Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie

hg. von Dr. Anton Holzer

Anton Holzer

Künstlerinnen im Blick

Frauennetzwerke in der Wiener Zwischenkriegszeit

Elana Shapira, Anne-Katrin Rossberg (Hg.): Gestalterinnen. Frauen, Design und Gesellschaft im Wien der Zwischenkriegszeit, mit Beiträgen von Elan Shapira, Sophie Lillie, Lena Krautgartner, Megan Brandow-Faller, Anne-Katrin Rossberg, Michael Hölters, Ursula Prokop, Magdalena Vuković, Kathrin Pokorny-Nagel, Angela Völker, Sabine Plakolm-Forsthuber, Christopher Burke, Günther Sandner und Ulrike Krippner,Berlin/Boston: De Gruyter, 2023, 24 x 17 cm, 248 S., zahlreiche Abb. in Farbe und S/W, broschiert, 59,95 Euro. Open Access: https://doi.org/10.1515/9783110771947

 

Erschienen in: Fotogeschichte, Heft 172, 2024

 

Dass die Fotografie als Hervorbringung eines oder einer Einzelnen gilt, war in der Frühzeit des Mediums alles andere als ausgemacht. Auch wenn die fotografischen Ateliers im 19. Jahrhundert häufig unter einem konkreten Namen firmierten, war die Arbeit hinter den Kulissen weitgehend kollaborativ. Obwohl also das Fotografieren in den fotografischen Ateliers sehr lange eine ausgesprochene Teamarbeit war, bildete sich seit dem Ende des 19. Jahrhunderts dennoch ein neues öffentliches Profil des Fotografen/der Fotografin heraus, das vor allem das Individuelle der Bildleistung betonte. Diese Entwicklung hat viele Ursachen, sie erfolgte jedenfalls im Windschatten der zunehmenden künstlerischen Adelung des Mediums seit der Wende zum 20. Jahrhundert, aber gewiss auch infolge der kommerziellen Zuspitzung des fotografischen Vertriebs auf einen Markennamen (und damit verbunden des Urheberrechts, das um 1900 die Ansprüche am Bild zunehmend personalisierte).

Unterstützt wurde diese Sicht auf die Fotografie auch von einem bestimmten Zuschnitt des Ausstellungswesens, das – vor allem im künstlerischen Bereich – über weite Strecken monografisch arrangierte und argumentierte. Aber auch im Bereich der Fotoforschung und der Fotografiegeschichte setzte sich, nach den frühen technikhistorischen Interpretationen, zunehmend die Perspektive einer angeblich individuellen künstlerischen Leistung durch. Erst in den letzten Jahren ist diese Fiktion einer scheinbar singulären fotografischen Autorschaft wieder stärker hinterfragt worden und die Fotografie als arbeitsteiliges Verfahren ein Stück weit rehabilitiert worden (vgl. das von Paul Mellenthin herausgegebene Themenheft der FotogeschichteKritik der Autorschaft. Fotografie als kollektives Unternehmen“ (Heft 168, 2023).

Im Folgenden soll eine Publikation vorgestellt werden, die die Einengung auf die scheinbar isolierte und individuelle künstlerische Leistung grundlegend in Frage stellt und stattdessen nach den kollektiven Mustern fragt, innerhalb derer kulturelle Hervorbringungen entstanden und weiterentwickelt wurden. Die Kategorie „Biografie“ wird freilich nicht gänzlich über Bord geworfen, sondern durch eine kluge kulturelle „Netzwerkanalyse“ ergänzt. Bereits der Buchtitel „Gestalterinnen“ weist auf die folgenreiche Verschiebung der Perspektive vom Individuellen hin zum Kollektiven hin. Dazu kommt noch eine weitere Akzentverschiebung, die den Mainstream der bisherigen Forschung konterkariert. Die einzelnen künstlerischen Tätigkeiten werden nicht isoliert betrachtet, sondern bewusst in breitere kulturelle Strömungen eingebettet, die ganz unterschiedliche Tätigkeiten und Aspekte umfassen, von der Fotografie über das Design, die Architektur, die Grafik bis hin zur angewandten Kunst in all ihre Facetten (von der Textilkunst über die Keramik bis zur Gartenkunst). Und noch ein dritter Punkt wird bereits im Untertitel der vorliegenden Publikation betont: dass nämlich in der vorliegenden Betrachtung Kultur und Gesellschaft bzw. Politik auf vielfältige Weise miteinander verknüpft sind. Erprobt wird diese Forschungsperspektive am Beispiel der Kultur von Frauen in der Wiener Zwischenkriegszeit. Präsentiert werden die Arbeiten u.a. folgender Künstlerinnen: Emilie Flöge, Mathilde Flögl, Jacqueline Groag, Fanny Harlfinger-Zakucka, Yella Hertzka, Else Hofmann, Hilda Jesser, Maria Likarz, Madame d'Ora, Pauline Metternich-Sándor, Bertha Pappenheim, Marie Reidemeister-Neurath, Lisl Weil, Vally Wieselthier, Helene Wolf und Berta Zuckerkandl. Viele weitere, darunter auch zahlreiche Fotografinnen, werden gestreift. Das eingangs geforderte dezidiert interdisziplinäre Vorhaben wird nicht in allen Texten des Sammelbandes gleichermaßen konsequent durchgehalten, oft stehen die einzelnen Beiträge recht unvermittelt neben- und hintereinander. Man merkt etlichen der Texte durchaus an, dass sie – offenbar kaum bearbeitet und mit den anderen Beiträgen abgestimmt – direkt aus der gleichnamigen Tagung am Museum für angewandte Kunst (MAK) im September 2021 hervorgegangen sind. Diese Veranstaltung fand im Rahmen der MAK-Ausstellung „Frauen der Wiener Werkstätte“ (5. Mai bis 3. Oktober 2021) statt.

Obwohl einige der Texte – entgegen des in der Einleitung formulierten Anspruchs – den Blick dennoch sehr stark auf das Singulär-Biografische verengen, gelingt es der Publikation dennoch, bisher wenig bekannte Netzwerke, Verbindunglinien und kulturelle Zusammenhänge aufzuzeigen, die in der herkömmlichen, meist monodisziplinär eingeengten und monografisch orientierten Forschung oft nicht sichtbar werden (können). In einigen der Texte wird umfassend dargestellt, wie sehr die Arbeiten einzelner künstlerisch tätiger Frauen erst im breiteren Kontext weit verzweigter Kunst- und Kulturnetzwerke zu erfassen sind. Besonders anschaulich werden die vielschichtige kulturelle Vernetzung und der kapillare Austausch zwischen den Künstlerinnen im Beitrag von Ursula Prokop dargestellt, der das künstlerische Umfeld der Textilkünstlerin Hilde Blumberger (die später im Exil als Jacqueline Groag international bekannt wurde) auslotet. In ihrem künstlerischen Freundeskreis bewegten sich auch zahlreiche Fotografinnen, etwa die Schwägerin Blumbergers, Marianne Blumberger (verh. Bergler), ihre Arbeitspartnerin, die Fotografin Annie Schulz, die Journalistin Else Hofman, die Fotografin Trude Fleischmann und viele andere. Aber auch zahlreiche männliche Künstler verkehrten in diesen Jahren in den skizzierten Frauennetzwerken, ein Aspekt der ebenfalls noch genauer untersucht werden sollte.

Die Wiener Kultur der Jahrhundertwende galt (und teilweise gilt das immer noch) in der angelsächsischen Forschung als überaus positiv konnotierte Epoche, die Zeit um und nach 1900 wurde oft geradezu als prototypische Zeit der Innovation, als sprühendes Eldorado eines interdisziplinär angelegten künstlerischen Fortschritts betrachtet. In eingeschränktem Maße gilt das auch noch für die Wiener Kultur der Zwischenkriegszeit, die in den letzten Jahren sehr intensiv erforscht wurde. Zwar segelt die vorliegende Publikation ebenfalls ein wenig in diesem Fahrwasser der Faszination, aber in durchaus kritischer Weise. Ausführlich thematisiert werden in der Publikation auch die zahlreichen durch politische Repression (die austrofaschistische, vor allem aber nationalsozialistische Verfolgung) unterbrochenen Lebensläufe, die viele Künstlerinnen jüdischer Herkunft ins Exil zwang, die Karrieren unter- und zerbrach. Manche der im Buch vorgestellten Künstlerinnen gelang ein oft nur notdürftiges, oft aber auch ein überaus eindrucksvolles Comeback in der Emigration, andere, wie etwa die Designerin der Wiener Werkstätte Mathilde Flögl, deren künstlerische Biografie Michael Hölters eindrucksvoll rekonstruiert, zerbrach an harschen Klippen der Institutionen und an den viele Hürden ihrer langen beruflichen Odyssee, die ihr am Ende viel Einsamkeit und sehr wenig künstlerische Anerkennung einbrachte.

Auch wenn die Netzwerke und Verbindungen zwischen den Wiener Künstlerinnen der Zwischenkriegszeit in diesem Band nur beispielhaft dargestellt werden, öffnen die Texte dennoch ein Fenster für weitere Studien, in denen zusätzliche Themen und Aspekte vertieft werden können. Das umfangreiche Register, das den Band abschließt, ist, wenn man es mit Leben – also biografischen und beruflichen Verbindungslinien, etwa Freund- und Bekanntschaften, Konkurrenzsituationen, Liebesgeschichten, Heiraten, Kooperationen, Festen usw. – füllt, ein auf wenigen Seiten kondensiertes Abbild der im Buch untersuchten Netzwerke. Dieses Register wird zweifelsohne noch weit umfangreicher werden, wenn weitere Forschungen zum Thema vorliegen.

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