Leander Pöhls
Die Fototheorie und die Bilderfluten
Jussi Parikka, Tomáš Dvořák (Hg.): Photography Off the Scale: Technologies and Theories of the Mass Image, Edinburgh: Edinburgh University Press 2021, mit Beiträgen von Geoffrey Batchen, Sean Cubitt, Andrew Fisher, Joan Fontcuberta, Paul Heinicker, Michelle Henning, Josef Ledvina, Lukáš Likavčan, Annabella Pollen, Michal Šimůnek Tereza Stejskalová, Joanna Zylinska und den Herausgebern, 295 S., 15,88 x 23,5 cm, kartoniert, 50 Abb. in Farbe, 20 Euro
Erschienen in: Fotogeschichte 163, 2022
Das immer wieder in den Zusammenhang mit der Fotografie gebrachte Problem der Bilderflut beschäftigt die Fotogeschichte nicht erst seit der Etablierung der Digitalkamera. Dennoch ergeben sich im Kontext der sich in scheinbar (noch) endlose(re)n Bilderfluten präsentierenden digitalen Fotografie neue Herausforderungen für die Fotoforschung. Diesen widmet sich der von Jussi Parikka und Tomáš Dvořák herausgegebene Band Photography Off the Scale: Technologies and Theories of the Mass Image. Damit reiht sich die Anthologie in eine Vielzahl von kürzlich publizierten Untersuchungen zu den Dynamiken digitaler Bildproduktionen ein: um hier nur drei zu nennen, sind beispielsweise der umfangreiche Katalog der von Peter Szendy kuratierten Ausstellung The Supermarket of Images, Lev Manovichs bei MIT Press erschienenes Cultural Analytics oder die von Annekathrin Kohout und Wolfgang Ullrich bei Wagenbach herausgegebene Buchreihe Digitale Bildkulturen hervorzuheben.[1] Was die zwölf Beiträge allerdings von der restlichen Literatur zum Thema abhebt, ist ihr gemeinsamer Bezug auf die Idee der „Skalierbarkeit“. Dabei handelt es sich um einen der Betriebswirtschaftslehre entnommenen Begriff, der die Kapazitäten eines Systems für Größenveränderungen einschätzt. Bereits im Titel des Bandes – Photography Off the Scale – wird unsere digitale Bildkultur dabei zu einer Ausnahme, zu einem in dieser Größenordnung beispiellosen Szenario erklärt. In der Einleitung erklären die Herausgeber, dass im Jahr 2016 insgesamt 800 Millionen Bilder auf Snapchat, 350 Millionen auf Facebook und 80 Millionen auf Instagram hochgeladen wurden. Was ist die Best Practiceim Umgang mit diesen Mengen? Wie kann die Fotoforschung diesen Bildern begegnen, wenn sie sich klassischerweise auf einen begrenzten Bildkorpus beschränkt? Welche technischen, epistemologischen, ästhetischen und forschungspraktischen Konsequenzen ergeben sich aus der jüngsten digitalen Bilderflut?
Die durch Bilderfluten evozierte Ohnmacht wird zu Beginn des Buches von einem doppelseitigen Abdruck der bekannten Installation 24 hrs in photos von Erik Kessels repräsentiert. Das Werk Kessels besteht aus einem sich meterhoch türmenden Berg gedruckter Fotos, die über einen Zeitraum von 24 Stunden auf der Image-Sharing-Plattform Flickr hochgeladen wurden. Durch die Überführung der Digitalaufnahmen ins physische Papierformat illustriert Kessel die für den Band zentrale Frage nach den kaum mehr mess- und vorstellbaren Massen der uns vorrangig im Social Web umgebenden Fotografien. Das Ziel des Bandes ist es, im Verlauf der dutzend Beiträge methodische Instrumentarien vorzustellen, die unsere digitale Bildkultur auf der Folie der Kategorien des „Maßstabs“, der „Quantität“ und der „Skalierbarkeit“ sowie in einem interdisziplinären Dialog mit der Medien- und Kulturtheorie zu verstehen suchen. Somit interessieren sich die Herausgeber des Buches weniger für die bereits in dieser Zeitschrift diskutierte Frage nach einer „Bändigung“[2] der Bilderflut, sondern vielmehr für einen produktiven Umgang mit der gegenwärtig keinesfalls mehr zu bändigenden Ubiquität digitaler Fotografien.
Die meisten Beiträge der Anthologie diskutieren die Bilderflut dabei am Beispiel eines einzelnen im Web auftretenden Phänomens. Michelle Henning etwa zeigt anhand einer Analyse der Funktionen von Emojis und Like-Buttons, dass Bilder im Social Web durch eine Feedbackkultur organisiert werden, die die sich im affektiven Umgang mit Fotografien ausdrückenden Emotionen von UserInnen für die Marktforschung und die Psychometrie vermarktet. Bilder müssen gelikt und bestenfalls mit FollowerInnen geteilt werden und werden in kontinuierliche Affektschleifen eingebunden, die paradigmatisch für die von Eva Illouz verhandelte spätkapitalistische Umkehrung von Emotionen in Waren stehen. Einen Anschluss an die von Henning beobachtete Verzahnung von Affektpolitiken und Social-Media-Fotos bietet der Beitrag von Tereza Stejskalová, der einen 2019 aufgenommenen Instagram Livestream der US-Demokratin Alexandria Ocasio-Cortez bespricht. Auf ihrem populären Instagram Account zeigte die Politikerin, unter ihren Initialen OAC bekannt, einen von ZuschauerInnen als „intim“ wahrgenommenen Einblick in ihr Privatleben, im Zuge dessen sie ihr noch unmöbliertes Apartment in die Kamera hält, von Rückschlägen spricht und sich über ihre Müdigkeit beschwert. Stejskalová argumentiert in ihrer Analyse des zwischen Authentizität und politischem Kalkül oszillierenden Livestreams von Ocasio-Cortez‘, dass dieser als Inszenierung einer zunehmend von medialen Geräten produzierten Intimität gelesen werden kann und die für den digitalen Raum charakteristische Kopplung des Privaten und Öffentlichen anzeigt. Michal Šimůnek wiederum setzt sich mit dem Phänomen der Lomographie auseinander, welches die digitale Hochglanzästhetik mittels bewusst gesetzter Unschärfen und Körnungen konterkarieren will. Šimůnek zeigt allerdings auf, dass selbst die quer zur Bilderflut stehende Bewegung der „Slow Photography“ am Ende den Rezeptions- und Verwertungslogiken des Social Web verhaftet bleibt. Der theoretisch versierteste Beitrag des Bandes ist wohl Dvořáks Exploration einer Reihe an Visualisierungspraktiken, die die Welt in ihren quantitativen Dimensionen darzustellen suchen. In seinem historischen Rundumschlag, der von der Astronomie des 17. Jahrhunderts bis zur digitalen Fotografie reicht, verfolgt Dvořák die These, dass die Fotografie das jenseits der Messbarkeit Liegende in für uns nachvollziehbare Bildordnungen übersetzen kann. Durch das ikonische Potential der Fotografie, so Dvořák, werden verschiedene Skalen des Realen „vom Subatomaren bis zum Galaktischen“ vergleichbar.
Trotz dieser Vielzahl an pointierten und für die Fototheorie wertvollen Analysen bleibt jedoch eine kritische Hinterfragung der infrastrukturellen Dimension unserer digitalen Bildkultur und damit eine programmatische Nutzbarmachung des Begriffs der „Skalierbarkeit“ für die gegenwärtige Forschung aus. Wir wissen aus der Betriebswirtschaftslehre, dass Systeme ebendann skalierbar sind, wenn sie auf einer robusten, den Gegebenheiten anpassbaren Infrastruktur basieren. In diesem Sinne kann das Konzept der Skalierbarkeit im Kontext der digitalen Bildökonomie nur dann fruchtbar gemacht werden, wenn ebenjene logistischen Spezifika in den Blick genommen werden, die derartige Bilderfluten zunächst möglich machen: Image- Sharing-Plattformen wie Instagram, Facebook oder Flickr, aber auch Rechenzentren, Cloudsysteme, Stromnetze oder Unterwasserkabel. Ein derartiger Ansatz – wie er unter anderem in Teilen von Estelle Blaschke vorgestellt wurde[3] – wäre hier wünschenswert gewesen, um die komplizierte Medienlogistik zu rekonstruieren, die die Zirkulation fotobasierter Medien überhaupt erst erlaubt. Während die Metapher der Flut ein zerfließendes und fluides Gemenge impliziert, wird die Transmission von Fotografien heute von den infrastrukturellen Bahnen des digitalen Kapitalismus gebündelt, gemanagt und verwertet. Die Frage also, was unsere foto-intensive Gegenwart skalierbar macht, ist zugunsten der vielen kultur- und medientheoretischen Exkurse der Beiträge unbeantwortet geblieben. So kann der Band dem Anspruch der Herausgeber, ein stringentes „Rahmenwerk“ zur Befragung der Skalierbarkeit unserer fotografischen Kultur darzustellen, nicht ganz gerecht werden. Vielmehr endet Photography Off the Scale dort, wo es angefangen hat: in dem Gewusel der Installation 24 hrs in photos und im Unklaren darüber, wie diese Masse an Bildern denn eigentlich unsere Screens erreicht.
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[1] Peter Szendy, Emmanuel Alloa und Marta Ponsa (Hg): The Supermarket of Images, Paris: Gallimard 2020; Lev Manovich: Cultural Analytics, Cambridge, Mass.: MIT Press 2020; Wolfgang Ulrich, Annekathrin Kohout (Hg): Digitale Bildkulturen, Berlin: Wagenbach. Die Reihe erscheint seit 2019.
[2] Jan von Brevern: Praxis und Theorie der Bilderflut, in: Fotogeschichte 38. Jg., Heft 149, S. 5–12.
[3] Siehe beispielsweise Estelle Blaschke: Image Capital, in: Still Searching, Fotomuseum Winterthur, 17.2.2021- 31.3.2021, online unter https://www.fotomuseum.ch/de/series/image-capital/, zuletzt aufgerufen am 25.1.2022.
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