Jürg Schneider
Martin Gusinde – nicht nur ein „Indianerversteher“
Christine Barthe, Xavier Barral (Hg.): Begegnungen auf Feuerland. Selk’nam. Yámana. Kawesqar. Fotografien von Martin Gusinde 1918–1924, Ostfildern: Hatje Cantz, 2015,– 31 x 25 cm, 297 Seiten, über 200 Abbildungen in S/W Duoton, gebunden, 68 Euro.
Erschienen in: Fotogeschichte, Heft 137, 2015
Das fast dreihundert Seiten umfassende Buch Begegnungen auf Feuerland ist als Bildband angelegt. Auf den großformatigen Seiten ist viel Platz für die von den Herausgebern aus 1.200 digitalisierten Negativen ausgewählten Fotografien, die der deutsche Missionar und Ethnologe Martin Gusinde (1886–1969) auf seinen vier Reisen zwischen 1919 und 1924 in Feuerland aufgenommen hat. Der Bildteil, rund 250 Seiten stark, wird von je zwei Textbeiträgen eingeführt und abgeschlossen. Mitherausgeberin Christine Barthe konzentriert sich auf „einige Schlüsselmomente [der Fotografiegeschichte Feuerlands] zwischen 1831 und 1924“ (eingeklammert von Charles Darwins Reisen und denen von Martin Gusinde) und fragt, „inwieweit Martin Gusindes Bilderkorpus nicht nur einzigartig, sondern mit den Ablagerungen zuvor entstandener Bilder durchsetzt [ist]“. Aus der Feder der chilenischen Historikerin Marisol Palma Behnke, die seit Jahren mit dem Material Gusindes arbeitet, stammt ein „Prolog zu Martin Gusindes Fotografien auf Feuerland“. Sie liefert darin eine geraffte Übersicht über Gusindes vier Reisen nach Feuerland und eine kurze Biografie. Von der 2010 verstorbenen amerikanischen Anthropologin Anne Chapman, die seit den 1960er Jahren in Feuerland forschte und Martin Gusinde noch persönlich kannte, wurde ein kurzer ethnografischer Text aus dem Jahr 2002 über die Mythen und Initiationsriten der Selk’nam aufgenommen. Abgeschlossen wird der Band durch einem Beitrag zur „Besiedlung und Entsiedlung Feuerlands“ von Dominique Legoupil. Letztere verfügt ebenfalls über jahrzehntelange Forschungserfahrung in dieser Region.
Die Fotografien von Martin Gusinde sind schon seit längerem Gegenstand der Forschung. Die wissenschaftliche und kritische Auseinandersetzung mit ihnen fügt sich in den in den späten 1990er Jahren einsetzenden Rahmen eines immer noch lebendigen Interesses an anthropologischen Fotografien ein. Insbesondere die Anthropologie selber zeigt darin ein – selbstkritisches – Interesse an der Produktion, und den historischen Produkten visueller Evidenz und Dokumentation der eigenen akademischen Disziplin.[1] Die englische Historikerin Elizabeth Edwards, die Herausgeberin des inzwischen zum Standardwerk avancierten Sammelbandes Anthropology and Photography 1860-1920[2] aus dem Jahr 1992, setzte 2002 die Fotografien von Gusinde in einen größeren anthropologischen Kontext.[3] Marisol Palma analysierte 2004 Gusindes Fotografien in einem vom Rezensenten mitherausgegebenen Sammelband mit Aufsätzen einer Konferenz zu Ehren des damals in den Ruhestand tretenden Archivaren der Basler Mission, Paul Jenkins, „hinsichtlich ihrer materiellen Gestalt und sozialen Biografie“.[4] Vier Jahre später erschien ihre Dissertation, in der sie sich detaillierter mit den Fotografien von Martin Gusinde auseinandersetzte.[5]
Palmas Text von 2004 ist hier von besonderem Interesse, zeigt sie darin doch auf, wie aus der Privatsammlung, die Gusinde dem Anthropos-Institut einige Jahre vor seinem Tod als Legat überließ, jenes Archiv entstand, das heute der Forschung zur Verfügung steht.[6] Das analytische Konzept der „sozialen Biografie“, das Marisol Palma in Referenz zu Elizabeth Edwards Arbeiten zur materiellen Kultur von Fotografien darin anwendete (ohne allerdings Arjun Appadurais grundlegenden Sammelband von 1986 und darin Igor Kopytoffs Beitrag zu erwähnen) kommt hier weiter zum Tragen insofern als mit dem besprochenen Band nun ein weiterer Abschnitt der sozialen Biografie des Archivs von Martin Gusinde vorliegt.[7]
Martin Gusinde wurde 1886 im damals noch deutschen Breslau geboren. Er starb 1969 in Mödling, Österreich. Seine Schulzeit absolvierte er im Missionshaus Heiligkreuz an der Neisse, danach begann 1905 ein philosophisch-naturwissenschaftliches Studium. Ab 1907 bereitet er sich auf das Priesteramt vor und im September 1911 wurde er zum Priester geweiht. Seine erste Destination als Missionar der Steyler Mission führte ihn 1912 nach Santiago de Chile, wo er am Liceo Aleman in der Grundschule und auf Gymnasialstufe unterrichtete. Ab 1914 arbeitete Gusinde als Freiwilliger an dem neu gegründeten Museo de Etnología y Antropología in Santiago unter dem deutschen Amerikanisten Max Uhle. Mit Uhle als Mentor legte Gusinde dort den Grundstein für seine späteren Forschungsreisen. Aus diesem kurzen biografischen Abriss wird ersichtlich, dass Gusinde kein eigentliches Ethnologiestudium absolviert hatte. Kenntnisse der Ethnologie und Anthropologie eignete er sich während seiner Arbeit im Museum an. Dort hatte er sich mit den deutschen Theoretikern vertraut gemacht, unter anderem mit den Methoden der Feldarbeit von Rudolf Martin, „des heute massgebenden Handbuches“, wie er im Vorwort des 3. Bandes (Teil 2, Anthropologie) seines Forschungsberichts schrieb.[8]
Gusinde hat die Fotografie für wissenschaftliche Zwecke eingesetzt, seine Fotografien bei Vorträgen gezeigt, die nicht zuletzt dem fund raising dienten und sie in Kontakten mit den Völkern, die er untersuchte, benutzt. Diesen zeigte er alte Aufnahmen und solche, die er auf seinen früheren Reisen aufgenommen hatte. Viele seiner Fotografien fanden schließlich Eingang in sein umfangreiches, mehrere Tausend Seiten umfassendes Werk, sie machen aber insgesamt nur einen kleinen Teil seiner Forschungsergebnisse aus. Und damit kommen wir zum problematischen Teil des vorliegenden Buches.
Martin Gusinde wird den Leserinnen und Lesern als ein Mensch vorgestellt, der den Bewohnern Feuerlands in seinen Forschungen mit Respekt für ihre Kultur und ihr „Geistesleben“ auf Augenhöhe gegenübertrat. Ein Ethnologe, der an den Initiationsriten der Feuerländer teilnahm und die er als seine Freunde bezeichnete. Ein „Indianerversteher“. Das Wort „Begegnungen“ im Titel des Buches nimmt diesen Ansatz auf. Nun ist es zwar durchaus so, dass Gusinde große Sympathien für diese „vom Aussterben verurteilte Indianergruppe“ hegte und er eine Nähe zu den Bewohnern Feuerlands erreichte, die nicht selbstverständlich ist. Aber Gusinde war eben noch mehr und er hat noch andere Fotografien aufgenommen als jene, die im Buch abgedruckt sind. Wer sich ein umfassenderes Bild des Ethnografen und Anthropologen Martin Gusinde machen will, muss im Text von Marisol Palma suchen oder noch besser, Gusinde im Original lesen. Ganz im Geiste der Zeit und den Standards der Disziplin gemäss, nahm Gusinde an den Bewohnern anthropologische Körpermessungen vor, davon zeugen die ausführlichen Tabellen in seinem Forschungsbericht; um diese zu erweitern und ergänzen, nahm er Grabungen im Friedhof von Santiago vor.
Nun ist es sicher legitim und nicht zuletzt notwendig, sich angesichts des umfangreichen Archivs von Gusinde auf einen Ausschnitt des Materials zu beschränken. Aber es ist weder zeitgemäß noch korrekt, die erwähnten problematischen Aspekte von Gusindes Forschungen und der damaligen Anthropologie allgemein zu unterschlagen (was die heutige Ethnologie ja schon lange nicht mehr tut) und stattdessen ein Buch auf den Markt zu bringen, das in seiner Gestaltung und was seinen Inhalt anbelangt gefährlich nahe an ein coffee table book geraten ist. Viel interessanter wäre es doch gewesen, den Menschen, Forscher und Missionar Gusinde und dessen Fotografien in diesem Spannungsfeld zu untersuchen.
[1] Neuere Publikationen zum Thema sind Christopher Morton, Elizabeth Edwards (Hg.), Photography, Anthropology and History. Expanding the Frame, Farnham, Surrey (UK) und Burlington, VT (USA) 2009; Marcus Banks, Richard Vokes, Introduction: Anthropology, Photography and the Archive, in: History and Anthropology, 21, No. 4, 2010, S. 337-349; Marcus Banks, Jay Ruby (Hg.), Made to Be Seen. Perspectives on the History of Visual Anthropology, Chicago und London, 2011.
[2] Elizabeth Edwards, Anthropology and Photography 1860-1920, New Haven (Conn.), 1992.
[3] Elizabeth Edwards, Martin Gusinde’s Photography in a Wider Anthropological Context, in: Carolina Odone Peter Mason (Hg.), 12 Perspectives on Selknam, Yahgan and Kawesqar. Taller Experiemntal Cuerpos Pintados, Santiago, 2002, S. 41-71.
[4] Marisol Palma, Konstruktion, Sammlung und Archiv. Zur sozialen Biografie der Feuerland-Fotografien von Martin Gusinde, in: Michael Albrecht, Veit Arlt, Barbara Müller, Jürg Schneider (Hg.), Getting Pictures Right. Context and Interpretation, Köln, 2004, S. 57-74.
[5] Marisol Palma, Bild, Materialität, Rezeption: Fotografien von Martin Gusinde aus Feuerland (1919-1924), München, 2008.
[6]Anthropos ist einerseits der Name eines Forschungsinstitutes, das die Ethnologen der Steyler Mission, der Gusinde angehörte, vereinigt. Andererseits ist es der Titel einer Zeitschrift für humanistische und wissenschaftliche Forschung, die 1906 auf die Initiative von Pater Wilhelm Schmidt geschaffen wurde und seither von diesem Institut herausgegeben wird. http://www.anthropos.eu/anthropos/index.php
[7] Igor Kopytoff, The Cultural Biography of Things. Commoditization as Process, in: Arjun Appadurai(Hg.), The Social Life of Things: Commodities in Cultural Perspective, Cambridge, New York et al., 2008 [1986].
[8] Martin Gusinde, Die Feuerland Indianer, Band 3, Teil 2, Wien-Mödlig, 1939, S. v.
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