Anton Holzer
Fotogeschichte in der Praxis. Editorial
Erschienen in: Fotogeschichte, Heft 124, 2012
Als die Zeitschrift Fotogeschichte vor über 30 Jahren gegründet wurde, war das Fach Fotografiegeschichte im deutschsprachigen Raum noch weitgehend Neuland. Umso größer war in den ersten Jahren der Bedarf an Grundlagentexten, die praktische, methodische und theoretische Instrumentarien für die Fotoforschung zu Verfügung stellten. In der Fotogeschichte erschienen immer wieder Beiträge, die sich in grundlegender Weise mit den praktischen Techniken und den theoretischen Möglichkeiten von Fotografiegeschichte auseinandersetzten. Um nur einige wenige Beispiele zu nennen: Heft 15, 1985, beschäftigte sich mit dem Thema „Fotografie als historisches Dokument“, Heft 63 und Heft 64, 1997, behandelten „Aspekte der Fotogeschichtsschreibung“, Heft 95, 2005, ging der Frage nach: „Zeigen Fotografien Geschichte?“ Und Heft 99, 2006, widmete sich der „Datierung und Identifizierung von Fotografien“.
Lange Zeit wurde Fotografiegeschichte im deutschsprachigen Raum vor allem am Rande und außerhalb des universitären Rahmens betrieben. Eine der Folgen dieser Situation war, dass es kein fest umrissenes Methodenspektrum gab. Der Druck zu Kanonbildung und methodischer Verständigung war eher gering. Um es überspitzt auszudrücken: Jeder Fotoforscher/jede Fotoforscherin holte sich die methodischen Anregungen, wo sie zu bekommen waren und arbeitete dann nach eigenem Gutdünken. Das hatte auch Vorteile: bis heute hat sich in der deutschsprachigen Fotografiegeschichte kein einengender Mainstream herausgebildet. Die Kunstgeschichte ist nur eine der Disziplinen, die Anregungen und Inputs bietet. Genauso wichtig für die Fotografiegeschichte sind, um nur einige Beispiele zu nennen, die Ethnologie, die Medienwissenschaft, die Geschichtsschreibung, die Literaturwissenschaft, die Wissenschaftsgeschichte etc. Die produktive Mischung an Methoden, Fragestellungen und Theorien hat viel dazu beigetragen, das Feld der Fotogeschichte in unterschiedliche Richtungen hin zu öffnen.
Der Stellenwert der Fotografie hat sich in den letzten drei Jahrzehnten verändert. Sie ist im kulturellen Diskurs der Gegenwart ins modische Zentrum gerückt. Das Spektrum an Ausstellungen ist um vieles breiter geworden, die Zahl der musealen Präsentationen größer, aber auch die Anzahl wissenschaftlicher Arbeiten an Universitäten hat zugenommen. Fotografiegeschichte ist längst kein Orchideenfach mehr. Es gibt Lehrveranstaltungen zum Thema, einige universitäre und postuniversitäre Ausbildungen (aber immer noch wenige Abschlussmöglichkeiten im Fach Fotogeschichte). In Museen, Sammlungen und Archiven arbeiten heute zahlreiche gut ausgebildete Spezialistinnen und Spezialisten, die das Handwerk der Fotoforschung gut beherrschen.
Alles bestens also? Nicht ganz. Nach wie vor ist das Angebot an einführenden Unterlagen für die fotohistorische Ausbildung dürftig. Wer sich mit konkreten, praktischen Fragen der Fotoforschung beschäftigen will, findet zwar eine ständig wachsende Anzahl von Publikationen zu diversen Themen vor (viele davon sind Monografien, die in Zusammenhang mit Ausstellungen entstanden), aber erstaunlich wenige praxisorientierte Einführungen. Die konkrete Arbeit am Bild, der Gang in die Archive, das Blättern in historischen Zeitschriften und Zeitungen, die Literatursuche, die biografische Recherche, all diese Aspekte fotohistorischen Arbeitens, werden selten näher beleuchtet. Gerade diese praktischen Kenntnisse und Fähigkeiten sind aber unabdingbar für die wissenschaftliche Arbeit. Sie sind angehenden Forschern und Forscherinnen nicht bereits in die Wiege gelegt.
Dass es so wenige einführende, praxisnahe Studienliteratur zum Thema Fotografiegeschichte gibt, hat sicher auch mit der – zumindest im deutschsprachigen Raum – schwachen universitären Verankerung der Disziplin zu tun. Während in anderen Fächern, die an den Universitäten eine lange Tradition haben, kein Mangel an praxisorientierten Einführungen herrscht, fehlen diese in der Fotogeschichte weitgehend. Möglicherweise hat dieser Mangel aber auch damit zu tun, dass die in den letzten Jahren zu beobachtende Mode der Bildwissenschaft, die sich auch in der Fotogeschichte breit machte, zwar Anregungen im theoretischen Bereich gegeben hat, aber kaum Unterstützung in praktischen Fragen der Fotoforschung. Die alltägliche Praxis der Fotogeschichte, gewissermaßen die Mühe der Ebene (etwa die Arbeit in Archiven, die Analyse konkreter Fotografien/Bestände, die aufwändige Kontextrecherche etc.), ist kaum jemals in den Fokus bildwissenschaftlicher Einführungen gelangt. Der Bildbegriff der Bildwissenschaften ist seltsam unmateriell. Die Fotografie als haptisches Objekt angewandter Forschung ist ihm weitgehend fremd.
Das vorliegende Themenheft will diese Lücke schließen. Es versammelt Beiträge, die sich mit praktischen Aspekten der Fotografieforschung beschäftigen. Bei allen Unterschieden im Zugang ist den Texten gemeinsam, dass sie Fotografiegeschichte als konkrete Arbeit mit und an Bildern begreifen. Fotografie ist also, vor diesem Hintergrund, kein immaterielles, über den Dingen schwebendes Phänomen. Vielmehr taucht sie immer in konkreten, historisch wechselnden, medial sehr unterschiedlichen Kontexten auf. Wer sich mit der Analyse historischer Fotografien beschäftigt, muss sich also auf einen mehrfach gestaffelten Rechercheprozess einlassen. Dazu gehört natürlich die vertiefende Analyse des Bildes und seiner materiellen Rahmenbedingungen. Dazu gehören aber auch, um nur ein paar Beispiele zu nennen, Recherchen zu den die Fotografie umgebenden Kultur- und Medienensembles – seien diese nun Bild- oder Archivbeschriftungen, Text-Bild-Relationen in Zeitungen, Zeitschriften, Büchern oder in den neuen Medien. Auch gesellschaftliche Aspekte, die die Verankerung und Lektüre von Bildern lenken und beeinflussen, fallen in den Bereich der Fotoforschung. Ebenso die Auseinandersetzung mit historischen Positionen der Fotografiegeschichte (etwa den Klassikern der Fotogeschichte), mit bereits veröffentlichten Forschungsarbeiten, sowie mit den einschlägigen methodischen und theoretischen Positionen.
Die Beiträge dieses Heftes können nicht alle relevanten Aspekte der praktischen Fotoforschung abdecken. Aber sie wollen zur Reflexion über die eigene fotohistorische Arbeit, zum Weiterlesen und Weiterdenken anregen. Umfangreiche bibliografische Hinweise in jedem Text und ein kommentiertes Literaturverzeichnis am Ende des Heftes zeigen Fotoforschern und -forscherinnen Einstiegsmöglichkeiten für eine vertiefte Auseinandersetzung und weitere Recherchen an.
Hinweis: Seit kurzem bietet die Website der Zeitschrift Fotogeschichte einen besonderen Service an: Alle bisher erschienenen Beiträge, Rezensionen und Forschungsberichte der letzten 30 Jahre sind nun über eine Themen- und Stichwortsuche erschlossen. Dadurch wird die thematische Suche im umfangreichen Zeitschriftenarchiv wesentlich erleichtert.
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