Anton Holzer
Editorial, Heft 89, 2003: Fotografie und Dämmerung
Erschienen in Fotogeschichte Heft 89, 2003
Über die Dämmerung schreibt Béla Balázs 1925 in seinem Baedeker für die Seele einen wunderbaren kurzen Text. [1] "Eine Stunde vor Nacht" heißt die Miniatur. "Nach Sonnenuntergang", so beginnt der Autor, "wird die Gegend deutlicher. Es ist nicht mehr alles gleichmäßig mit Sonnengoldlack überschmiert. Die eigenen Farben kommen heraus. Und aus dem Land tauchen die Landschaften empor. Die plastische Landkarte der Gegend wird lebendig. Die Umrisse einzelner Physiognomien heben sich ab. Man sucht erregt nach dem Gesicht wie in einem Vexierbild. [...] Eine Stunde vor Nacht kommt die Natur einem wie eine unleserliche Handschrift vor, in der etwas ganz bestimmtes geschrieben steht, an mich adressiert."
Die Landschaft in der Dämmerung ruft, so der Autor, nach dem Vergleich, dem Gleichnis, nach der Symbolik. Die Dämmerung als Bild lebt von der Übersetzung, der Überblendung. Balázs selbst lässt sich zunächst auf dieses Spiel des Verweises ein. Das Atmosphärische der Dämmerung lässt er aufgehen in wie-Sätzen. "Ich sehe die Sonne hinter den Bergen untergehen. Und die dunklen Zacken der Berge [...] wie das Gebiß eines mystischen Raubtieres, das den Tag zerfleischt hat. Das Blut des Abendrotes stockt noch zwischen den spitzen, schwarzen Zähnen. [...] Und die Konturen der Hügel werden so scharf, dass man die einzelnen Bäume auf dem Grat zählen kann. Und kleine Kirchen stehen überall auf den Bergen und stechen spitz und fordernd nach dem Himmel. [...] Sie sind wie die hohen Blitzableiter mit goldenen Spitzen. Gottableiter sind sie. (Sonst könnte Gott überall einschlagen)."
Plötzlich aber, inmitten der Vergleiche, hält der Autor inne. "Aber es liegt ein Widersinn darin, ein Ding damit erklären zu wollen, dass man sagt: es ist wie ein anderes Ding. Und die Gleichnisse der Dichter gleichen sich untereinander viel mehr als sie den Dingen gleichen, auf welche sie sich beziehen. Scheinbar kommt es gar nicht auf die Ähnlichkeiten an, sondern auf einen geheimen Zusammenhang zwischen den Dingen, der entlarvt wird, eine Stunde vor Nacht."
Von der Fotografie redet Béla Balázs hier nicht. Und dennoch lässt sich sein Gedanke auf sie übertragen. Die Fotografie der Dämmerung feiert, jedenfalls in ihrer populären Form, gerne den Vergleich und die Symbolik. Wenn der Übergang zwischen Tag und Nacht festgehalten wird, wird mehr eingefangen als ein Gegenstand vor der Kamera, die Aufnahmen kurz vor der Nacht und kurz vor dem Tag scheinen sich dem Dokumentarischen zu entziehen. Die Fotografie des Sonnenunterganges spricht die Sprache des Gleichnisses. Sie meint im unscharfen Bild der Dämmerung ein anderes, klareres Bild zu erkennen.
Vielleicht lebt die Fotografie der Dämmerung von einer ähnlichen Faszination wie die Fotografie selbst. Beide fixieren einen Übergang, halten fest, was im Begriff ist, sich der Wahrnehmung zu entwinden. Die Fotografie und die Dämmerung: sie suchen das Wunder des verborgenen, des latenten Bildes, das für einen Augenblick hervortritt. Während aber die Dämmerung vergeht, bleibt das fotografische Bild fixiert. Béla Balázs spricht von der unsteten Physiognomie der Dinge, die in der Dämmerung – und man könnte ergänzen: in der Fotografie – aufblitzt. Wie in einem Vexierbild.
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Die Beiträge dieses Themenheftes gehen – bis auf den Aufsatz von Monika Schwärzler – auf die Vortragsreihe "Dämmerung – Fotografie" zurück, die 2002 in Frankfurt a. M. stattfand. Veranstaltet wurde die Reihe vom Arbeitskreis Fotografie im Hessischen Museumsverband. An der Konzeption mitgearbeitet haben Gottfried Edelmann, Ursula Edelmann, Hartmuth Schröder, Petra Rau, Gerhard Fresenius, Calin Mihai und Hans Reimann. Für die Zusammenarbeit bei der Veröffentlichung der Texte möchte ich mich herzlich bei Frau Petra Rau (Frankfurt) bedanken.
[1] Béla Balázs, Ein Baedeker der Seele. Und andere Feuilletons, hrsg. von Hanno Loewy, Berlin 2002.
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