Claudia Valeska Czycholl
Bilder des Fremden
Fremd- und Selbstbilder von „Gastarbeiter/innen“ in den 1960er und 1970er Jahren in der BRD
Dissertation, Universität Bremen, Zentrum für Medien-, Kommunikations- und Informationsforschung, Prof. Dr. Inge Marszolek, Abschluss voraussichtlich: 2017, Kontaktadresse: valeska(at)uni-bremen.de
Erschienen in: Fotogeschichte, Heft 141, 2016
Im Fokus des Dissertationsprojektes steht die Analyse von „Fremd- und Selbstbildern“ von „Gastarbeiter_innen“. Diese werden anhand von Presse- und Privatfotografien mit und von (Arbeits-)Migrant_innen rekonstruiert und miteinander verglichen. Bezogen auf die Pressefotografien bedeutet dies, zu konkretisieren, welche Vorstellungen, Stereotype, Ideologeme und Mythologeme in den untersuchten Printmedien Der Spiegel, Stern und Bild-Zeitung über „Gastarbeiter_innen“ im Zeitraum von 1960 bis 1982 im Zusammenhang mit sprachlichen Aussagen wie Artikelüberschrift, Artikeltext und Bildunterschiften (re)produziert wurden. Und es gilt herauszuarbeiten, welche leitmedialen Funktionen die (visuellen) Berichterstattungen über „die Fremden“ für die westdeutsche Mehrheitsgesellschaft erfüllten, die nach 1945 ihre historische, gegenwärtige und künftige Gestalt aushandelte.
Obschon ebenfalls identitätsstiftend, dienten die Privatfotografien für die in Westdeutschland lebenden (Arbeits-)Migrant_innen einem anderen Zweck. So fungierten Aufnahmen zum Beispiel mit dem eigenen PKW gegenüber Familienangehörigen in den Herkunftsländern als fotografischer Beleg für eine erfolgreiche Migration. Ferner divergierten die fotografischen „Selbstbilder“ der Migrant_innen drastisch von den oftmals diskriminierenden sprachlichen und fotografischen Darstellungen der „Gastarbeiter_innen“ in den untersuchten Printmedien.
Grundlage der quantitativen Analyse der Presse- sowie Privatfotografien bildet zum einen die systematische Recherche aller Ausgaben des Spiegels, Sterns und der Bild-Zeitung zwischen 1960 und 1982 hinsichtlich der Berichterstattung über „Gastarbeiter_innen“ und der in diesem Zusammenhang abgedruckten Fotografien sowie aller veröffentlichen Fotografien, die laut Bildunterschrift „Gastarbeiter_innen“ zeigen. Zum anderen fand für den selben Zeitraum eine Sichtung der Privatfotografien von (Arbeits-)Migrant_innen aus den Herkunftsländern Italien, Griechenland, Spanien, Türkei, Portugal und Jugoslawien im DOMiD-Archiv[1] statt. Um in der Materialfülle beider Bildkorpora thematische Schwerpunkte, Motivkonzentrationen bzw. visuelle Diskurslinien und Diskursverschränkungen zu erkennen, bietet sich eine seriell-ikonografische Analyse der Fotografien in Anlehnung an Ulrike Pilarczyk und Ulrike Mietzner an.[2]
Hierfür wurden die Fotografien beider Korpora in eine digitale Bilddatenbank eingespeist und getrennt voneinander nach Aufnahme- oder Publikationsdatum, Aufnahmeort bzw. Veröffentlichungsort bei den Pressefotografien, Themen und Bildmotiven klassifiziert und entsprechend verschlagwortet. Aufgrund der vorgenommenen Klassifizierung konnten sodann sowohl für die Privat- als auch die Pressefotografien einzelne repräsentative Fotografien gängiger Bildmotive, Themen und Darstellungskonventionen und diskursiver Verdichtungen ausgewählt und ikonografisch-ikonologische Einzelbildanalysen durchgeführt werden, die Annahmen hinsichtlich meiner Fragestellung generieren.
Seriell-ikonografische Ansätze können jedoch Gefahr laufen, wie es Stefan Selke zu Recht kritisiert, sich auf eine rein quantitative Auswertung der Fotos nach Motivhäufigkeiten zu beschränken und daraus monokausal Aussagen über die Bedeutung der Fotografien abzuleiten.[3] Ferner verweist Marion G. Müller darauf, dass bei der Katalogisierung der Fotografien das Bildgenre oder Bildmotiv aus dem spezifischen Produktions- und Distributionskontext herausgelöst wird, was eine Fehlinterpretation zur Folge haben kann.[4] Um den unterschiedlichen Herstellungs- und -verwendungsweisen der Presse- und Privatfotografien gerecht zu werden, sind erstens eine an Michel Foucault orientierte visuelle Diskursanalyse und zweitens das Habitus-Konzept von Pierre Bourdieu und seine hiermit verbundenen Überlegungen zur „privaten Praxis“ der Fotografie zielführend.
Zentrale Forschungsfragen der Studie sind: Inwiefern überschneiden und unterscheiden sich die in den Printmedien vermittelten „Fremdbilder“ über „Gastarbeiter_innen“ von den „Selbstbildern“ der Migrant_innen? Gibt es ähnliche Motive? Wenn ja, wie werden diese fotografisch dargestellt und kontextualisiert? Welche (visuellen) Diskurstraditionen werden aufgegriffen und welche Verschränkungen mit anderen synchronen Diskurssträngen sind auszumachen?
[1] Das Dokumentationszentrums und Museums für Migration in Deutschland e. V. verfügt über eine bundesweit einzigartige Sammlung an sozial-, alltags- und kulturgeschichtlichen Zeugnissen zur Migrationsgeschichte in Deutschland, wobei der Schwerpunkt der Sammlung auf dem Zeitraum nach 1955 liegt. http://www.domit.de/en
[2] Ulrike Pilarczyk, Ulrike Mietzner: Das reflektierte Bild. Die seriell-ikonografische Fotoanalyse in den Erziehungs- und Sozialwissenschaften, Bad Heilbrunn 2005, S. 77.
[3] Stefan Selke: Private Fotos als Bilderrätsel – Eine soziologische Typologie der Sinnhaftigkeit visueller Dokumente im Alltag, in: Irene Ziehe/Ulrich Hägele (Hg.): Fotografien vom Alltag – Fotografieren als Alltag, Münster 2004, S. 49-74, hier S. 50f.
[4] Marion G. Müller: Grundlagen der visuellen Kommunikation, Konstanz 2003, S. 231.
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