Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie

hg. von Dr. Anton Holzer

Jan Gerstner

Walter Benjamin und die Fotografie

Jessica Nitsche: Walter Benjamins Gebrauch der Fotografie, Berlin: Kadmos 2011, 15 x 23 cm, broschiert, mit Abbildungen, 39,80 Euro.

Erschienen in: Fotogeschichte 125, 2012

Sieht man sich die Frequenz an, mit der Walter Benjamin zitiert wird, sobald es um Fotografie geht, ist es erstaunlich, wie wenige umfassende monografische Untersuchungen es zur Bedeutung der Fotografie in seinem theoretischem und literarischem Schreiben gibt. Es gibt eine Arbeit von Rolf H. Krauss, die sich dem „Neuen Blick auf die Photographie“ bei und nach Benjamin widmet, aber seltsamerweise noch sehr stark auf die Frage, ob Fotografie eine Kunst sei, fixiert ist. Es gibt Eduardo Cadavas Words of Light, das zwar sehr ausführlich Benjamins Foto-Reflektionen erfasst, aber dazu tendiert, diese zum Anstoß für eigene Überlegungen zu nehmen, die dann nicht immer viel mit Benjamins Denken zu tun haben müssen. Dichter an Benjamins Text ist da schon das entsprechende Kapitel in Ronald Bergs Ikone des Realen. Hier ist es aber wieder nur ein Kapitel, das sich deshalb zu weiten Teilen auf Benjamins explizitere Fototheorie beschränken muss. Dass die Rezeption der Fotografie bei Benjamin aber darüber weit hinaus ging, zeigt nun Jessica Nitsches Arbeit Walter Benjamins Gebrauch der Fotografie.

In der Wendung „Gebrauch der Fotografie“ deutet sich bereits das Fruchtbare ihres Ansatzes an. Es geht nicht um einen festen Begriff von Fotografie, der aus Benjamins Schriften zu extrahieren wäre, sondern um die Figurationen und Einsätze des Mediums in Benjamins Schriften. „Eine allgemein gültige Formel, mit der Benjamins Fotografiebegriff zu entschlüsseln wäre, gibt es nicht“ stellt Nitsche gleich zu Beginn klar. Beim „Gebrauch“ anzusetzen, erlaubt es zudem, über die unmittelbare Beschäftigung mit der Fotografie und mit einzelnen Fotos hinaus zu zeigen, wie sehr das Medium auch in anderen Bereichen von Benjamins Denken und Schreiben präsent ist. Der Aufbau der Untersuchung widmet sich so in steigender Abstraktion den foto- und medientheoretischen Reflektionen und der Rezeption zeitgenössischer und historischer Fotografie bei Benjamin, geht dann „von der Fotografie zum Fotografischen“ über, indem fototheoretische und medienästhetische Überlegungen Benjamins in ihrer Relevanz für weitere Zusammenhänge aufgezeigt werden, um schließlich in einem dritten Teil Elemente des Fotografischen in den literarischen, geschichtstheoretischen und epistemologischen Entwürfen nachzuverfolgen.

Zu Texten wie der Kleinen Geschichte der Fotografie gibt es, könnte man meinen, nicht mehr viel zu sagen. Und selbstverständlich wird dem, der sich ein bisschen mit dem Thema Fotografie bei Benjamin auskennt, viel Bekanntes begegnen. Für andere kann dieser Teil von Nitsches Arbeit als gute Einführung in das Thema dienen. Im einen wie im anderen Fall gelingt es ihr, Benjamins Foto-Rezeption in den Zusammenhang der fotografischen Tendenzen und Strömungen ihrer Zeit einzubetten und zu zeigen, wie sehr diese Rezeption bereits von vorherigen Texten, insbesondere den Ausstellungskatalogen, über die Benjamin die Bilder primär rezipierte, abhing. Die genaue Kontextualisierung stellt zweifellos einen der Verdienste von Nitsches Arbeit dar. Sie kommt hier zu Entdeckungen, bei denen man sich – wie so oft bei Entdeckungen – in der Tat wundern kann, dass dem noch niemand nachging. Etwa die Zeilen von Stefan George, die Benjamin in der Kleinen Geschichte der Photographie zitiert: Bezogen auf ihren Kontext bei George wird deutlich, dass Benjamin hier ein ganzes Gegenprogramm zu dessen Dichtung im Namen der Fotografie entwirft.

Natürlich gibt es immer auch inhaltliche Einwände – insbesondere bei einem Autor wie Benjamin. Die Komplexität seiner Begrifflichkeit und Begriffsverwendung macht jede Darstellung zur selbstverständlich anfechtbaren Interpretation. Gerade diese begriffliche Komplexität bei Benjamin allerdings könnte in der Arbeit an manchen Stellen stärker reflektiert werden.

Ein Beispiel wäre der Begriff der Spur, der einerseits fototheoretisch einschlägig „vorbelastet“ ist, andererseits bei Benjamin eine sehr komplexe Bewegung durchläuft. Nitsche führt die Spur zunächst im Hinblick auf ihre fototheoretische Karriere ein, bei Philippe Dubois, dann natürlich bei Barthes und dessen punctum, und zeigt, dass die Ansätze für ein solches Verständnis der Fotografie bereits bei Benjamin zu finden sind. Die These allerdings, Benjamin habe das Medium Fotografie immer dann positiv bewertet, wenn es als Spurenmedium eingesetzt wurde, scheint sehr unterschiedliche Konzepte der Spur etwas vorschnell auf einen Begriff zu bringen. Mit dem anschließenden Kapitel geht Nitsche nämlich von der Fotografie als Spur über zu Fotos von Spuren, ohne diesen Wechsel der Perspektive eigens zu reflektieren – lassen sich Benjamins Spurensuchen mit einem Verständnis der Fotografie als Spur oder Index im Sinne von Bazin, Barthes, Krauss oder Dubois verbinden? Und in welchem Zusammenhang stehen die Spuren in der Fotografie, Benjamins Metapher des Tatorts (zu der Nitsche sehr erhellende Überlegungen anstellt) und die Vermehrung der Spuren im bürgerlichen Interieur zueinander? Letztere Frage muss eher aus der Konstellation der einzelnen Abschnitte erschlossen werden. Die erste Frage kommt in einem späteren Abschnitt einer Antwort näher, ohne dass sie tatsächlich gegeben würde, wenn Benjamins Bezug auf das Freudsche Konzept unbewusster Gedächtnisspuren und die Bedeutung fotografischer Metaphern erläutert werden. Dieser Abschnitt steht bereits im Zeichen des vollzogenen Übergangs von der Fotografie zum Fotografischen.

Rosalind Krauss’ Begriff des „Fotografischen“ erfreut sich in Arbeiten, denen es um das Wechselverhältnis von Schriftlichkeit und Fotografie geht, zu Recht einer gewissen Beliebtheit. Entsprechend adaptiert erlaubt er es, sich von so problematischen Vorstellungen wie einer „fotografischen Darstellungstechnik“ als einer bestimmten Form visuell-deskriptiv dominierter Darstellung zu lösen und abstraktere, stärker konzeptuell vermittelte Vergleichsmomente von literarischer Technik und Fotografie zu beschreiben. Nitsche versucht in dem Sinn, von bestimmten Charakteristika der Fotografie ausgehend vor allem den Prozess der Erinnerung in der Textkonstitution der Berliner Kindheit um neunzehnhundert zu erschließen. Vergleiche der Prosa-Miniaturen in der Berliner Kindheit mit der Fotografie sind durchaus naheliegend und daher nicht neu, wurden bisher aber selten systematisch reflektiert. Nitsche greift hierzu auf Dubois’ Fototheorie zurück, indem sie dessen Konzepte des Schnitts, der Nähe und der Ferne auf die Darstellungsweise in Benjamins Erinnerungsbuch anwendet. Auf den ersten Blick erscheint dies vielversprechend, auch wenn sich bereits anfängliche Zweifel melden, ob denn Dubois’ Konzepte sich wirklich auf die Erinnerung, und sei es in der literarischen Form der Berliner Kindheit, anwenden lassen. In der Umsetzung erscheinen die herausgearbeiteten Analogien dann tatsächlich etwas zu vage, um letztlich davon sprechen zu können, die Fotografie habe „konsequent Modellcharakter für den Text, das Fotografische ist in den Text eingegangen“ (S. 261).

Zugleich finden sich in der Berliner Kindheit selbstverständlich auch konkrete Bezüge auf die Fotografie, etwa die berühmte Szene im Fotoatelier. In ihrer Lektüre dieser Fotografie-Referenzen zeigt Nitsche, inwiefern darin gerade das hervortritt, was die Fotografie nicht zu sehen gibt. Das Foto wird so zu einer Art negativem Erinnerungsbild, das erst im Text in die Erinnerung an die Kindheit überführt werden kann.

Bei alledem allerdings geht es nicht um die subjektive Kindheitserinnerung allein. Vielmehr ist diese eingebettet in Benjamins geschichtsphilosophische Reflektionen. Indem sie die entsprechenden Bezüge detailliert herausarbeitet und daran anknüpfend die Bedeutung der Fotografie und anderer optischer Medien als epistemologische Modelle für die Darstellung von Geschichte herausarbeitet, erschließt Nitsche eine weitere Dimension des „Fotografischen“ in Benjamins Werk. Die Fotografie ist so nicht nur das Modell einer Schreibweise der Erinnerung, sondern – überzeugender – ein Reflektionsmedium, von dem aus ganz andere diskursive Felder organisiert werden können. Zugleich, darauf beharrt sie, geht es Benjamin nicht allein um das „theoretische Objekt“, sondern auch um ganz konkrete Fotografien.

Die Darstellung dieser Auseinandersetzung mit dem Werk einzelner FotografInnen, allen voran Eugène Atget, und die Einbettung von Benjamins Überlegungen in die fotografische Praxis seiner Zeit ist eine der Stärken der Arbeit. Unter anderem überzeugt der Bezug zu Germaine Krull, von der es nicht nur eines der berühmten Porträts Benjamins gibt, sondern auch Bilder der Pariser Passagen, einige davon in Benjamins Nachlass. Um einen direkten Einfluss geht es dabei weniger – für eine Kooperation von Benjamin und Krull gibt es keinen Nachweis (wohl aber von Krull und Franz Hessel, die Nitsche ausführlich analysiert) –, sondern eher um Konstellationen von Fotografien und Gedanken. In dieser Perspektive kann tatsächlich die Bedeutung der Fotografie für Benjamin auch jenseits der expliziten Auseinandersetzung ermessen werden. Weniger gilt das für den Versuch, direkte „Einflüsse“ zu behaupten, etwa, wenn Fotos Sasha Stones immer wieder als Vorlage für Benjamins Reflektionen zum bürgerlichen Interieur präsentiert werden. Nitsche folgt dabei einer weniger überzeugenden Vermutung Detlev Schöttkers – ob Benjamin, der in solchen Interieurs aufgewachsen ist, hier fotografische Vorlagen brauchte, erscheint fraglich.

Solche Einwände betreffen natürlich methodische Streitpunkte. Daneben finden sich in der Arbeit aber leider auch Ungenauigkeiten in der Lektüre, in Formulierungen und teilweise bei der Darstellung theoretischer Konzepte, die hier aufzuzählen kleinlich wäre. Es handelt sich tatsächlich um Kleinigkeiten. In ihrer Summe allerdings trüben sie den Gesamteindruck, was umso ärgerlicher ist, als die Arbeit sonst ihrem Anspruch, „die verschiedenen und selten widerspruchsfreien Einsätze“ der Fotografie bei Benjamin „in ihrem ganzen Umfang“ darzustellen, gerecht wird.

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