Aleksandr Kitaev
Die Wiederentdeckung eines Fotografen
Ivan (Giovanni) Bianchi – der erste Lichtbildner Petersburgs
Erschienen in: Fotogeschichte, Heft 141, 2016
Bis zu Beginn des 21. Jahrhunderts suchte man den Namen des Pioniers der Fotografie Ivan (Giovanni) Bianchi vergeblich in der Geschichte der Fotografie, obwohl sein Werk in der russischen Entwicklung der Fotografie eine herausragende Rolle spielte. Bianchi hinterließ ein überaus vielseitiges und bedeutendes künstlerisches Erbe. Die Geschichte der Wiederentdeckung Ivan Bianchis beginnt in der «Casa Camuzzi» in Montagnola, einem Ort auf der sogenannten Collina d’Oro im schweizerischen Kanton Tessin. 1983 stiess der Historiker und Archivar Mario Redaelli (1933– 2011) bei der Beschäftigung mit dem Archiv des Architekten Camuzzi auf 21 Fotografien, die Petersburg und seine Umgebung zeigten. Sämtliche Fotografien waren Anfang der 1850er Jahre datiert und eine davon trug eine italienisch verfasste Widmung: «Herrn Agostino Camuzzi zum Geschenk als Zeichen meiner Hochachtung und Freundschaft G. Bianchi, Petersburg 28. August 1853».[1] In der Literatur zur Geschichte der Fotografie fanden sich bislang keinerlei Informationen über Bianchi, so dass Redaelli selbständig zu forschen begann. Seine Studien über das Leben und Wirken des Fotografen führten den Schweizer nach Petersburg, wo er in den Archiven bald eine Reihe wichtige Dokumente fand. Im Laufe der Nachforschungen scharte Redaelli ein Kollektiv von Mitstreitern um sich, dessen Arbeiten 2002 durch das Erscheinen eines Buches gekrönt wurde, das erstmals eine kurze Biografie Bianchis enthielt.[2] Im Laufe der weiteren Nachforschungen wurden in den größten staatlichen Sammlungen in Petersburg und Moskau und ebenso in schweizerischen staatlichen und privaten Sammlungen zahlreiche Fotografien Bianchis gefunden.[3] 2005 fand im Staatlichen Museum für die Geschichte von St. Petersburg die Ausstellung «Ivan Bianki – pervyj svetopisec Peterburga» (Ivan Bianchi, der erste Lichtbildner Petersburgs) statt. Dazu erschien ein Katalog, in dem über 500 Fotografien aus vielen Sammlungen versammelt und beschrieben waren. Die bisherige Recherche Arbeit erlaubte es, das ikonografische Erbe Bianchis zusammenzufassen und zu systematisieren, die grundlegenden Etappen seines Schaffensweges nachzuzeichnen und seine Verdienste zu würdigen.[4]
Giovanni Bianchi wurde am 12. Dezember 1811 in der Stadt Varese geboren, die damals zum Königreich Lombardo-Venetien und damit zur Habsburgermonarchie gehörte. Nach dem Tod des Vaters (1821) zog der zehnjährige Bianchi mit seiner Mutter und zwei Brüdern nach Moskau, wo bereits Verwandte der Familie lebten. Dort besuchte der junge Bianchi ab 1833 die Künstlerklasse der Moskauer künstlerischen Gesellschaft. Als 1839 die Cholera ausbrach reiste Bianchi ins Ausland und dort verlieren sich seine Spuren bis 1852. Die in schweizerischen und in Petersburger Sammlungen gefundenen Fotografien mit Veduten von Paris lassen den Schluss zu, dass Bianchi die Kunst der Lichtbildnerei in Frankreich erlernte.[5] Im Herbst 1852 liess sich Bianchi in Petersburg nieder, wo er ein Atelier mit dem Namen «Italienische Porträtfotografie des Künstlers I. Bianchi» eröffnete. Die ersten uns bekannten Fotografien, die er im Herbst 1852 in Carskoe Selo machte, zeugen davon, dass er die feuchte Kollodiummethode von Archer bereits virtuos beherrschte. Nach 1853 begann der Meister, als erster in Russland, kommerzielle Fotografien der bedeutendsten Architekturobjekte der russischen Hauptstadt und ihrer Umgebung zu machen. 1856 bemerkte die Zeitung Sankt-Peterburgskie vedomosti (St. Petersburger Nachrichten): «Bianchi hat schon halb Petersburg fotografiert (bis zu 60 Veduten). Als ausgezeichneter Aquarellist hat er künstlerische Blickpunkte ausgewählt; jede seiner Fotografien ist ein vollkommenes Bild. Die Deutlichkeit ist erstaunlich, und dank ihrer Grösse eignen sich die Abzüge zur Verschönerung eins jeden Kabinetts oder Boudoirs».[6]
In denselben Jahren fertigte der Künstler zwei weitere große Fotoserien an. Eine von ihnen zeigt die bedeutendsten Architekturdenkmäler Moskaus, die andere war ein Auftrag des russischen Hofes.[7] 1854 ordnete Zar Nikolaus I. an «alle in der Eremitage befindlichen Aquarellzeichnungen, die das Interieur der Säle darstellen, mittels Fotografien abzubilden».[8] Das war der erste Versuch, in Russland ein Album von Fotoabzügen in größerer Auflage herauszugeben. Das Fotografieren der Aquarelle und das Drucken der Abzüge wurde Bianchi aufgetragen, der sich das Recht sichern konnte, die über den Auftrag hinaus erstellten Abzüge auf eigene Rechnung zu verkaufen. Gegen Ende 1856 waren elf Aquarelle fotografiert, von denen über hundert Abzüge gedruckt wurden. Der Hof bezahlte diese Arbeit, doch mit der Thronbesteigung Alexanders II. wurde die Arbeit an dem Projekt eingestellt.[9]
Am 14. Mai 1858 verlieh die Kaiserliche Kunstakademie dem österreichischen Staatsbürger Ivan Bianchi den Titel eines Künstlers. Von da an versah Bianchi seine Veduten und seine Fotografien monumentaler Skulpturen, die in den renommiertesten Geschäften Petersburgs zum Verkauf standen, mit einer Inschrift auf Russisch und Französisch: «Artiste de l’Académie Impériale et photographe Jean Bianchi». In den 1860er und 1870er Jahren, zur Zeit der Reformen, bekam auch Petersburg nach und nach ein neues Gesicht, das typisch war für eine Stadt im Industriezeitalter. Mit den neuen Tendenzen in der Architektur änderte sich auch die fotografische Arbeit Bianchis. Er fotografierte zeitgenössische Gebäude: die sich erneuernden Zarenresidenzen, die Paläste und Datschen der Petersburger Aristokratie, Kirchen und Kapellen, Hotels und Lehrgebäude sowie und Bahnhöfe, Banken, Mietshäuser usw. Im Sommer 1862 teilte die Zeitschrift Fotograficeskaja illjustracija (Fotografische Illustration) mit, dass «Herr Bianchi mit der trockenen fotografischen Methode alle Bahnhöfe und Stationen der Peterhofer Eisenbahnlinie fotografiert hat».[10]
1865 verlegte der Meister sein Atelier in das nobelste Viertel Petersburgs, ins Haus Nr. 54 auf dem Nevskij Prospekt. Zu dieser Zeit fotografierte Bianchi nicht nur die Architektur der Hauptstadt selbst, sondern auch die Residenzen der russischen Zaren in der Umgebung Petersburgs: die Paläste und Parks von Carskoe Selo, Pavlovsk und Peterhof. Zu diesem Zyklus gehören auch zahlreiche Fotografien der Datschen und Paläste der hauptstädtischen Elite, die Petersburg wie eine Perlenkette umgürten. Breiten und wichtigen Raum im Schaffen Bianchis nehmen Fotografien der Interieurs von Palästen und Häusern der Adeligen ein. 1870 zeichnete das Expertenkomitee des Allrussischen Manufakturausstellung Bianchi für seine prächtigen Fotografien von Landschaften und Interieurs mit einer «Ehrenurkunde» aus.[11] Bianchi Ruf als Meister der Interieurfotografie verschaffte ihm Aufträge der bekanntesten russischen Adelsgeschlechter und der reichsten Leute des Landes, die von ihm ihre Paläste fotografieren liessen. Die Fotografien der Einrichtungen der Paläste wurden in ganzen Alben präsentiert und der Fotograf konnte sie in Einzelblättern im Detailhandel auf eigene Rechnung verkaufen.
Von besonderem Interesse im ikonografischen Erbe Bianchis sind dokumentarische Fotografien, die Ereignisse auf Staatsebene darstellen. Die früheste uns bekannte Aufnahme in diesem Bereich machte Bianchi am 10. Mai 1852 auf dem Marsfeld in Paris, wo er ein großes Armeefest fotografierte, während dem Prinz Louis Napoleon Bonaparte den Soldaten Medaillen verlieh. In Petersburg waren die frühesten Fotografien Bianchis dieser Art die Aufnahmen der Wassersegnung für das Dreikönigsfest an der Neva im Winter 1854 und die Beerdigungszeremonie für Zar Nikolaus I. im November 1855. Darauf folgten die Fotografien anderer offizieller Ereignisse, als wichtigstes die 200 Jahrfeier der Geburt Petes des Grossen im Jahre 1872.
Im Herbst 1884 verließ Bianchi Russland und kehrte in seine Heimat zurück, wo ihm sein verstorbener Bruder eine kleine Erbschaft hinterlassen hatte. Zuerst wohnte er in Montagnola (Kanton Tessin, Schweiz), dann in Lugano, wo er am 24. Dezember 1893 im Alter von achtzig Jahren starb und im Friedhof Santa Maria begraben wurde.[12]
Aus dem Russischen von Pia Todorovic Redaelli
[1] Diese Fotografien befinden sich gegenwärtig in der Sammlung von Jean Olaniszyn in Losone, Schweiz.
[2] Mario Redaelli, Pia Todorovic Strähl, Ekaterina Anisimovaa: Ivan Bianchi. Un ticinese pioniere della fotografia a San Pietroburgo, Lugano: Edizione Le Ricerche, 2002.
[3] 2003 wurde in der Biblioteca Cantonale in Lugano die bedeutendste Sammlung von 105 Fotografien gefunden. Die Zusammensetzung dieser Sammlung lässt annehmen, dass sie dem Fotografen selbst gehörte und er sie aus Russland mitgebracht hatte. Die Fotografien aus dieser Sammlung wurden kommentiert und publiziert in: Mario Redaelli, Pia Todorovic Redaelli: Squarci di storia pietroburghese e moscovita nelle immagini del fotografo Ivan Bianchi, Losone: Biblioteca Cantonale e Edizioni Le Ricerche 2005.
[4]Ivan Bianki – pervyj svetopisec Peterburga (Ivan Bianchi – der erste Lichtbildner Petersburgs) Ausstellungskatalog Petersburg: Staatliches Museum der Geschichte St. Petersburgs 2005.
[5] Die Fotografien mit den Veduten von Paris befinden sich in der Sammlung von Jean Olaniszyn, Losone und des Museums der Geschichte St. Petersburgs. Sie tragen alle das Datum 1852.
[6]Peterburgskaja letopis (Petersburger Chronik), in: Sankt-Peterburgskie vedomosti (St. Petersburger Nachrichten), 5. Dezember 1854, Nr. 272, S. 1314.
[7] Alle Fotografien mit Veduten von Moskau tragen das Datum 1855.
[8] RGIA (Russisches Staatliches Historisches Archiv), f. 469, op. 8, d. 1536. 5.12.1854-22.04.1857. 34 Blätter.
[9] A. A. Kitaev: Peterburg Ivana Bianki. Poste restante, St. Petersburg: Rostok 2015, S. 68-77.
[10]Vokzal Petergofskoj zeleznoj dorogi v S. Peterburge (Der Bahnhof der Peterhofeisenbahn in St. Petersburg), in: Fotograficeskaja illjustracija (Fotografische Illustration“), Nr. 3, März 1863, S. 21.
[11]Spisok pochval’nych nagrad po Vserossijskoj Manufakturnoj vystavke 1870 goda... (Liste der Auszeichnungen an der Allrussischen Manufakturausstellung), Sankt-Petersburg 1870, S. 85.
[12] Mario Redaelli Mario, Pia Todorovic: Ivan Bianki – tessinskij pioner fotografii v Peterburge (Ivan Bianchi – ein Tessiner Pionier der Fotografiein Russland, in: Svejcarcy v Peterburge. Sbornik statej (Schweizer in Petersburg, Sammelband) St. Petersburg 2002, S. 366.
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