Matthias Christen
Eine Geschichte der japanischen Fotografie in Büchern
Japanese Photobooks of the 1960s and ’70s,Editing and Essays by Ivan Vartanian, Essay by Ryuichi Kaneko. Interview with Daido Moriyama, New York: aperture, 2009, 22,9cm x 30,5 cm, 240 Seiten, ca. 400 4-Farb- und Duotonabb., gebunden, mit Bauchbinde, 75 Dollar
Erschienen in: Fotogeschichte 118, 2010
Vor gut zehn Jahren war in ausgesuchten Buchhandlungen unter dem Titel Japanese Box ein elegantes Holzkistchen zu haben. Es enthielt sechs Faksimiles von japanischen Fotobüchern und -zeitschriften, darunter Daido Moriyamas Bye, Bye Photography Dear (1972), Nobuyoshi Arakis Sentimental Journey (1972) und drei Nummern des einflussreichen Magazins Provoke (1968-1970). Die Gemeinschaftsproduktion von Gerhard Steidl, Karl Lagerfeld und dem Schweizer Sammler Christoph Schifferli hat das Ihre dazu beigetragen, dass in den vergangenen Jahren aus fotografischen Druckerzeugnissen Kultobjekte wurden. In der Zwischenzeit ist der Wert der Japanese Box um annähernd das Zehnfache gewachsen, und mit ihm das Interesse an japanischen Fotobüchern. Die Verbindung einer für westliche Augen ungewohnten fotografischen Ästhetik und einer hochentwickelten Kultur des Buchdesigns sorgt für eine Begeisterung, der kaum Abbruch tut, dass wenig über die foto-, verlags- und kulturgeschichtlichen Zusammenhänge bekannt ist, in denen die Bände entstanden sind. Damit es nicht bei einer Faszination für bibliophile Oberflächenreize bleibt, bringt der amerikanische Aperture-Verlag nun einen ersten Überblick über die jüngere Geschichte des japanischen Fotobuchs auf den Markt.
Japanese Photobooks of the 1960 and ’70s beruht auf einer der größten privaten Fotobuchbibliotheken Japans und ist wie Martin Parr und Gerry Badgers The Photobook aus der Zusammenarbeit eines Sammlers mit einem Autor hervorgegangen. Auch formal zeigt der Band von Ryuichi Kaneko und Ivan Vartanian Parallelen zum Unterfangen von Parr und Badger. Die einzelnen Bücher werden an einer Auswahl reproduzierter Doppelseiten vorgestellt und in einem Begleittext besprochen. Text und Bildstrecken fallen allerdings sehr viel großzügiger aus als bei Parr/Badger, so dass es leichter fällt, sich einen Eindruck von den Publikationen zu verschaffen. Vor allem aber ist der Fokus historisch und thematisch deutlich enger gesetzt als bei Parr und Badger. Anhand der einundvierzig Beispiele, die Kaneko und Vartanian aus einem Bestand von über 20’000 Titeln ausgewählt haben, soll eine zusammenhängende Geschichte der japanischen Fotografie erzählt werden, zu deren wichtigsten Trägern in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts das Fotobuch gehört.
Den Ausgangspunkt bildet mit Hiroshi Hayamas Yukugini (Snow Land) von 1956 eine klassische Reportage, in der sich der Fotograf in einer entlegenen Provinz auf die Suche nach Spuren des traditionellen japanischen Lebens begibt und dabei gezielt die Umwälzungen ausblendet, die das Land infolge des verlorenen Zweiten Weltkriegs durchmacht (vgl. Abb. 1). Damit ist die Folie gespannt, vor der sich im weiteren Verlauf die neuartigen Fotobuchpublikationen der 60er und 70er Jahre abheben, die Vartanian und Kaneko durch mehrere, einander überlagernde Entwicklungen bestimmt sehen: die rasche Urbanisierung des Landes, den wachsenden Einfluss des Westens auf die japanische Alltagskultur und die Abkehr von der dokumentarischen Tradition zugunsten einer Fotografie, die sich weniger als Abbild von Wirklichkeit denn als betont subjektiven Ausdruck von deren Wahrnehmung versteht. So zeigt Kikuji Kawada in Chizu (The Map, 1965), einer Sammlung von Fundstücken aus dem Alltag und Innenaufnahmen aus Hiroshimas „Atomic Bomb Dome“ (vgl. Abb. 2), anders als Hayamas Snow Land eine Nation, die angesichts der Kriegsfolgen und einer zunehmenden Verwestlichung eine Neuorientierung braucht.
Gleich viel Aufmerksamkeit wie dem Buch als Objekt, seiner Anlage und Machart, schenken Vartanian und Kaneko der Produktions- und Vertriebsgeschichte. Eine ganze Reihe von Titeln sind als eine Art „roman à clef“ (S. 12) konzipert, die sich an eine kleine Gruppe von Freunden und Bekannten richten, und daher für Außenstehende hermetisch wirken. Einige Serien – so Kawadas Aufnahmen vom Mahnmal in Hiroshima – sind zunächst in Zeitschriften wie Camera Mainichi oder Asahi Camera erschienen, deren Redakteure sogenannte „rensai“ vergaben, ein Serienformat, das den Fotografen normalerweise über ein Jahr monatlich zwei bis sechzehn Seiten zur mehr oder minder freien Verfügung und damit ein Grundeinkommen garantierte. Magazinserien, die beim Publikum ankamen, hatten eine gute Chance, in Buchform veröffentlicht zu werden, während umgekehrt aus erfolgreichen Buchpublikationen gelegentlich Magazinserien wurden. Wie eng die beiden Bereiche verzahnt waren, zeigt das Beispiel von Takuma Nakahira. Er war als Zeitschriftenredakteur für Shomei Tomatsus I Am A King-Serie zuständig, bevor er 1970 mit For a Language to Come selber einen modernen Fotobuchklassiker (vgl. Abb. 3) auf den Markt brachte.
Den von Vartanian und Kaneko ausgewählten Bänden ist nicht mehr anzusehen, dass sie aus einer privaten, nach persönlichen Vorlieben zusammengestellten Sammlung stammen. Mit der Fülle von Informationen und Querverweisen, die sie bieten, ergeben die einzelnen Einträge tatsächlich eine zusammenhängende Fotogeschichte Japans der 60er und 70er Jahre. Vartanian als Autor und Kaneko als Sammler zeigen, wie aus dem von Parr und Badger etablierten Muster von Einzeldarstellungen in Kombination mit ausgewählten Bildstrecken das Optimum herauszuholen ist. Japanese Photobooks of the 1960 and ’70s wurde beim diesjährigen Fotofestival in Arles zu Recht als beste fotohistorische Veröffentlichung ausgezeichnet.
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