Mirjam Brusius
Kalotypien zwischen Markt und Museum
Wilson Centre for Photography (Hg.):Salt and Silver. Early Photography 1840– 1860,London: Mack, 2015, Katalog zur gleichnamigen Ausstellung in der Tate Britain, 25. Februar bis 7. Juni 2015, 196 S., 28 cm x 23,5 cm, 120 Abb. in Farbe, broschiert, 40 Euro (ISBN 9781910164167)
Erschienen in: Fotogeschichte, Heft 137, 2015
Die Tatsache, dass Kunstmarkt und Museum aufeinander angewiesen sind, obwohl ihr Verhältnis zueinander gleichzeitig kritisch beäugt wird, ist nicht neu. Der Ausstellungskatalog Salt and Silver. Early Photography 1840–1860 zur gleichnamigen Ausstellung in der Tate Britain in London vergegenwärtigt, wie fließend die Grenzen zwischen Kunstmarkt und Museum im Ausstellungsbetrieb manchmal verlaufen können: So zeigt die in Kooperation mit dem Wilson Centre for Photography konzipierte Schau ausschließlich Werke der besagten privaten Einrichtung, welche zweifelsohne eine der hervorragendsten und umfassendsten Sammlungen ihrer Art beheimatet.
Die in Qualität kaum zu übertreffenden, in klassische Passepartouts gefassten Kalotypien kommen in der Ausstellung durch ein minimales Ausstellungsdesign und durch die gekonnte Lichtführung ideal zur Geltung. Genau das ist das Problem. Kalotypien, aus Papiernegativen generierte frühe Raritäten der Fotogeschichte, können berauschen, da sich in diesem Druckverfahren Bildmotive gleichsam in das raue Papier hineinsaugen, die für eben jenen satten Ton sorgen, der sie zu begehrten Sammlerobjekten macht. Der Katalog scheint diese Merkmale durch die Papierwahl und die hohe Druckqualität gleichsam nachzuahmen. Doch bevor man sich daran erfreut, stößt man auf den Buchumschlag. Wohl um dem ästhetischen Wert des Negativs einen ähnlichen Status wie dem Positiv zu verleihen, wurde die Titelseite mit einem Papiernegativ von W.H.F. Talbots Patroclus, der Fotografie einer Büste, bedruckt. Geradezu bizarr mutet dabei an, dass Patroclus durch in den in glänzenden Lettern aufgedruckten Ausstellungstitel Salt & Silver komplett „die Sicht versperrt“ wird. Will man dies metaphorisch lesen, so schließen sich eine Reihe von Fragen an. Denn tatsächlich hat man sowohl beim Besuch der Ausstellung als auch beim Lesen des Katalogs den Eindruck, als bliebe einem die Sicht auf einige wesentliche Dinge versperrt. So teilt sich dem Besucher zum Beispiel nur am Rande mit, dass es sich um die Ausstellung einer reinen Privatsammlung handelt. Wenngleich sich der Hinweis „From the Wilson Centre for Photography” im Kleingedruckten im Einführungstext und zumindest auf dem Buchrücken des Katalogs befindet, so hilft dieser hier kaum weiter. Doch warum wäre es überhaupt wichtig, die Herkunft der Objekte deutlicher ins Bewusstsein des Lesers und Ausstellungsbesuchers zu rücken?
Zum einen würden sich dadurch die behutsamen kuratorischen Eingriffe erklären. Die Ausstellung ist in Sektionen geteilt – Beginnings, Modern Life, History and Epic, Portraitand Presence –, die der Katalog ohne weitere Erklärung als Überschriften für die Bildfolgen übernimmt. Diese Sektionen wirken, als ob sich Ausstellung und Katalog zwischen Fotografie als Kunst, einer Mediengeschichte, und der funktionalen Fotografie als Dokument nicht so recht entscheiden kann, was an sich inhaltlich nicht uninteressant wäre, stünde im folgenden nicht vor allem eines im Vordergrund, nämlich der ästhetische Wert von Kalotypien.
Diese stammen vor allem von bekannteren Pionieren wie William Henry Fox Talbot, Maxime Du Camp, Roger Fenton, David Octavius Hill, Robert Adamson, Calvert Richard Jones, Gustave Le Gray, Henri Le Secq, Charles Marville, Felix Nadar, Charles Negre, Felice Beato, Auguste Salzmann, Felix Teynard und Linnaeus Tripe. Neben hervorragenden Reproduktionen dieser Akteure bietet der Katalog ein Glossar, Biografien der Künstler und ein Register. Statt begleitender Essays finden sich in dem Katalog außerdem zwei Roundtable-Gespräche zwischen Kuratoren, Wissenschaftlern und einigen Privatsammlern, darunter auch Wilson selbst.
Das Vorwort des Kurators der Tate Britain, Simon Baker, konzentriert sich zunächst auf die üblichen Rivalen Talbot und Daguerre. Obwohl hier erwähnt wird, dass sowohl „Wissenschaft als auch Kunst” Vorteile im neuen Medium Kalotypie sahen, so zeigt der Katalog, dass es kaum der praktische und pragmatische, sondern der museale Wert der Fotografie sein wird, der heute den diskursiven Rahmen der Kalotypie bestimmt. „This is not nostalgia”, wird einem im Vorwort versichert, doch genau darum scheint es sich im Folgenden zu handeln. Die Ästhetik von Talbots ursprünglich vor allem für den wissenschaftlichen Einsatz hergestellten Kalotypien wird im ersten Roundtable-Gespräch vor allem im Verhältnis zu modernen ästhetischen Geschmacksparametern gemessen. Allein die Wortwahl, die im Zusammenhang mit der Kalotypie fällt, Freshness, Directness, visuelle Eigenschaften, denen man sich in der Tat beim Anblick der Objekte nur schwer entziehen kann, gibt hiervon Zeugnis. Wenngleich einige wenige Teilnehmer behaupten, der technische Prozess und das historische Dokument sei das eigentlich Interessante, nicht die Ästhetik, da die Bilder stets mehrere Funktionen innehatten, so spürt man im Gespräch wenig davon, da ihm der ästhetische Wert der Objekte wie auch der Ausstellung im Weg steht. So bemerkt etwa Baker, dass selbst wenn man weder damals noch heute Talbot als Künstler bezeichnen würde, sei das, was er schuf „totally in line with what we now think of as experimental and creative“ (S. 28). Auch Moholy-Nagys Fotogramme und die Düsseldorfer Schule (sowie weitere Werke aus dem 20. Jahrhundert, die zu Beginn des Katalogs abgedruckt sind), ließen sich so auf Talbot zurückführen, womit dieser durch die „Stunde Null“ einen komfortablen Richtwert bildet, der jedoch ausschließlich von der Gegenwart in die Vergangenheit projiziert. Die Überschrift „Back to the Future” jedenfalls verstärkt den Eindruck, dass man hier einer teleologischen Erfolgsgeschichte folgen möchte.
Die am zweiten Roundtable-Gespräch beteiligte Elizabeth Edwards fragte kürzlich in einem Essay, in dem sie unter anderem mehrere Londoner Ausstellungen kritisch unter die Lupe nahm, weshalb der museale Wert von Fotografie sich nach wie vor immerzu an der Kategorie „Kunst“ misst. Das ist tatsächlich eine interessante Frage. Diskurse rund um die Themen Magic, Nature, oder Beauty lassen historische und kulturelle Hintergründe, etwa über die koloniale Expansion in Ägypten oder den beruflichen Hintergrund der Fotografen (Salzmann und Green waren vor allem Archäologen) zu kurz kommen. Die Teilnehmer scheinen durch die Ästhetik der Kalotypie verzückt zu sein, so verzückt, dass kein Platz bleibt für Fragen und Zweifel. Das Gespräch mäanderte vor sich hin, auch wenn immerhin gegen Ende die vermeintliche Objektivität der Fotografie in Frage gestellt wird und man sich schließlich darauf einigt, dass Fotografie manchmal mehr Konstrukt als Wahrheit sein kann. Doch spätestens seit Abigail Solomon-Godeaus berühmtem Essay „Calotypomania: The Gourmet Guide to Nineteenth-Century Photography” (in: Afterimage 11, Nr. 1-2, 1983, S. 7-12), der aufzeigte, wie durch das Zusammenwirken von privaten Sammlern, Kunsthistorikern und Museen der Prozess Ästhetisierung der (frühen) Fotografie funktionierte (und der Marktwert der Bilder stieg), sollte deutlich geworden sein, dass es sich bei der Kalotypie zwar um visuell und materiell reizvolle, jedoch genau deshalb auch um heikle Objekte handelt.
Während sich das erste Gespräch also neben technischen Details vor allem in besagter Ästhetik des Salzpapierabzugs verheddert, wendet sich das zweite Gespräch dem historischen Kontext zu. Es beginnt insofern in thematischer Hinsicht vielversprechender, wenn auch etwas holprig, mit einer Diskussion über das „Primitive” und einigen „close readings“ von Einzelbeispielen. Hier wird der Diskurs weniger von Sammlern als von Wissenschaftlern und somit von Themen wie in Fotografien zu Tage tretenden Macht- und Geschlechterverhältnissen sowie sozialen Identitäten bestimmt. Das Diktum der Kamera „that captures everything it sees“ wird hier sogleich zum Mythos verklärt.
Doch all dies macht die Tatsache nicht wieder wett, dass sich der Grundton des Ausstellungsprojekts methodisch keineswegs wie „back to the future“ anfühlt. Nicht nur das im ersten Gespräch Gesagte, sondern auch die Bildfolgen selbst bilden durch die suggestiv beschrifteten Unterteilungen ein Narrativ, das man im Forschungskontext längst hinter sich gelassen zu haben glaubte. So klafft die Lücke zwischen neuen Forschungsansätzen in der Fotogeschichte und dem blockbusterverdächtigen Ausstellungsprojekt immer weiter auf.
Dass hier ebenso wenig ein Kanon in Frage gestellt wird, hat wiederum den einfachen Grund, dass wir es mit einer Privatsammlung zu tun haben, deren Genese zwar kanonbildende Folgen haben kann, jedoch ursächlich häufig zunächst ökomischen oder subjektiv-ästhetischen Gesetzen unterliegt. Hatte man sich also zunächst noch über die puristisch ausgeführte kuratorische Intervention gewundert, der der Katalog in seinem Duktus folgt, so ist dies beim genaueren Hinsehen kaum überraschend. Einer musealen Nobilitierung von Objekten, die einer Privatsammlung entstammen, ist nur dann Rechnung zu tragen, wenn diese gleichsam im institutionalisierten und kanonisierten Ausstellungsbetrieb verschwindet und opak wird. Für minimale Selbstreflektion über das Verhältnis von Markt und Museum, sei es auch nur durch einen anderen Ausstellungstitel, der die Besitzverhältnisse der gezeigten Objekte präziser geltend macht, kann hier kein Platz sein, da das System sonst in sich zusammenbrechen würde. Sicher spielt auch eine Rolle, dass Sammler sich ab einem bestimmten Zeitpunkt über die Zukunft ihrer Objekte Gedanken machen müssen, womit Ausstellungen zum Testlauf werden. Das mag alles nicht neu sein. Dass dies jedoch ausgerechnet mit einem Medium passiert, der Kalotypie, deren Ausbeutungspotenzial für den Kunstmarkt seit mehr als drei Jahrzehnten kontrovers diskutiert wird, und somit die Preise weiter steigen, ist schade. Betrachtet man das Titelbild des Katalogs nach dem Zuklappen des Buches erneut, so wirkt Patroclus’ zur Seite geneigter Blick fast verwundert darüber, dass sich so wenig getan hat.
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