Franziska Lampe
Fotokampagnen. Bilder im Einsatz
Editorial
Erschienen in: Fotogeschichte, Heft 173, 2024
Das Kompositum Fotokampagne birgt den militärisch geprägten Begriff der „Kampagne“ (frz. Land, Feldzug) in sich und macht damit gleich den historischen Boden sichtbar, auf dem solche hochkomplexen und kostenintensiven Operationen fruchten konnten. Gleichzeitig reiht es sich in eine ganze Folge von „kriegerischem Vokabular“ ein, das Fotografie und Kamera seit ihren Anfängen – und später auch in Bauweisen – begleitete: „Laden“, „Zielen“, „Schießen“.[1] Die technische Apparatur mit ihrem vermeintlich autorlosen „Pencil of Nature“ schien sich in besonderem Maße dafür zu eignen, ‚neutrale‘ Bilder im Einsatz u.a. für die Wissenschaft und Politik zu besorgen. Während das Phänomen der Fotokampagne, also das systematische Aufzeichnen mit den Mitteln der Fotografie, seit ihrer Entstehung existiert, wird der Begriff für solche Unternehmungen im deutschen Sprachgebrauch spätestens seit 1924 verwendet.[2] Ab den 1930er setzt sich die Verwendung der deutschen Bezeichnung im Zusammenhang mit nationalsozialistischer Propaganda und während des Zweiten Weltkrieges bei sogenannten „Kunstschutzkampagnen“ durch.[3]Die Fotokampagne gibt es dabei ebenso wenig, wie es die Fotografie gibt. Sie deckt verschiedenste Zeiten, Gebrauchs- und Funktionsweisen ab, genau wie diverse Materialitäten – von Papiernegativen bis zur RAW-Datei im TIF-Format – und ist in multiple Entstehungskontexte eingewoben, die gleichermaßen an so unterschiedliche Disziplinen rückgebunden sind, wie Kunstgeschichte, Archäologie, Ethnologie, Geografie oder Biologie. Fotokampagnen wurden auch als Propaganda- und Kontrollmittel in kolonialisierten Ländern eingesetzt.[4] In einem differenzierten Netzwerk von Akteur:innen wurden und werden sie geplant und ausgeführt und meist von fotografischen Anstalten oder Studios, Institutionen, Kommunen, Ländern oder Staaten finanziert. Von Anfang an war und ist eine enge Zusammenarbeit zwischen Forscher:innen und Fotograf:innen prägend für die Konzeption einer Fotokampagne.
Eine geläufige Vorstellung einer fotografischen Kampagne ist die archäologische oder kunsthistorische Fotokampagne, die zur Erforschung und systematischen Dokumentation von Kunst- und Bauwerken dient.[5] Das speziell für das Fach angefertigte Bildmaterial und die Zugänglichkeit darauf hatte enormen Einfluss auf die Methoden und Sehweisen – bis heute ist es als wissenschaftliches Werkzeug im Einsatz. Die älteste Kampagne war in dieser Hinsicht die „Mission Héliographique“, in der ab 1851 fünf Fotografen, darunter Hyppolyte Bayard, Gustave Le Gray und Henry Le Sec, durch Frankreich reisten und die bedeutendsten materiellen Kulturdenkmäler mit der Kamera dokumentierten.[6] Die Inhalte von Kampagnen spiegeln einerseits Forschungsinteressen wider, sie erschließen aber auch unerforschtes oder vom Verfall bedrohtes Terrain. Oftmals sind die in Kampagnen erschlossenen Kulturgüter die einzigen visuellen Zeugnisse: Kulturelles Erbe lässt sich nicht immer schützen. Susan Sontag beschrieb 1977 in Hinblick auf die städtebaulichen Umstrukturierungen ab Mitte des 19. Jahrhunderts in Paris, dass die Fotografie in einem Moment die Welt abzubilden begann, als sie sich rapide veränderte: „Wie die toten Angehörigen und Freunde im Familienalbum, deren Präsenz ein wenig von der Angst und Reue vertreibt, die ihr Hinscheiden ausgelöst hat, verschaffen uns Fotos von abgerissenen Stadtvierteln […] eine auf Taschenformat geschrumpfte Beziehung zur Vergangenheit.“[7] Was Sontag neben dem Betonen der Bewahrungs- und Schutzfunktion auch anspricht, ist die damit einhergehende Mobilität des fotografischen Bildes. Die Zirkulation der Bilder, die mit Fotokampagnen in einem besonderen Maße einhergeht, konfrontiert uns in Archiven und Sammlungen mit einer nachdrücklichen Verantwortung im Umgang mit den Quellen. Mit der Institutionalisierung von Fächern wie der Kunstgeschichte ging auch eine Institutionalisierung von Fotografien einher.
Wie gehen wir heute konzeptuell und materiell mit historischen und aktuellen Kampagnen um, wie mit Absenzen und Verlust? Wie kann die hegemoniale Ordnung und Deutungshoheit, die vielen Kampagnen innewohnt, in der Forschung und künstlerisch aufgebrochen werden? Welche Zugänge und Erkenntnisse ergeben sich für die Fotoforschung durch eine kritische Auseinandersetzung mit Bildern dieser spezifischen Gattung? Dabei gilt es, die Fotografien als materielle Artefakte ins Zentrum zu setzen, als reinen visuellen Informationsträger zu dekonstruieren und so für ein medienkritisches Denken und Aufarbeiten von mit Kampagnen verbundener Bildsprache einzutreten.[8] Und damit auch in den seit Jahrzehnten bestehenden Chor rund um die Durchbrechung der Transparenz des Mediums einzustimmen, in dem die Fotokampagnen bislang noch wenig beteiligt waren. Kampagnen sind sogleich durch eine gewisse Durchlässigkeit geprägt, die trotz des systematischen Grundansatzes immer wieder Raum für Zufälliges und Experimentelles bietet. Bilder, die im Zuge von Fotokampagnen hergestellt werden, treten als Masse auf, bergen aber gleichzeitig auch einen Ausdruck von individuellen Entscheidungen und Eingriffen, in denen sich das fotografische und wissenschaftliche Handwerk ihrer jeweiligen Zeit rekonstruieren lässt.
Die in diesem Themenheft versammelten Beiträge zeigen, dass die Fotokampagnen einer ganz besonderen Dialektik von Ordnungen unterliegen: der Verfügbarkeit und Limitation, der Markierung und Isolation, der Sichtbar- und Unsichtbarmachung sowie der politischen Instrumentalisierung und kulturellen Popularisierung. Mit den nach Plan hergestellten Bildkonvoluten ging eine Idee einer weitreichenden Konstruktion von Wirklichkeit und eine Strukturierung von Sehweisen einher, die sich bis heute in die Foto-Objekte eingeschrieben haben: „Bilder zeigen nicht nur das, was sie zeigen, sondern auch, wie sie zeigen, was sie zeigen […].“[9] Fotokampagnen können nicht ohne eine differenzierte Betrachtung ihrer ideologischen Entstehung und politischen Dimension analysiert werden.[10] In ihrer historischen Dimension sind sie in einem hohen Maße mit Prozessen der Nationsbildung verbunden und verweisen dabei gleichzeitig auf die Utopie einer enzyklopädischen Vermess- und Erfassbarkeit der Welt, die mit dem Medium verbunden war.[11] Die Beiträge dieses Hefts nehmen komplexe Entstehungs- und Verwertungskontexte von in Kampagnen entstandenem Bildmaterial in den Blick und legen damit letztlich auch ein fotografisches Wettrüsten des Zeigens, Verzeichnens und Aneignens offen.
Vier Beiträge, die thematisch sehr unterschiedlich ausgerichtet sind, kreisen um eine großzügig angelegte Zeit um 1900 und sind vor diesem Hintergrund durchaus vergleichbar: Ute Dercks kontextualisiert und analysiert Fotokampagnen aus der Zeit der urbanistisch und stadtgesellschaftlich bedeutenden Umstrukturierung in Florenz, Lucia Halder und die Künstlerin Kiri Dalena setzen sich in einem experimentellen Dialogformat mit dem visuellen und materiellen Erbe von Kolonialkampagnen (und deren bis heute andauernden Nachwirkungen) auseinander. Franziska Lampe behandelt den Wettkampf um Reproduktionen in Museumskampagnen am Beispiel des Bruckmann Verlags. Und Franziska Scheuer stellt die frühen von Albert Kahn in Farbe aufgenommen Kampagnen vor, die der utopischen Idee folgten, den gesamten Planeten in Bildern zu zeigen. Hubert Locher geht hingegen einer zeitgeschichtlichen Fährte nach und diskutiert das schwierige Erbe von Fotokampagnen nach dem Zweiten Weltkrieg. Ein Gespräch mit dem Kampagnen-Team von Foto Marburg thematisiert schließlich die Praxis und Herausforderungen des Hier und Jetzt und wagt einen orakelnden Blick in die Zukunft mit dem Umgang von (digitalen und analogen) Fotokampagnen. An das Ende dieses Themenheftes ist bewusst eine Art aktueller Gegen-Blick gesetzt. Während es in allen bisherigen Beiträgen um das Erfassen, Einfangen und Abbilden ging, blicken wir in den Fotografien des ukrainischen Fotografen Yurii Stefanyak auf leere Museumswände und Vitrinen – und damit in die Gegenwart. Die Kunstobjekte wurden zum Schutz vor Bombenangriffen im russischen Angriffskrieg evakuiert.[12]
Die Beiträge dieses Heftes möchten zu weiteren Forschungen einladen und machen deutlich, dass die ‚klassischen‘ kunsthistorischen Fotokampagnen nicht in einem luftleeren Raum entstanden sind, sondern in einem wechselnden gesellschaftlichen und politischen Umfeld zu situieren sind, der die Verwendungsweise der Bilder und eine damit verbundene Historizität des Sehens wesentlich mitbestimmte. Je nach Perspektive und Anliegen bewegten und bewegen sich Fotokampagnen zwischen Kanon, Kommerz und Kritik, zwischen methodischem Instrumentarium und Dokumentation, zwischen dem Anspruch nach Demokratisierung und Popularisierung auf der einen Seite, oft aber auch Gewalt und Exzess auf der anderen Seite.
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[1] Thilo König: Das kriegerische Vokabular der Fotografie, in: Fotogeschichte, 12. Jg., 1992, Heft 43, S. 39–48, hier S. 40.
[2] Ute Dercks: Wenn das Sammeln zur „fixen Idee“ wird. Die frühen Fotokampagnen des Kunsthistorischen Instituts in Florenz, in: Rundbrief Fotografie, Jg. 22, 2015, Heft 2, S. 7–18, hier S. 12. Der damalige Direktor des KHI, Heinrich Bodmer, verwendet in einem Brief in deutscher Sprache den Terminus ‚campagna fotografica‘. Im Französischen und Englischen tauchen die Begriffe ‚campagne photographique‘ bzw. ‚photographic campaign‘ ab dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts auf, vgl. u.a. Th. Bemfield: Revue de Photographie, in: Le moniteur scientifique de Quesneville, 1860, S. 923–926, hier 925 oder Charles A. Young: Astronomical Photography, in: The New Princeton Review, Januar 1887, Nr. 1, S. 334–369, hier S. 363.
[3] Vgl. Christian Fuhrmeister, Stephan Klingen, Iris Lauterbach, Ralf Peters (Hg.): „Führerauftrag Monumentalmalerei“. Eine Fotokampagne 1943–1945, Köln 2006; Christian Fuhrmeister, Johannes Griebel, Stephan Klingen, Ralf Peters (Hg.): Kunsthistoriker im Krieg. Deutscher Militärischer Kunstschutz in Italien 1943–1945, Köln 2012; Susanne Dörler: Fotokampagnen des Bildarchivs Foto Marburg für den Kunstschutz im Zweiten Weltkrieg. Geschichte und Quellenlage, in: Hans Werner Langbrandtner, Esther Hexer, Florence de Peronnet Dryden (Hg.): Kulturgutschutz in Europa und im Rheinland. Franziskus Graf Wolff Metternich und der Kunstschutz im Zweiten Weltkrieg, Köln 2021.
[4] Vgl. Hanin Hannouch (Hg.): Gabriel Lippmann’s colour photography: science, media, museums, Amsterdam 2022.
[5] Das Deutsche Dokumentationszentrum für Kunstgeschichte – Bildarchiv Foto Marburg, das Kunsthistorische Institut in Florenz oder die Bibliotheca Hertziana in Rom sind nicht nur den historischen Kampagnen verpflichtet, sondern in hohem Maße mit der Organisation und Produktion von aktuellen Kampagnen betraut. Vgl. Angela Matyssek: Kunstgeschichte als fotografische Praxis. Richard Hamann und Foto Marburg, Berlin 2008; Dercks, (wie Anm. 2); Online-Ausstellung der Photothek des Kunsthistorischen Instituts in Florenz – Max-Planck-Institut, 2023: Palazzo Buontalenti. Eine Fotokampagne, https://photothek.khi.fi.it/documents/oau/00000316 (Zugriff: 12.6.2024); Ute Dercks: „Sie ist eine sehr gute Photographin“. Le campagne fotografiche a Firenze, in: Federica Kappler, Corinna Lotz (Hg.): Hilde in Italia. Arte e vita nelle fotografie di Hilde Lotz-Bauer, Ausst.-Kat. Rom, Rom 2024, S. 138–167; https://www.biblhertz.it/de/photographic-collection/photo-campaigns (Zugriff: 12.6.2024). Zu frühen Fotokampagnen in Museen siehe: Dorothea Peters: Reproduced Art. Early Photographic Campaigns in European Collections, in: Andrea Meyer, Benedicte Savoy (Hg.): The Museum is Open. Towards a Transnational History of Museums 1750–1940, Berlin 2013, S. 45–57.
[6] Anne de Mondenard: La Mission Héliographique. Cinq photographes parcourent la France en 1851, Paris 2002.
[7] Susan Sontag: In Platos Höhle, in: dies.: Über Fotografie, Frankfurt 1980 (Originalausgabe 1977), S. 9–30, hier S. 21-22.
[8] Elizabeth Edwards, Janice Hart (Hg.): Photographs Objects Histories. On the Materiality of Images, London u.a. 2004; Julia Bärnighausen, Costanza Caraffa, Stefanie Klamm, Franka Schneider, Petra Wodke (Hg.): Foto-Objekte. Forschen in archäologischen, ethnologischen und kunsthistorischen Archiven, Bielefeld/Berlin 2020.
[9] Lambert Wiesing: Phänomene im Bild, München 2000, S. 15.
[10] Annette Vowinckel: Agenten der Bilder. Fotografisches Handeln im 20. Jahrhundert, München 2016; Kevin Coleman, Daniel James (Hg.): Capitalism and the Camera. Essays on Photography and Extraction, London, New York 2021.Tulga Beyerle, Esther Ruelfs, Boaz Levin (Hg.): Mining Photography. Der ökologische Fußabdruck der Bildproduktion, Ausst.-Kat. Hamburg, Wien, Winterthur, Leipzig 2022;
[11] Vgl. Costanza Caraffa, Tiziana Serena (Hg.): Photo Archives and the Idea of Nation, Berlin 2013.
[12] Siehe in diesem Kontext auch das aktuelle Engagement von Foto Marburg „Fotografische Dokumentation kriegsbedrohter Bauwerke in der Ukraine“, www.uni-marburg.de/de/fotomarburg/forschung/abgeschlossen/documenting-ukrainian-cultural-heritage-iii (Zugriff: 12.6.2024) bzw. des Ukraine Art Aid Centers, www.dug-ww.com/Kulturgutschutz_Ukraine (Zugriff: 12.6.2024) oder die ukrainische Initiative bzw. des Ukraine Art Aid Centers, die ukrainische Initiative von Skeiron, die Kulturgüter und -denkmale mithilfe von Drohnenfotografie in 3D scannt, https://skeiron.com.ua (Zugriff: 12.6.2024).
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