Anton Holzer
Eine Entdeckung: die Industriefotografin Marianne Strobl
Ulrike Matzer (Hg.): Marianne Strobl, „Industrie-Photograph“, 1894–1914, Wien, Salzburg: Fotohof edition/Photoinstitut Bonartes, 2017. Mit Beiträgen von Ulrike Matzer, Andreas Nierhaus und Hanna Schneck (=Beiträge zur Geschichte der Fotografie in Österreich, hg. von Monika Fabber und Walter Moser, Bd. 15, Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im Photoinstitut Bonartes, Wien, 20. Oktober 2017 bis 26. Januar 2018), 156 S., 136 Abb. in Farbe und S/W, kartoniert, 19,90 Euro.
Erschienen in: Fotogeschichte, Heft 147, 2018
Es kommt nicht allzu oft vor, dass in der Fotogeschichte fulminante Neuentdeckungen gemacht werden. Marianne Strobl ist ein solcher Fall. Vor kurzem noch war die Fotografin völlig unbekannt. Nun hat sie, dank der akribischen, ja geradezu detektivischen Recherchen der Fotohistorikern Ulrike Matzer einen neuen Platz in der Öffentlichkeit. Das Gerippe der biografischen Angaben zur Fotografin ist denkbar dürr: 1865 wurde Strobl in Schlesien (ein Teil davon gehörte damals zur k.u.k. Monarchie) geboren, seit Anfang der 1890er lebte sie in Wien, 1894 meldete sie das fotografische Gewerbe an. Als Fotografin ging sie in den folgenden Jahren neue, eigenständige Wege. Statt sich, wie das viele ihrer Kollegen und Kolleginnen taten, auf die Porträtfotografie zu konzentrieren, war sie mit ihrer Kamera auf Baustellen, in Gletscherhöhlen und Industriebetrieben unterwegs. Sie begann als Spezialistin für Blitzlichtfotografie und erweiterte in den folgenden Jahren ihren Arbeitsbereich sukzessive. Sie fotografierte u.a. im Bereich der Produkt- und Sachfotografie, der Architektur-, Technik- und Industriefotografie. Nicht zu Unrecht wird sie nun als „erste Industriefotografin“ der k.u.k. Monarchie bezeichnet. Obwohl sie bis Mitte der 1930er Jahre als Fotografin in Wien gemeldet war, beschränkt sich das bisher bekannt gewordene Œvre der Fotografin auf die Jahre 1894 bis zum Ersten Weltkrieg, daher die zeitliche Einschränkung im Untertitel des Bandes. Über ihre Arbeiten während oder nach dem Krieg ist nichts bekannt, auch ihr Sterbedatum ließ sich bisher nicht ausfindig machen.
Was tun mit einer solchen Entdeckung? Man könnte diese spät rehabilitierte Fotografin ohne viel nachzudenken in das überlieferte Schema der Fotogeschichtsschreibung integrieren, die biografischen Daten in den Nachschlagewerken ergänzen. Und das wär’s dann schon. Ulrike Matzer hat in ihrer hervorragend recherchierten Studie einen anderen, viel spannenderen, wenn auch viel aufwendigeren Weg eingeschlagen. Sie tritt nicht nur an, um Lücken bisherigen Wissens zu füllen, sondern sie wagt in der Rekonstruktion des bislang unbekannten Werks eine Reihe folgenreicher Blickverschiebungen. Das beginnt damit, dass sie Marianne Strobl kenntnisreich im breiten Feld der Industriefotografie verortet, die erstaunlicherweise erst in den letzten Jahren verstärkt in den Blick der Fotogeschichtsschreibung gerückt ist. Und in diesem Bereich der Fotografie haben Frauen bislang kaum eine Rolle gespielt. Es setzt sich fort im neuen Blickwinkel, den die Autorin auf dieses Genre wirft. Während die herkömmliche kunsthistorische orientierte Fotogeschichte traditionell werkzentriert vorgeht, plädiert Matzer zu Recht für eine adäquatere Annäherung an dieses vielschichtige Themengebiet. Sich nur auf die Bilder (oder deren Urheber/innen) zu konzentrieren verstellt, so argumentiert sie, den Blick auf das komplexe Gefüge, in dem die Industriefotografie verortet ist. Die industrielle Auftragsfotografie ist ein ambivalentes Produkt: kommerziell und zugleich repräsentativ, in Auftrag gegeben zur Imagepflege von Betrieben oder von (potentiellen) Investoren, oft aber auch zu politischen Propagandazwecken genutzt. Industriefotografien wurden häufig arbeitsteilig produziert, das heißt, der Fotograf/die Fotografin waren eingebettet in einen komplexen gewerblichen Arbeits- und Veröffentlichungsablauf.
Und schließlich: Auch die Außenwirkung der fotografischen Arbeiten war arbeitsteilig und konnte, je nach Präsentationsformen, sehr unterschiedliche Formen annehmen. Eine ganze Reihe von öffentlichen Präsentationsformen der Fotografie stellt Matzer am Beispiel von Marianne Strobl vor: diese reichen von Alben über Mappenwerke bis hin zu Fotopostkarten und Publikationen in Zeitungen, Zeitschriften und Bildbänden. Um die Fotografien angemessen verstehen und einordnen zu können, ist also ein genauer Blick auf ein breites Netzwerk von Akteuren notwendig. Dazu kommt, dass Strobl fast immer in Serien gearbeitet hat. Die fotohistorische Erschließung ihrer Auftragsarbeiten muss daher diesem seriellen Charakter der Dokumentation Rechnung tragen. Sehr schön lässt sich dies in der frühen Produktfotografie Strobls, etwa der wunderbaren Serie über Fuhrwerkstypen der k.u.k. Monarchie zeigen, die sie 1894 im Auftrag der „Internationalen Ausstellung für Volksernährung, Armeeverpflegung, Rettungswesen und Verkehrsmittel“ hergestellt hat. Aber auch ihre anderen Dokumentationen sind mehrteilig: etwa über den Kanalbau in Wien, über Wiener Wohlfahrtseinrichtungen (dazu schreibt im Katalog Andreas Nierhaus), das imposante städtische Gaswerk Leopoldau (dem Hanna Schneck im Band eine vertiefende Detailstudie widmet) oder über eine Höhlenexpedition im Gebirge. Manchmal wurden Teile dieser Bildserien auch in der illustrierten Presse veröffentlicht und dort gelegentlich in einen zusätzlichen erzählerischen Bild-Text-Zusammenhang eingebettet.
Ulrike Matzers Studie geht neue, innovative Wege in der Erforschung der Industriefotografie. Ebenso innovativ und spannend aber ist aber auch die Verortung der Fotografin und ihres Werks vor dem Hintergrund der „Geschlechterideologie“ in den Jahren um 1900. Matzer reklamiert Strobl nicht vorschnell als Protagonistin einer frühen „Frauenfotografie“. Vielmehr untersucht sie sehr genau die komplexen gesellschaftlichen Mechanismen, innerhalb derer um 1900 Frauen und Männer beruflich und privat agierten. Die Autorin beginnt ihre Recherche mit einer Auseinandersetzung über die Karrieremöglichkeiten von Frauen im Bereich der Fotografie im ausgehenden 19. Jahrhundert. Im Falle Strobls führte der Weg von der Amateurfotografie zum Beruf. Detailreich zeichnet die Autorin diesen Weg der Fotografin, der vermutlich über ihren Mann vermittelt wurde, nach. Auch die ersten Fotoaufträge dürften über Kontakte ihres Mannes zustande gekommen sein. Strobl unterwarf sich, dies zeigt Matzer an zahlreichen Beispielen auf, im professionellen Bereich sehr deutlich männlichen Karriereidealen. Das reicht von Fragen der Bildästhetik, etwa der Darstellung von architektonischen Räumen, bis hin zur Signatur der Bilder: „Specialist für Blitzlicht-Photographien“ stempelte sie anfangs ihre Aufnahmen und vor dem Ersten Weltkrieg nannte sie sich laut Firmenstempel schließlich „Industrie-Photograph“. Den Vornamen kürzte sie (nach einer kurzen Phase, in der sie ihren Namen ausschrieb) mit M. ab, eine Praxis, die zwar um 1900 auch bei Männern üblich war, die aber im Falle von berufstätigen Fotografinnen oft auch der Kaschierung ihrer weiblichen Identität diente. Ausführlich widmet sich die Autorin der spannungsreichen Ambivalenz zwischen gesellschaftlich definierter Weiblichkeit auf der einen und selbstbewusstem professionellem Auftritt auf der anderen Seite. Marianne Strobl war keineswegs eine frauenbewegte Pionierin der Fotografie. Aber in der Praxis ihrer fotografischen Arbeit durchkreuzte sie doch teilweise die patriarchale „Geschlechterideologie“ um 1900. Es sind diese unauflösbaren Widersprüche, die Matzer in ihrer fundierten Studie differenziert herausarbeitet und analysiert. Fazit: Der vorliegende Band zu Marianne Strobl ist eine gute Einführung in die Industriefotografie um 1900 und zugleich ein best practice-Beispiel für eine gendersensible Fotografiegeschichte, die zu neuen interessanten Einsichten kommt.
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