Rembrandt hätte im Grunde Diapositive hergestellt – keine uninteressante These, wenn man über Licht und Malerei nachdenkt.[6] Verglichen mit dem diaphanen Fluidum wirkt ein Polaroid beinahe skulptural: als nicht reproduzierbares Unikum von physiologischer Autarkie, eine sich selbst entwickelnde Welt.
Solch unterschiedliche Erscheinungs-, Gebrauchs- und Wirkungsweisen von Fotografie, von Fotografien, ihre Ubiquität und Omnipräsenz, skizziert Van Lier – was die Lektüre recht brauchbar macht für interdisziplinäre Fragestellungen: nicht umsonst wurde der Autor seitens der Cultural Studies neu entdeckt. Auf welche Arten von Bild-Text-Relation sein semiotisches Instrumentarium sich wie verwenden lässt, suchte das zur Buchpräsentation ausgerichtete Kolloquium[7] zu vermitteln: fotografische Archive, die Stadt als Text, Fotoromane, fotografierte Schrift waren bloß einige der Vortragsthemen. Van Liers Analyse von Wahlkampf- und Rauchwarenplakaten empfiehlt sich als kondensiertes Komplement zu Barthes" "Rhétorique de l"image" – ohne Abbildungen des Besprochenen in der englischen Version des Texts übrigens Musterbeispiel einer Ekphrasis.
Dass die Neuauflage nicht mit den ursprünglichen Bildern ausgestattet ist, liegt neben Kosten für Copyrights daran, dass sie illustrativen Charakter hatten und neben wenigen bekannten Fotos großteils von sehr jungen Künstlern und Künstlerinnen. Dementsprechend ist auch der Bildebene Übersetzungsarbeit eingeschrieben: Studierende der Katholieke Universiteit Leuven produzierten zeitgemäße Fotos in Anwendung von Van Liers Philosophie. Die Textübersetzung dagegen gestaltete sich intrikat, da im Englischen in eins fällt, was das Französische (wie das Deutsche) einer Differenzierung wert befindet: index (Pl. indices) steht l"index vs. l"indice (Index vs. Indiz) gegenüber. Neologismen können umgehen bzw. erst deutlich werden lassen, was den Unterschied von Peirce" und Van Liers Ansatz ausmacht: es bietet offenbar andere Erkenntnismöglichkeiten, wenn ähnlich Wirkendes auf doch je Unterschiedliches verweist.
[1] Neben dem besprochenen Band: Histoire photographique de la photographie, Paris 1992
[2] Vgl. Jan Baetens & Geert Goiris im Vorwort der Ausgabe, S. 6
[3] Walter Benjamin, Kleine Geschichte der Fotografie, in: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Drei Studien zur Kunstsoziologie, Frankfurt/Main 1963 (Berlin 11931), S. 71
[4] Vgl. Anm. 1, S. 22
[5] Neben Ferdinand de Saussure Begründer und amerikanischer Vertreter der modernen Semiotik (1839-1914). Ein Appendix zu "Peirce and Photography" findet sich in Van Liers Buch.
[6] Vgl. Wolfgang Schöne, Über das Licht in der Malerei, Berlin 1954
[7] La photographie au regard des theories de la communication / Photography as culture and communication, Leuven und Louvain-la-Neuve, 30. Mai bis 1. Juni 2007. Ein Band mit ausgewählten Konferenzbeiträgen ist in Vorbereitung.
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