Jörn Glasenapp
Nordische Fotografie. Editorial
erschienen in: Fotogeschichte, Heft 139, 2016
New Scandinavian Photography – so lautet der Titel eines jüngst erschienenen Bandes, dessen beiden Herausgeber, Bjarne Bare und Behzad Farazollahi, mit einer Bildauswahl an den Betrachter herantreten, die diesen davon überzeugen soll, Skandinavien habe, was kunstfotografische Bemühungen anbelangt, nunmehr (endlich) Anschluss an die internationale Szene gefunden.[1] Das Neue und Vielversprechende betonend, wird implizit dem seit langem geläufigen Narrativ der Verspätung das Wort geredet: Ihm zufolge haben wir es bei Skandinavien mit einer Nationengruppe zu tun, die in fotografischer (wie auch in anderer) Hinsicht lange Zeit gleichsam hinterhergelaufen ist, internationale Trends zwar sehr wohl aufgegriffen, selbst jedoch keine gesetzt hat. Dass man Skandinavien den Status eines (kunst-)fotografischen Impulsgebers mittlerweile sehr wohl zugesteht, hat selbstredend viele Gründe – und einige werden im vorliegenden Heft auch benannt. Jedoch wird man nicht umhin kommen, die in den letzten Jahren weithin erkennbare Aufwertung nicht allein der skandinavischen, also der dänischen, norwegischen und schwedischen, sondern der gesamten nordeuropäischen Fotografie im Zusammenhang mit einer ungleich gewichtigeren Tatsache zu begreifen: Der Norden und mit ihm die, wie es der Titel von Peter Davidsons einflussreicher Studie formuliert, "Idea of North"[2] hat seit geraumer Zeit gehörig an Aktualität gewonnen, und entsprechend ist man zunehmend bereiter dazu, den Blick auf die nördliche Peripherie zu richten, wenn es gilt, auf die drängendsten, die Paradoxien der Moderne betreffenden Fragen Antworten zu finden.[3] Anlässe hierfür gibt es viele, zunächst gewiss den Klimawandel mit seinen drastischen Auswirkungen speziell in polaren bzw. polarnahen Gebieten (man denke hier zumal an den rapiden Gletscherschwund); doch auch Ereignisse wie die isländische Finanzkrise, die im Herbst 2008 begann und erst im August 2011 offiziell für beendet erklärt wurde, oder aber der Ausbruch des Vulkans Eyjafjallajökull im Frühjahr 2010, aufgrund dessen große Teile des internationalen Flugverkehrs wochenlang eingestellt werden mussten, legen eine derartige Orientierung zweifelsohne nahe.
Die hier versammelten fünf Beiträge teilen das neue Interesse am Norden und dessen Fotografie, ohne jedoch letztere auch nur im Entferntesten homogenisieren bzw. als einer übergreifenden 'nordischen Idee' verpflichtet ausweisen zu wollen. Stattdessen finden sich Makro- und Mikroperspektiven gleichermaßen berücksichtigende Einzelstudien, die der Spezifität des je verhandelten Gegenstandes gerecht zu werden suchen. Den Anfang macht hierbei der umfangreiche Beitrag von Vreni Hockenjos, der uns nach Schweden führt. Das Material mehrerer Archivaufenthalte auswertend, widmet er sich der Fotografisk Tidskrift, der ersten Fotozeitschrift des Landes, die von 1888 bis 1913 erschien und den nationalen Fotodiskurs ebenso entscheidend wie nachhaltig prägte, um ab 1900 schließlich sogar zum zentralen gesamtnordischen Fotografieorgan zu avancieren. Steht zwar außer Frage, dass die Zeitschrift in nicht unerheblichem Maße vom allgemeinen Boom profitierte, den die Fotografie (nicht allein) in Schweden von den 1880er Jahren an erlebte, so wird man ihren erstaunlichen Erfolg, wie Hockenjos aufzeigt, darüber hinaus auf die außerordentlichen Kompetenzen Albin Roosvals zurückführen können. Als Gründer und wichtigster Verantwortlicher der Fotografisk Tidskrift wusste dieser seine Zeitschrift im sich zunehmend diversifizierenden fotografischen Feld stets sicher und zentral zu positionieren, wobei er speziell zwischen den mitunter weit auseinandergehenden Bedürfnissen von Berufs- und Amateurfotografen zu vermitteln verstand.
Wurde in der Fotografisk Tidskrift unter anderem auch über die Möglichkeiten der Fotografie als Kunst und somit auch über die zumal um 1900 im Trend liegende bildmäßige bzw. piktorialistische Fotografie diskutiert, untersucht der sich anschließende Beitrag von Jörn Glasenapp die zwischen 2010 und 2014 entstandenen Natur- und Landschaftsfotografien der dänischen Fotokünstlerin Astrid Kruse Jensen, die – wenn auch wohl nur auf den ersten Blick – als neo-piktorialistisch durchgehen könnten. Immerhin arbeiten auch sie exzessiv mit dem Stilmittel der Unschärfe, setzen auch sie zeitlos anmutende Sujets in Szene, die dem Zugriff der Moderne mit ihren mannigfaltigen Reizüberschüssen entzogen zu sein scheinen. Freilich erweist sich Kruse Jensens offensiv betriebener Rekurs auf die kunstfotografische Vergangenheit als ein allenfalls äußerlicher bzw. oberflächlicher, geht es der Künstlerin bei ihren Aufnahmen doch, wie Glasenapps Untersuchung deutlich macht, im Wesentlichen um mnemotheoretische Problemlagen, genauer: um eine Reflexion jener – meist ungenutzt bleibenden – Potenziale der Fotografie, die diese nicht als Speicher-, sondern als Gedächtnismedium zur Geltung bringen.
Ebenfalls fokussiert auf zeitgenössische fotografische Positionen innerhalb des Kunstkontextes ist der Beitrag von Bernd Stiegler, der einen Überblick über die sogenannte Helsinki School gibt, jenen Verbund von Fotografinnen und Fotografen also, deren letztlich extrem divergenten Aufnahmen seit ca. 20 Jahren auch international in zunehmendem Maße für Furore sorgen und mittlerweile gewiss als einer der zentralen Kunst-Exporte Finnlands betrachtet werden dürfen. Dessen Mangel an profilierten (kunst-)fotografischen Traditionen wird gemeinhin als eine nicht unerhebliche Ursache für die hohe Qualität und mitunter extreme Originalität der Helsinki School angesehen – auch von Stiegler, der ihren Vertreterinnen und Vertretern attestiert, bei der Arbeit gleichsam unbelastet zu Werke gehen und die Fotografie – jenseits von Konventionen, Routinen und bestehenden Konzepten – immer wieder neu zu erfinden.
Mit Jörn Glasenapps zweitem Beitrag erfolgt schließlich der Sprung nach Island, das von der fotowissenschaftlichen Forschung gewiss am wenigsten erschlossene Land Nordeuropas, dem auch aus diesem Grund im vorliegenden Heft zwei Beiträge gewidmet sind. Wie das Schaffen Sigfús Eymundssons, des 'Vaters' der professionell betriebenen isländischen Fotografie, eindrucksvoll belegt, wurde die Fotografie hier bereits seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts nicht zuletzt in den Dienst der nationalen Unabhängigkeitsbestrebungen gestellt und im Zuge dessen – und zwar zumal durch die Dokumentation der spektakulär erhabenen Natur und Landschaften – zur Profilierung des dezidiert 'Isländischen' eingesetzt. Um ebendieses 'Isländische' geht es immer wieder auch dem Bildjournalisten Ragnar Axelsson, dem international sicher bekanntesten und renommiertesten Fotografen Islands, dessen Reputation als Fotograf der Kälte sich in entscheidendem Maße seinen opulent gestalteten Fotobüchern verdankt. Von diesen steht in Glasenapps Beitrag vor allen Dingen Fjallaland, Axelssons bislang jüngstes Buch, zur Diskussion, das 2013 erschien und den außerordentlich traditionsreichen, alljährlich vor Wintereinbruch stattfindenden Schafabtrieb in Szene setzt – und zwar als das, was er bereits seit Jahrhunderten ist: ein Identifikationsfeld, das mit Blick auf die nationale Selbstauslegung Islands eine hochgradige Anschlussfähigkeit besitzt.
Als eine Art Pendant zu Glasenapps Ausführungen fungiert schließlich der Aufsatz von Claudia Lillge. Denn auch er rückt Island in den Fokus und auch er behandelt ein populäres Fotobuch, Reykjavík Rocks aus dem Jahr 2011, das wie Axelssons Fjallaland eine Sichtung bzw. Bestandsaufnahme des 'Isländischen' unternimmt. Allerdings macht es dieses, wie es der Titel bereits ankündigt, dezidiert nicht im Ruralen, sondern im Urbanen, das heißt der Metropole der Insel, aus – ein durchaus unerwarteter Perspektivwechsel, wenn man bedenkt, dass wir Island als 'Land der Landschaft' zu betrachten gewohnt sind. Dieses Bild stellt Reykjavík Rocks nicht ernsthaft in Frage. Vielmehr ergänzt es das Buch dadurch, dass es das Weltoffene, Coole und Dynamische, zugleich aber auch absolut Singuläre der isländischen Hauptstadt sowie Islands insgesamt herausstreicht. Letzteres, so die Rhetorik von Reykjavík Rocks, liege nicht am sprichwörtlichen 'Ende der Welt' liegt, sondern, verortet zwischen den beiden Kontinenten Europa und Amerika, gleichsam 'mittendrin' – und zwar als kosmopolitische 'Oase', die 'das Beste zweier Welten' beheimatet.
[1] Bjarne Bare und Behzad Farazollahi (Hg.): New Scandinavian Photography, London 2015.
[2] Peter Davidson: The Idea of North, London 2005.
[3] Vgl. hierzu auch Karen Oslund: Iceland Imagined: Nature, Culture, and Storytelling in the North Atlantic, Seattle 2011, S. xii.
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