Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie

hg. von Dr. Anton Holzer

Franziska Brons

Die Fotografie und das Meer

Editorial

Erschienen in: Fotogeschichte, Heft 156, 2020

 

Im Jahr 1867 gehen der französische Meeresforscher Aronnax, sein flämischer Diener Conseil und der Harpunier Ned Land in New York an Bord ihres Schiffes. Im weiteren Verlauf seines 1869/70 publizierten Romans 20.000 Meilen unter den Meeren lässt Jules Verne diese Gruppe von Forschungsreisenden in die Fänge des Ingenieurs und Naturkundlers Kapitän Nemo geraten, der sie an Bord der Nautilus auf eine submarine Weltreise entführt. Während das Unterseeboot die Sargassosee durchkreuzt, stehen Nemo und Arronax in 16.000 Metern Tiefe inmitten des atlantischen Ozeanseinmal mehr am Salonfenster und beobachten, als handle es sich um ein Aquarium, den sie umgebenden Grund des Meeres. Beim Anblick der Felsen und Grotten gerät Professor Arronax ins Schwärmen und bedauert zutiefst, von diesen unbekannten Schauplätzen lediglich seineErinnerung behalten zu können. Nemo behauptet daraufhin, wolle Arronaxmehr als nur flüchtige Eindrückemitnehmen, so sei nichts einfacher als eine fotografische Aufnahme der Unterwasserlandschaft anzufertigen; seine Mannschaft installiertsodann ein Objektiv im Salon. Im Schein des elektrischen Lichts der Nautilus gelingt es innerhalb weniger Sekunden „ein Negativ von äußerster Schärfe“[1] zu gewinnen, dessen Positivabzug Arronax in seinem Abenteuerbericht abbildet. In der durch Édouard Riou und Alphonse Marie Adolphe de Neuville aufwändig illustrierten Großoktavausgabe des Romans wird die fiktive Fotografie 1871 als Holzstich wiedergegeben.

20.000 Meilen unter den Meeren kann als prominentes Beispiel für die Utopien, Metaphern und Imaginationen einstehen, die in der Literatur-, Kultur- und Ideengeschichte der Moderne mit dem Meer und seiner Unterwasserwelt assoziiert wurden.[2] Darüber hinaus verdeutlicht die Episode des Romans aber auch, wie im Zuge der Implementierung einer technischen Bildkultur ab der Mitte des 19. Jahrhunderts dem Feld des Sichtbaren keinerlei territorialen Grenzen mehr auferlegt schienen. Selbst der Meeresgrund als vermeintlicher „Hort von Wundern“[3] geriet in den Fokus der Fotografie: Dementsprechend zeigt beispielsweise eine Ansichtskarte der Dresdner Firma Heinrich Ernemann aus dem Jahr 1909 zwei Taucher in voller Montur, die mit Kameras samt Blitzlicht und mit großer Selbstverständlichkeit einen Schwarm riesiger Fische aus nächster Nähe ins Visier nehmen (siehe Abb.).[4] In der visuellen Kultur der Moderne erweisen sich die Meere, Ozeane und verwandte aquatische Milieus als Ausgangspunkt und Gegenstand von fotografischen, aber auch filmischen Bildern. Die Verfahren, Apparate und Materialien dieser indexikalischen Aufzeichnungen geraten angesichts der spezifischen Charakteristika und Elementen des Sujets – Größe bzw. Ausdehnung, Tiefe, Dunkelheit und Bewegung – indes an die Grenzen der Repräsentation;[5] mitunter stellt sich sogar die Frage der technischen Realisierbarkeit. Zugleich entstehen und erscheinen diese Bilder mehrheitlich im Kontext von Explorationen des Meeres als Umgebung bzw. Umwelt von lebenden Organismen.[6] D. h. sie dienen dazu, das Meer in seiner ökologischen und ökonomischen Bedeutung als Habitat bzw. auszuwertender Ressource überhaupt zu ermessen.

So trat auch der französische Forscher und Erfinder Étienne-Jules Marey, der ab den 1860er Jahren Verfahren der Aufzeichnung der Physiologie und Motorik diverser Organismen (darunter Meeres-Kleinstlebewesen) entwickelt hatte, an, im Golf von Neapel die Bewegung von Wellen zu erforschen.[7] Zwölf Standbilder dieser chrono-fotografischen Sequenz auf einem beweglichen Filmstreifen wurden 1891 in der Revue générale des sciences publiziert.[8] Mareys La Vague gibt den Blick über die Wasseroberfläche frei, in deren rechten Vordergrund eine Felsformation aus dem Meer ragt. Auf diese rollt eine Welle zu, schmettert gegen das Gestein und zerschellt am Wellenbrecher. Der Vorgang wiederholt sich über die eigentliche Dauer von lediglich 17 Sekunden scheinbar ad infinitum. In steter Repetition zeigt der Streifen Felsen, Wellen und Schaumkronen, vor allem aber Unordnung.[9]

Jenseits von literarischen Vorstellungswelten – oder auch idealtypischen bzw. allegorischen Darstellungen des Meeres (wie sie für das malerische Genre des Seestückes prägend war) – gewinnt in Beispielen wie diesem ein bisher wenig beachtetes Kapitel der Fotografie- und Mediengeschichte an Kontur. Es speist sich aus Versuchen, an und in Gewässern aller Art Wellen, Gischt und Ströme, Fauna, Flora und mineralische Formationen auf die fotografische Platte bzw. auf Filmmaterial zu bannen. Die Beiträge dieser Ausgabe von Fotogeschichte untersuchen in monografischen Fallstudien die faktischen Explorationen des Meeres unter- und oberhalb seiner bewegten und glitzernden Oberflächen. Dabei lenken sie die Aufmerksamkeit nicht nur auf die bildlichen Resultate, sondern auch auf deren medialen Prozeduren, technischen Voraussetzungen sowie epistemischen und politischen Dimensionen. Im Mittelpunkt dieser Essays stehen die Cyanotypien, welche Anna Atkins von und mit Hilfe von Algen in der Frühzeit des Mediums anfertigte und als Träger eines kritischen Naturwissens in Umlauf brachte (siehe den Beitrag von Katharina Steidl); die De- und Rekonstruktionen des fotografischen Apparats und Prozesses am Grund der ersten Unterwasserfotografien, die der französische Meeresbiologe Louis Boutan um die Jahrhundertwende produzierte und reflektierte (siehe den Beitrag der Gastherausgeberin dieses Bandes); die unauflösliche Beziehung zwischen Jagd und Fotografie in der cetologischen, sprich walkundlichen Bildpraxis des US-amerikanischen Naturforschers Roy Chapman Andrews zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts (siehe den Beitrag von Felix Lüttge); und schließlich die ebenso spektakulären wie aufschlussreichen Filmaufnahmen der tropischen Unterwasserwelt, welche dem Filmemacher und Fotografen John Ernest Williamson im kolonialen Kontext der Bahamas aus dem Tauchboot namens „Photosphere“ heraus gelangen (siehe den Beitrag von Ann Elias).

In allen diesen Bildern des Meeres, so eine leitende Hypothese der hier versammelten Studien, ist die Herstellung und Verbreitung biologischen, ökologischen, ozeanografischen und ästhetischen Wissens von Beginn an mit einer permanenten Reflektion auf die partikularen Bedingungen, Infrastrukturen und Herausforderungen medialer Sichtbarkeit verknüpft. Mit der Frage nach dem Verhältnis zwischen der Fotografie und dem Meer ist also keineswegs eine bloße Reihung von maritimen Motiven avisiert. Über die behandelten historischen Einzelfälle hinaus erlaubt sie es vielmehr, die Geschichte, Ästhetik und Theorie des Mediums – jenseits bekannter Erzählungen der Eroberung immer neuer Bereiche des Sichtbaren durch fortwährend optimierte Technologien – in systematischer Weise als prekäres Gefüge von Agenten und Vorrichtungen, Praktiken und Diskursen zu bestimmen. In der Zusammenschau von visuellen Phänomenen im Zeitraum von den 1840er bis 1940er Jahren – von den (Selbst-)Abdrücken von Wasserpflanzen über autoreflexive Unterwasseransichten und Bildern lebendiger, sich dem objektiven (Über-)Blick indes stets entziehender Wale und bis hin zu submarinen, zwischen Wirklichkeitsbezug und Surrealismus oszillierenden Filmsequenzen – zeichnen sich Formen und Funktionen von modernen Darstellungen des Meeres dadurch aus, Aufschluss über Medium wie Milieu zu geben.

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[1] Vgl. Jules Verne: 20 000 Meilen unter den Meeren, München 2011, S. 458f., hier S. 459.

[2] Siehe beispielsweise Werner Tschacher:Mobilis in mobili: Das Meer als (anti-)utopischer Erfahrungs- und Projektionsraum in Jules Vernes 20 000 Meilen unter den Meeren, in: Alexander Kraus, Martina Winkler (Hg.): Weltmeere. Wissen und Wahrnehmung im langen 19. Jahrhundert, Göttingen 2014, S. 46-65.

[3] Natascha Adamowsky hat den Meeresraum in diesem Sinne apostrophiert und geht in ihrer Studie den medialen und epistemologischen Spuren der diesbezüglichen Wunderterminologie nach. Natascha Adamowsky: Ozeanische Wunder. Entdeckung und Eroberung des Meeres in der Moderne, Paderborn 2017, S. 11.

[4] Das Motiv war ursprünglich Teil eines Raumgestaltungsprogramms auf der Internationalen Photographischen Ausstellung Dresden 1909. Siehe Franziska Brons: Exposition eines Mediums. Internationale Photographische Ausstellung Dresden 1909, Paderborn 2015, S. 132-141.

[5] Siehe die Beiträge in Hannah Baader, Gerhard Wolf (Hg.): Das Meer, der Tausch und die Grenzen der Repräsentation, Zürich, Berlin 2010.

[6] Zur Unterscheidung zwischen den Begriffen Umgebung und Umwelt siehe Jakob von Uexküll: Streifzüge durch die Umwelten von Tieren und Menschen, Hamburg 1956.

[7] Zu Marey siehe grundlegend Marta Braun: Picturing Time. The Work of Étienne-Jules Marey (1830–1904), Chicago 1992. Zu dessen Meeresaufnahmen siehe Dominique de Font-Réaulx: Vagues fixes et en mouvement, autour du film La Vague d' Étienne-Jules Marey, in: ders. (Hg.): EJ Marey. Actes du colloque du centenaire, sous la direction de Dominique de Font-Réaulx, Thierry Lefebvre, Laurent Mannoni, Paris 2006, S. 49-60.

[8] Étienne-Jules Marey: La Chronophotographie. Nouvelle méthode pour analyser le mouvement dans les sciences phyiques et naturelles, in: Revue générale des sciences pures et appliquées, Tome 2, No. 21, 15.11.1891, 1891, S. 689-719, S. 698. In Marey Hauptwerk Le Mouvement lassen sich acht Standbilder aus La Vague finden. Siehe ders.: Le Mouvement, Paris 1894, S. 122.

[9] Siehe auch Daniela Hahn: Tourbillons et turbulences. Zu einer Ästhetik des Experiments in Étienne-Jules Mareys „Machines à fumée“, in: ilinx. Berliner Beiträge zur Kulturwissenschaft, Heft 1, 2009/10, Wirbel – Ströme – Turbulenzen, S. 44-69, S. 53.

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