Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie

hg. von Dr. Anton Holzer

Matthias Christen

Streifzüge durch die Geschichte des Porträts

Phillip Prodgers Betrachtungen zum fotografischen Menschenbild

Phillip Prodger: Face Time. A History of the Photographic Portrait, London: Thames & Hudson 2021, 240 Seiten, 28,35 x 24,13 cm, 250 überwiegend farbige Abb., Englisch, gebunden mit Schutzumschlag, 30 £ (dt. Das Porträt in der Fotografie. 150 Jahre Fotogeschichte in 250 Porträts, München: Prestel, gebunden, 35.00 Euro)

 

Erschienen in: Fotogeschichte, Heft 168, 2023

 

Auch wenn im alltäglichen Umgang klar scheint, was fotografisch unter einem Porträt zu verstehen ist – der Versuch, eine vor der Kamera befindliche Person in ihrer vielfältigen Bedingtheit bildhaft zu fassen – fällt es schwer, das Genre und seine Grenzen präzise zu bestimmen. Dass es zu den ältesten und mengenmäßig produktivsten der Fotogeschichte gehört, macht es umso schwieriger, es begrifflich einzugrenzen. Das Anfertigen von Porträts ist im gleichen Maß zu einer alltäglich geübten Praxis geworden, wie die Kosten der Bildproduktion und die technischen Anforderungen sanken. Anders als noch in der Frühzeit der Fotografie ist das Genre nicht länger an eine bestimmte Sphäre der kulturellen Produktion (die Kunst), an eine herrschende gesellschaftliche Schicht und ihr Repräsentationsbedürfnis (das gehobene Bürgertum), an einzelne Institutionen (staatliche Behörden, die Studios professioneller FotografInnen) oder zeremonielle Anlässe gebunden. Von den 1,3 Billionen Aufnahmen, die heute angeblich jedes Jahr entstehen, hat über die Hälfte Menschen zum Gegenstand (s. Seite 56 im besprochenen Band). Auch wenn sich allein auf Grund des Sujets nicht alle diese Bilder umstandslos als Porträts verbuchen lassen, ist das Material, mit dem es der Versuch einer Genregeschichte zu tun hat, kaum zu überblicken. Die Hauptherausforderung für eine solche besteht also vorab darin, die Fülle der Bilder auf die eine oder andere Art zu begrenzen und einen methodischen Zugang zu entwickeln, der ihr mittelbar gleichwohl Rechnung trägt.

Max Kozloff behilft sich in The Theatre of the Face (2007) – bis heute eine der umfangreichsten und überzeugendsten Arbeiten zum Thema – damit, dass er die Porträtfotografie des 19. Jahrhunderts komplett ausblendet, weil sie als Ausdruck eines konservativen bürgerlichen Standesbewusstseins ästhetisch notwendig formelhaft und repetitiv bleibe (s. dazu die Besprechung in Fotogeschichte, Heft 119, 2008). Die Geschichte des fotografischen Porträts setzt für ihn daher erst mit dem Übergang zum 20. Jahrhundert ein, wenn das Theater als szenische Kunst die Bildhauerei mit ihren starren Posen als ästhetisches Leitkonzept ablöst. Phillip Prodger verzichtet in seinem jüngsten Entwurf zu einer Genregeschichte des Porträts – im englischen Original unter dem Titel Face Time und parallel in Deutsch, Französisch und Italienisch erschienen – auf eine derartige zeitliche Einschränkung. Stattdessen begrenzt er die Fülle des Materials über seinen kunstwissenschaftlichen Zugriff auf das Genre. Ein Porträt ist nach seiner Lesart das Ergebnis eines einvernehmlichen ästhetischen Aushandlungsprozesses, in dessen Verlauf der oder die FotografIn die in einem geistig-seelischen Innenraum verortete Persönlichkeit des Gegenübers deutend offenlegt: „The portraitist is an excavator of truth .... A great portrait is a psychological exploration, an artistic journey into a person’s heart and soul.“ (10) Prodger legt seiner Genregeschichte des Porträts damit nicht nur ein psychologisch grundiertes Subjektverständnis und einen emphatischen Begriff fotografischer AutorInnenschaft zugrunde; er gibt mit der gelungenen Korrelation beider zugleich einen impliziten Maßstab künstlerischer Qualität vor. Dementsprechend stammt der Großteil der für den Band ausgewählten Beispiele von namhaften FotografInnen, während die anonyme Massenproduktion außen vor bleibt.

Als ehemaliger Leiter der fotografischen Abteilung der National Portrait Gallery in London schöpft Prodger aus einem reichen historischen Fundus. Die Auswahl der Bilder ist, wie er vorausschickt, von seiner kuratorischen Erfahrung geprägt und der Zugang stellenweise offen anekdotisch („It’s in some ways, a personal and anecdotal book“, 12). Entgegen dem historischen Durchgang, den der Untertitel (A History of the Photographic Portrait) vermuten lässt, besteht das Buch aus acht lose gereihten thematischen Kapiteln, die jeweils an einer zeitlich breit gefächerten Auswahl einen bestimmten Aspekt des Genres diskutieren („Portrait and Emotion“, „Fashion and Portraiture“, „Narrative Portraiture“ etc.). Jedes Kapitel enthält einen vier bis fünf Seiten langen Überblickstext, an den sich jeweils eine sehr viel umfangreichere Bildstrecke anschließt. Die großformatigen Abbildungen sorgen für das notwendige Anschauungsmaterial – warum einzelne mit einem kurzen Begleitkommentar versehen und im Haupttext aufgegriffen werden, andere dagegen nicht, bleibt offen.

Das inhaltlich dichteste und insgesamt stärkste Kapitel ist das fünfte (aus einem unerfindlichen Grund „Pleased to Meet Me“ überschrieben). Das liegt nicht zuletzt daran, dass es mit seinem Fokus auf typologischen Klassifikationssystemen und taxonomischen Hierarchiebildungen das normative Genreverständnis unterläuft, das Prodger in der Einleitung vorgibt. Hier kommt zumindest ansatzweise in den Blick, was der am Porträt als Bild orientierte Zugang ansonsten außer Acht lässt: die sozialen Praktiken des Bildhandelns, die Wirtschafts- und Institutionsgeschichte ebenso wie die Machtdispositive, die Porträts bedienen und stützten. Sehr gut veranschaulicht diesen vorübergehenden Perspektivwechsel ein anonymes Familienfoto, aus dem Francis Galton für eines seiner Kompositbilder die Gesichter der Porträtierten ausgeschnitten hat. Hier geht es gerade nicht um einzelne Subjekte und ihr Innenleben, sondern um einen im Interesse einer effizienten staatlichen Kontrolle erzeugten gesellschaftlichen Typus. Gruppenporträts boten den Vorzug gleichmäßiger Licht- und Größenverhältnisse; so ließen sich die einzelnen Gesichter in dem von Galton entwickelten Verfahren leicht übereinanderblenden.

Von Galtons Kompositbildern zieht Prodger genealogisch eine gerade Linie zu den computergestützen, automatisierten Gesichtserkennungsverfahren der Gegenwart. Das geisterhaft unscharfe Bild, das der amerikanische Künstler und politische Aktivist Trevor Paglen von Frantz Fanon erstellt hat, ist kein Foto im herkömmlichen Sinn, sondern ein sogenanntes Eigenface. Die digital erzeugte Konfiguration unverwechselbarer physiognomischer Merkmale unterstellt Fanon als einen schärfsten Kritiker des europäischen Kolonialismus rückwirkend abermals einer westlichen Machttechnik: Für das Eigenface wurde vom physiognomischen Mittel, das aus einem bestehenden Satz von Bildern anderer gewonnen wurde, der aus historischen Bildern Fanons errechnete Mittelwert abgezogen. Die Differenz stellt eine Art Bildmatrix dar, mit deren Hilfe sich jede weitere Erscheinungsform von Fanons Gesicht automatisch identifizieren ließe.

Die Texte zu den einzelnen Kapiteln kommen mit einem denkbar schmalen Anmerkungsapparat aus, der zusammengenommen nicht einmal eine ganze Seite (252) beansprucht und selbst auf Standardwerke wie das von Kozloff verzichtet; ein Literaturverzeichnis fehlt komplett. Der Band richtet sich also erkennbar nicht vorrangig an ein wissenschaftliches Publikum und bleibt in Teilen deutlich hinter dem Forschungsstand zurück, was etwa die Fotografie in sozialen Netzwerken angeht (60). Die große Stärke des Buches liegt in der Bildauswahl und den Einsichten, die das Layout über den Text hinaus ermöglicht. In einer der aufschlussreichsten Kombinationen steht auf einer Doppelseite (s. 118/119) das Porträt der frisch gekrönten Queen Elizabeth II (1952), von der die Hoffotografin Dorothy Wilding nach der Thronbesteigung eine Bildvorlage für die Briefmarken und Zahlungsmittel des British Empire anfertigen sollte, ein Selbstporträt der non-binären südafrikanischen Künstler*in Zanele Muholi als „Dark Lioness“ (2016) mit einer Krone aus Putzschwämmen gegenüber. Indem sie auf das eigenständige Erkenntnispotential der Bilder und ihrer Anordnung setzt, ist Prodgers Geschichte des fotografischen Porträts einer gut kuratierten Ausstellung näher als einer wissenschaftlichen Monografie. Ein so aufwändig produzierter und in mehreren Sprachversionen verlegter Band wie Face Time braucht ohne Zweifel ein großes Publikum. Auch einem solchen wäre allerdings, wie das Kapitel zu den fotografischen Taxonomien eindrücklich zeigt, im Textteil wissenschaftlich mehr zuzutrauen gewesen, ohne dass darunter die Zugänglichkeit des Bandes zu leiden gehabt hätte.

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