Matthias Christen
Neuausgaben von Fotobüchern als Studien- und Sammelobjekt
Walker Evans: American Photographs. Essays by Lincoln Kirstein, John T. Hill, Jeffrey Ladd, New York: errata editions, [1938] 2009 – 24,1 x 17,8 cm, 112 Seiten, 98 Duoton und 4-Farbabb.,Gebunden, Leinen mit Bauchbinde – 39.95 Dollar
Chris Killip: In Flagrante. Essays by John Berger and Sylvia Grant, Gerry Badger, Jeffrey Ladd, New York: errata editions, [1988] 2009 – 24,1 x 17,8 cm, 80 Seiten, 65 Duoton- and 4-Farb-Abb., Gebunden, Leinen mit Bauchbinde – 39.95 Dollar
(weitere Bände der Reihe „Books on Books“: Eugène Atget, Photographe de Paris und Sophie Ristelhueber, Fait, limited edition mit allen vier Bänden der ersten Lieferung 200$ [errata editions])
Erschienen in: Fotogeschichte, 113, 2009
Die Geschichte des Fotobuchs ist eine Provinz der heimlichen Klassiker – ungeachtet der wachsenden Aufmerksamkeit, die sie in den letzten Jahren von Verlegern, Forschern und Sammlern erfahren hat. Anders als auf den benachbarten Feldern der Literatur und des Films bedeuten Erfolg und steigendes Renommee eines Titels nicht, dass er langfristig für ein breiteres Publikum zugänglich wird. Bände, die wie Robert Franks gerade neu aufgelegten Americans oder der Katalog der Family of Man-Ausstellung zu einigermaßen erschwinglichen Preisen in größeren Auflagen zirkulieren, sind rare Ausnahmen.
Die ersten Versuche, einen Kanon zu etablieren, wie Martin Parr und Gerry Badger sie mit ihrer zweibändigen Geschichte des Fotobuchs (The Photobook. A History, London, New York: Phaidon, 2004 und 2006 – siehe die Besprechungen in Fotogeschichte, Heft 100, 2006 und Heft 105, 2007) oder Andrew Roth mit The Book of 101 Books (New York: PPP Editions, 2001) unternommen haben, brachten bislang keine Besserung, was die Materiallage angeht – im Gegenteil. Die Titel, die Parr, Badger und Roth in den kleinen Kreis der „seminal photobooks“ (Roth) aufnahmen, verschwanden häufig genauso rasch vom Markt, wie für die verbleibenden Exemplare die Preise in die Höhen kletterten.
Während also die Kanonbildung im Bereich der Literatur- und Filmgeschichte gewöhnlich dazu führt, dass zwar der symbolische Wert eines Titels steigt, das Werk selbst aber in bezahlbaren Kopien als Taschenbuch oder DVD massenhaft erhältlich wird, kommt es bei Fotobüchern eher zu einer Verknappung des Angebots. Das liegt zum einen an den kleinen Auflagen und hohen Produktionskosten, zum anderen aber daran, dass das Fotobuch sich angesichts des Booms, den der Handel mit Abzügen in den vergangenen Jahren erlebt hat, zu einem eigenständigen Sammelobjekt entwickelt hat; gemessen an den astronomischen Beträgen, die für Prints bezahlt werden, nehmen sich ein hundert oder zweihundert Euro für ein Buch vergleichsweise bescheiden aus und machen es zu einer auch ökonomisch interessanten Alternative.
Dass das Fotobuch stärker den Gesetzen des Kunst- als des Buchmarktes folgt, hat die Erforschung und Vermittlung seiner Geschichte an Schulen und Universitäten massiv behindert. Denn selbst für Titel der jüngeren Fotogeschichte fehlt häufig die ausreichende Materialbasis. Diesem Mangel versucht der neu gegründete New Yorker Verlag errata editions, ein Zusammenschluss von Fotografen, Designern und Lehrenden, nun ein Stück weit abzuhelfen. Während die französischen Photo-Poche-Bändchen und Phaidons Serie 55 eine Auswahl aus dem Gesamtwerk einzelner Fotografinnen und Fotografen präsentieren, bringt erratas „Books on Books“-Reihe erstmals komplette Bücher neu heraus. Dabei handelt es sich allerdings nicht um herkömmliche Neuauflagen oder Reprints. Jeffrey Ladd, von dem das Konzept der Serie stammt, versteht die elegant aufgemachten und in einem einheitlichen Design gehaltenen Bände als „studies of the original books“, als Ergebnis einer analytischen Auseinandersetzung mit den in ihrer ursprünglichen Gestalt normalerweise nicht mehr greifbaren Werken.
Der Verlag wählt dafür ein ähnliches Verfahren wie schon Parr und Badger in ihrer Geschichte des Fotobuchs. Ein Exemplar der Erstausgabe wird mit einer Großformatkamera vor einem hellen Hintergrund abgelichtet, so dass ein Eindruck von der haptischen Qualität gewahrt bleibt, der den Bildern in Buchform eigen ist, nur dass für die „Books on Books“-Reihe statt einzelner Teile jeweils der ganze Band durchfotografiert wird. Die Repros sind entlang ihrer ursprünglichen Abfolge so angeordnet, dass auf jede Doppelseite der Neuausgabe zwischen einer und vier der Originalpublikation zu stehen kommen.[1] Zusätzlich zur kompletten Wiedergabe des Erstdruckes als Buch im Buch ist jeder Band mit einem kurzen Text zur Publikationsgeschichte und einem ausführlichen Nachwort versehen, in dem das Werk im weiteren fotohistorischen Zusammenhang verortet wird.
Mit Eugène Atgets Photographe de Paris, Walker Evans’ American Photographs, In Flagrante von Chris Killip und Fait, Sophie Ristelhuebers verstörenden Ansichten von den Schlachtfeldern des ersten amerikanisch-irakischen Krieges, bieten die ersten vier Bände der Reihe eine gute Auswahl: Amerika und Europa sind annähernd gleich stark vertreten, und das historische Spektrum deckt mit den frühen 30er und 90er Jahren als Eckmarken einen Grossteil der Fotogeschichte des 20. Jahrhunderts ab. Die Bücher von Atget, Evans und Killip verweisen überdies direkt aufeinander. Sie stehen alle in der Tradition des „lyrischen Dokumentarismus“, den Evans in Anlehnung an Atgets Parisbilder in den 1930er Jahren entwickelt hat (s. „The Reappearance of Photography“, wieder abgedruckt in: Unclassified. A Walker Evans Anthology, Zurich, Berlin, New York: Scalo, 2000, 80-84) und den Killip aufgreift, wenn er in den 70er und 80er Jahren den Niedergang des Industriezeitalters und die langsame Auflösung der sozialen Lebens in Nordenglandverfolgt.
Im direkten Vergleich, den das einheitliche Buchdesign befördert, ergeben sich erstaunliche Querverbindungen zwischen den Bänden, so in der Art, wie Evans und Killip zu Anfang ihrer Bücher programmatisch die Rolle der Fotografie als Technik des „editing of society“ (Evans, „The Reappearance of Photography“, 84) und hochgradig persönlichen Mittlerin reflektieren: Evans beginnt seine Serie mit Ansichten von Auslage und Fassade zweier Fotostudios, während Killip einleitend sich selbst und seine Kamera als Schattenwurf und Teil der düsteren „social scene“ mit ins Bild setzt.
Dass die Bände der „Books on Books“-Reihe eine komplette Reproduktion des Erstdruckes mit weiterführenden fotohistorischen Texten in einem eleganten Buchdesign verbinden, macht sie für Forscher und Sammler gleichermaßen ansprechend und auf Dauer unverzichtbar. Dadurch dass auf einzelnen Doppelseiten bis zu acht nebeneinander liegende Seiten der Erstausgabe platziert sind, erscheinen manche Motive dem Original gegenüber in deutlich verkleinertem Maßstab, was vor allem bei kleinteiligen Aufnahmen spürbar zu Lasten der Bildwirkung geht. Zum einen werden aber die Schlüsselbilder der einzelnen Serien regelmäßig über vollen Doppelseiten gezogen, damit möglichst wenig an Details verloren geht. Zum anderen eröffnet die parallele Anordnung mehrerer Doppelseiten ungeahnte Einblicke in den Aufbau, die Gliederung und die Rhythmik der Serien – ganz im Sinne der analytischen Auseinandersetzung, die die Bände als „studies of the original books“ leisten sollen.
Für die Fortsetzung der Serie baut der Verlag auf die eingespielten Mechanismen des Fotobuchmarktes. Eine „limited edition“, die mit einem Repro des Originalumschlages anstelle der üblichen Bauchbinde versehen ist, soll die Mittel für die weiteren Bände einbringen. Nach den ersten vier wünscht man sich, dass die künstliche Verknappung hier für einmal im Interesse des breiteren Publikums greift und dem ganzen Unternehmen möglichst bald in die nächste Runde hilft.
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[1]<//span> Zur Produktionsgeschichte siehe ausführlich Ladds Photobuch-Blog 5B4: 5b4.blogspot.com/2008/09/errata-editions-books-on-books-series.html, 5b4.blogspot.com/2008/09/errata-editions-on-press-day-one.html und die Einträge zu den folgenden Tagen. [30.3.2009]).<//font><//font><//span><//span><//span>
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