Gisela Steinlechner
Der Sammler mit der Kamera
Gerhard Roth: Atlas der Stille. Fotografien aus der Südsteiermark von 1976-2006 – hg. von Daniela Bartens und Martin Behr in Zusammenarbeit mit dem Franz Nabl-Institut Graz und dem Kulturhaus St. Ulrich im Greith – Mit Textbeiträgen von Daniela Bartens, Martin Behr, Frido Hütter, Gerhard Roth, Wendelin Schmidt-Dengler, Uwe Schütte, W. G. Sebald und Helena Wallner – Wien, München: Christian Brandstätter Verlag 2007 – 28,5 x 25 cm, 304 Seiten, 740 Abbildungen, vorwiegend in Farbe, gebunden mit Schutzumschlag, 49,90 Euro
Erschienen in: Fotogeschichte 106, 2007
Wer das Buch aufschlägt und in seinen Seiten herumblättert, befindet sich sofort im tiefsten Hinterland: in einer mittlerweile auch zeitlich entlegenen Gegend der österreichischen Provinz, genauer der Südweststeiermark, in der der Schriftsteller Gerhard Roth von 1977 bis 1986 auf einem alten Bauernhof in Obergreith lebte und seiner Schreibarbeit nachging. Letzteres auch im wörtlichen Sinn, indem er von seinem Domizil aus tägliche Spaziergänge in die unmittelbare Nachbarschaft unternahm, ausgestattet mit einem Notizbuch, einem Aufnahmegerät und eben einer Kamera. Aufs Fotografieren sei er gekommen, "um nichts aufschreiben zu müssen", berichtet Roth in seinem ausführlichen Kommentar "Eine Expedition ins tiefe Österreich", der in dem Bildband nachzulesen ist (neben einer Reihe von aufschlussreichen Aufsätzen zu Roths fotografischem und schriftstellerischem Werk). Mehrfach betont der Autor den nicht-künstlerischen, beiläufigen Ansatz seiner fotografischen Sammlertätigkeit; die Kamera diente ihm als ein vorgeschaltetes Gedächtnis, indem sie immer dann zum Einsatz kam, wenn er sich etwas "merken" wollte bzw. "die Energie festhalten, die mit einer Wahrnehmung verbunden war". Die auf diesen Wanderungen entstandene, an die 10.000 Farb-Aufnahmen umfassende Sammlung aus Obergreith – Roth nennt sie seine "Photo-Notizbücher" – findet sich auf vielfältige Weise transformiert in sein schriftstellerisches Werk.
Freilich ist dem Autor bewusst, dass auch das absichts- und kunstlose Fotografieren dessen, was ihm begegnet, keine realitätsgetreuen Abbilder liefert, sondern Modelle einer Wirklichkeit, die für ihn wiederum zum Material für das zu Schreibende werden: "Durch meine Arbeit präparierte ich einen Landstrich aus dem Land heraus, ich machte ihn zu dem meinen und distanzierte mich zugleich von der Realität." Was ist es nun, was sich der Mann mit der Kamera merken wollte" (Im Übrigen hat Roth den Koffer voller angesammelter Notizen und Fotos nie konsultiert, als er an dem korrespondierenden Buch "Landläufiger Tod" schrieb, die Motive waren schon durch den Akt des Fotografierens zu abrufbaren Gedächtnisbildern geworden.) Nun, Jahre später, hat der Autor eine Auswahl aus dem fotografischen Fundus – ergänzt mit späteren Aufnahmen aus der Südsteiermark – zu verschiedenen Kapiteln und Unterkapiteln zusammengestellt. Die heißen: "Dorfleben: An der Haustür", "Dorfleben: Tierwelt" oder "Dorfleben: Hochzeiten", andere Kategorien sind "Arbeit", "Jagd" oder "Einzelheiten". Letztendlich ist es aber fast immer die Landschaft, die den Ton angibt, auch dann, wenn sie nicht mit im Bild ist; indem sie etwa die Gesichter und den Habitus der porträtierten Menschen auf eine Weise prägt, an die die Sprache nur schwerlich heranreicht. Oder indem jede Gerätschaft, jedes Tier, jedes Haus, das auf den Fotos zu sehen ist, in einer eigenen, durchaus physischen Welt des Gebrauchs oder des Verfalls verortet scheint. Roths fotografische Recherchen folgen keinem einheitlichen ästhetischen Konzept oder Blickwinkel, ein und dasselbe Motiv bzw. Geschehen wird oft auf unterschiedlichste Weise "tangiert" und hierin erweist sich auch die Qualität der Zusammenstellung der Fotografien im vorliegenden Band: Diese setzt beiläufige und dokumentarische Beobachtungen neben "starke" Bilder und manchmal geradezu malerische Kompositionen. Erst in solchen Relationen und Sprüngen offenbart sich die Poetik der Rothschen "Spaziergangswissenschaft" (in Anlehnung an eine Disziplin, die der Soziologe und Landschaftsforscher Lucius Burckhard in den 1980er Jahren begründet hat).
Vielleicht am zugänglichsten sind die Porträts der Bewohner von Obergreith. Man meint hier verschiedene "Typen" und Typologien eines ländlichen Menschenschlags wieder zu erkennen, und dennoch sieht man es den Bildern an, dass sie von keinem Durchreisenden gemacht wurden, der auf pittoreske oder folkloristische Beute aus war. Sie zeugen vielmehr von einem nachbarschaftlichen Verhältnis, das auf Respekt und nicht zuletzt auch auf der Wahrung von Grenzen beruht. Die Porträtierten stellen sich dem Fotografiertwerden denn auch meist auf entspannte, manchmal auch erstaunte oder nachsichtige Art: schließlich ist es doch unsinnig, bei einer alltäglichen Arbeit und im schlechtesten Gewand Modell zu stehen. Die meisten blicken zurück, ernsthaft, scheu oder auch stolz, man kennt sich und man vertraut dem Mann mit dem Fotoapparat so weit, dass man ihn auch in die ärmliche Kammer lässt, in der gelebt, gearbeitet und geschlafen wird, zusammen mit der Katze und den Hühnern unter der Bank.
Die alten Menschen sind am berührendsten. Sie brauchen nicht mehr zu posieren, alles was sie sind und was sie haben, tragen sie auf selbstverständliche Weise an sich. Einen Krautkopf hält der alte Bauer in seinem Schoss, er sitzt auf den Stufen vor einer malerischen grünen Holztür, und grünstichig ist auch das Gemälde auf dem Kalenderblatt der "Grazer Wechselseitigen", das an der Tür hängt. Auch die alte Frau mit Kopftuch und Nähzeug sitzt auf den Eingangsstufen zu ihrem Haus, zu ihrer Rechten ein mürrischer Schäferhund, zur Linken ein leuchtender Geranientopf und in der Mitte steht da noch eine kleine weiße Zwirnspule auf der Stapfel – sie bindet die malerische Szene zurück an den Alltag mit seinen Gewohnheiten, seinen kleinen Improvisationen und Ritualen. Es sind keine gesuchten oder arrangierten Details, die solcherart ins Bild kommen (Roth vertritt eines strenges Credo des Nichteingreifens), die "Nebendarsteller" auf den Szenen treten oft erst bei einer genaueren Lektüre der Bilder zum Vorschein und erzählen ihre eigenen Geschichten.
Oft ist die Arbeit ein Thema der Fotografien und das heißt in diesem Landstrich vor allem: das Herstellen, Sammeln und Verarbeiten von Nahrungsmitteln. Diese formieren sich zu eigenen Landschaften, Berge von aufgeschichteten Kürbissen, gesammelte Äpfel in Plastiksäcken, Beeren in Körben und Schüsseln, ein durchgeschnittener Krautkopf. Neben solchen stilllebenartigen Ansichten der Ordnung der Dinge interessiert sich der Fotograf immer wieder für szenische Aspekte der Tätigkeiten und Örtlichkeiten, die oft in Serien festgehalten werden: Sauschlachten im Freien, mit aufgekratzten Helfern und Gaffern, Maisschälen in einer Tenne, Melken, Hufschneiden, Holzarbeiten, oder auch Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande, Begräbnisse, Kinderspiele.
Am Schluss des Bandes gibt es eine Abteilung mit Landschafts- und Naturaufnahmen, die den Blick von der kulturellen Phänomenologie des Landstrichs abziehen und sich ganz auf dessen rhythmische und strukturelle Beschaffenheit richten. Wie letzte Dinge sind sie im "Atlas der Stille" verzeichnet: Wolkenformationen, Eisblumen, Licht- und Schattenspiele, Spuren im Schnee.
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