Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie

hg. von Dr. Anton Holzer

Anton Holzer

Theorie der Fotografie x 5

Ein großes Editionsprojekt und seine Geschichte

Peter Geimer (Hg.): Theorie der Fotografie, Band V, 1995–2022, München: Schirmer/Mosel 2023, 450 S., 24 x 17 cm, Abb. in S/W, gebunden mit Schutzumschlag, 58 Euro.

Wolfgang Kemp, Hubertus von Amelunxen (Hg.): Theorie der Fotografie, Band I–IV, 1939–1995, komplett in einem Band, München: Schirmer/Mosel, 1.296 S., 24 x 17 cm, gebunden mit Schutzumschlag und im Schuber, 78 Euro.

 

Erschienen in: Fotogeschichte, Heft 172, 2024

 

Eine Buchreihe wird vom Verlag häufig dann in einen Schuber gesteckt, wenn sie als abgeschlossen erachtet wird. Das ist etwa bei literarischen Werkausgaben der Fall, die oft dann erscheinen, wenn die Autorin oder der Autor bereits verstorben ist und das Werk abgeschlossen und im Archiv (weitgehend) zugänglich ist. Wenn dieser Befund auch für den außerliterarischen Bereich stimmen sollte, wäre die Theorie der Fotografie, die seit 1979 im Münchner Verlag Schirmer/Mosel erscheint, im Jahr 2000 abgeschlossen gewesen. Denn in diesem Jahr erschien eine gesammelte Ausgabe der bisher erschienenen Bände im Schuber. Diese Edition umfasste allerdings nicht nur die ursprünglich drei geplanten Bände, die von Wolfgang Kemp zwischen 1979 und 1983 in rascher Folge herausgegeben worden waren, sondern noch einen vierten, von Hubertus von Amelunxen edierten Band, der im Jahr 2000 erschien.

Diese vierbändige Ausgabe der Theorie der Fotografie umfasste die Epochen 1839–1912 (Band 1), 1912–1945 (Band 2), 1945–1980 (Band 3) und 1980–1995 (Band 4). 2006 erschienen diese vier Bände zusammengefasst in einer einzigen, 1.296 Seiten umfassenden Publikation, die die 175 bisher erschienenen Essays zusammenfasste. Diese Ausgabe bildete so etwas wie den gewichtigen, etliche Kilo schweren vorläufigen Schlussstein der mittlerweile fast drei Jahrzehnte alten Buchreihe. Doch es folgte eine neuerliche Erweiterung. Die jüngsten Debatten der Fototheorie wurden 2023, gut zwei Jahrzehnte nach dem Erscheinen des vierten Bandes, in einem fünften Band zusammengefasst, der von Peter Geimer konzipiert und herausgegeben wurde. Dieser vorläufig letzte Band der Theorie der Fotografie bündelt 45 Essays aus den Jahren 1995 bis 2022 und umfasst 450 Seiten. Damit wird das gesamte Kompendium zur Geschichte der Fototheorie auf insgesamt 1.746 Seiten erweitert.

Ist die Edition damit endgültig abgeschlossen? Nein, keineswegs, denn die Theorieentwicklung der Fotografie geht munter weiter, es ist also durchaus denkbar, dass irgendwann weitere Ausgaben folgen werden. Ob diese wiederum im Buchform erscheinen und klassisch im Schuber untergebracht werden oder nicht, bleibt offen. Wir nehmen das Erscheinen des vorläufig letzten Bandes zum Anlass, nicht nur die lange Editionsgeschichte dieses umfassenden Werks Revue passieren zu lassen, sondern auch zu fragen, in welchem gesellschaftlichen und publizistischen Umfeld und in welchem theoretischen Rahmen dieses Großwerk zusammengestellt wurde und wird und welche Wirkung es bis heute entfaltete. Eines steht zweifelsfrei fest: Die Theorie der Fotografie war, zumindest im deutschsprachigen Raum, ein in der Fotoszene, teilweise aber auch darüber hinaus, enorm einflussreiches Werk. Generationen von Fotohistoriker:innen und Theoretiker:innen haben in den letzten Jahrzehnten, vor allem von den 1980er bis in die frühen 2000er Jahre, daraus zitiert und Texte, Positionen und Debatten referiert. An sehr vielen Universitäten und Hochschulen ist das mehrbändige Werk zu finden: in Universitäts- und Fachbibliotheken, in Handapparaten und in Leselisten.

Begonnen hat die Editionsgeschichte der Theorie der Fotografie in den späten 1970er Jahren in einem gesellschaftlichen Umfeld, in dem die Fotografie und ihre Geschichte eine verstärkte museale und publizistische Aufmerksamkeit erlangte. In den frühen 1970er Jahren wurden in Deutschland erste Galerien und temporäre Ausstellungsräume gegründet, die sich ausschließlich mit der Fotografie beschäftigten. Nach und nach begannen auch die alteingesessenen Museen ihren Blick verstärkt auf das Medium zu lenken und Ausstellungen zur dokumentarischen und künstlerischen Fotografie zu zeigen. Auch im Verlagsbereich entstanden in den späten 1970er und in den 1980er Jahren neue Fotoschwerpunkte. Etablierte Häuser wie DuMont, Hatje (Cantz), C. J. Bucher und andere räumten der Fotografie mehr Platz als bisher ein, aber auch Neugründungen wie der Münchner Verlag Schirmer/Mosel, der 1975 seine Buchpublikation begann oder der kleine Berliner Nishen Verlag, der ab 1982 Fotobücher auf den Markt brachte, sorgten für frischen Wind in der Szene und brachten fotografische und fotohistorische Themen in die Öffentlichkeit. Dazu kamen in den späten 1970er und frühen 80er Jahren erstaunlich viele Neugründungen im Zeitschriftenbereich. Neben der 1981 gegründeten Fotogeschichte kamen in diesen Jahren weitere (zum Teil kurzlebige) Periodika zur Fotografie auf den Markt, print letter und Volksfoto 1976, Photographie 1977, Camera Austria 1980, der kairos der fotografie 1984, Fotografie und Gesellschaft sowie Rundbrief Fotografie 1989, um nur einige zu nennen.

Mitten in dieser Aufbruchsbewegung entstand, in enger Abstimmung zwischen dem jungen, zuerst in Bonn, dann in Kassel lehrenden Wolfgang Kemp und dem Münchner Verleger Lothar Schirmer (beide waren Ende der 1970er Jahre Anfang 30), die Idee, im Verlag Schirmer/Mosel eine fundierte, breit angelegte und kommentierte Sammlung von zentralen theoretischen Texten zur Fotografie zusammenzustellen. Und weil der Tatendrang groß war, sollte diese Edition nicht auf den deutschsprachigen Raum und auf die Gegenwart beschränkt bleiben, sondern international angelegt sein und gleich die gesamte Geschichte der Fotografie von den Anfängen bis „heute“ umfassen. Eine Herkulesaufgabe, wie sich bald herausstellte. Die Recherchen, die noch lange vor der Ära des Internets erfolgten, gestalteten sich vor allem für den ersten Band, der schwerpunktmäßig das 19. Jahrhundert zum Thema hatte, schwierig. „Das Fehlen einer zentralen Bibliothek für Fotografie in der Bundesrepublik machte sich schon bei der Erfassung und Besorgung der deutschsprachigen Literatur als äußerst hinderlich bemerkbar“, schrieb Kemp im Vorwort des ersten Bandes. Und weiter klagte er: „Fremdsprachige Werke des Zeitraums bis 1912 hier zu erhalten, erwies sich als so gut wie unmöglich. In einer kritischen Phase der Vorbereitung, als durch das Ausfallen wichtiger Forschungsstätten im Ausland ein rechtzeitiges Erscheinen des Bandes in Frage stand, öffnete mir Jeff Cassey den Zugang zu den unschätzbaren Zeitschriftenbeständen der Kodak Research Library in Harrow, Middlesex.“ Die potentiellen Auswahltexte mussten damals brieflich in Form von Fotokopien von Land zu Land, von Kontinent zu Kontinent geschickt werden, eine Arbeitsweise, die der gegenwärtigen wissenschaftlichen Community wie eine Erinnerung aus grauer Vorzeit erscheinen muss. Es ist vor dem Hintergrund dieser Arbeitsbedingungen nicht weiter verwunderlich, dass sich die Textauswahl der ersten drei Bände der Theorie der Fotografie im Wesentlichen auf den deutschsprachigen, französischen und angelsächsischen Bereich beschränkte, einen kulturellen Raum, der (auch sprachlich) am leichtesten zugänglich war und für den es teilweise auch Vorarbeiten in Form von Anthologien oder Reprints historischer Texte gab. Die Ausflüge in andere Länder, etwa nach Italien oder die Tschechoslowakei (der Zwischenkriegszeit), blieben die Ausnahme, Russland, Asien, Afrika, Südamerika und Australien blieben gänzlich ausgespart.

Das Ziel der ambitionierten Edition war es, einen breiten Querschnitt fototheoretischer Positionen vorzustellen und mit dem dritten (und vorläufig letzten) Band in der damaligen Gegenwart anzukommen. Als Epochengrenze ist daher im dritten Band das Jahr 1980 genannt. Wolfgang Kemp schickte jedem der drei Bände eine lange und fundierte Einleitung voraus, die – oft mehr noch als die Summe der historischen Texte – die fotohistorische und theoretische Perspektive kenntlich macht, die die Auswahl geleitet hat. Diesem Vorbild blieben auch seine beiden Nachfolger treu, auch sie leiteten die jeweiligen Bände mit einer umfangreichen Einführung ein, die mehr ist als eine bloße Hinführung zu den Texten, sondern der Versuch, die Theorieentwicklung der vergangenen Epoche einzuordnen und verständlich zu machen.

Wolfgang Kemp hat in der Einleitung zum ersten Band (ein wenig enttäuscht?) diagnostiziert, dass die Theorieentwicklung der Fotografie „wenig Höhepunkte und wenig mittlere Gipfel über einem unsäglich flachen und niederen Normalniveau“ kennt. Nach der theoretischen „Durststrecke“ des 19. Jahrhunderts hat, so Kemp, die Zwischenkriegszeit mit ihren flammenden Apellen und pointierten Kampfschriften für mehr rhetorische und denkerische Abwechslung im Fluss der Foto-Theorie gesorgt, aber bereits die Zeit nach 1945 hat die höheren Gipfel (um im Bild Kemps zu bleiben) wieder abgeflacht. Denn, so der Herausgeber, die orientierende Rolle der großen und oft abstrakten Leitbegriffe wie Kunst, Technik, Natur, Realität oder Sehen hätten in den letzten Jahrzehnten deutlich an Bedeutung verloren. Stattdessen wurde, so seine These, die Fotografie nach der Mitte des 20. Jahrhunderts zunehmend zum „Medium“. Wenn sich, so Kemp, ein neuer Leitbergriff hat etablieren können, dann jener der „Kommunikation“, der die Eigenheit hat, dass die Fotografie zum Werkzeug wird und stärker in den Hintergrund tritt.

Kemp referiert im dritten Band u.a. auch die großen theoretischen Beiträge, die in den 1960er und 70er Jahren entwickelt wurden, von Barthes über Bourdieu, von Sontag bis Kozloff, von Kracauer bis Snyder, Texte, die teilweise auch heute noch zum Kanon der Fototheorie gehören. Die postmoderne Theorieproduktion, die in den 1980er Jahren, vor allem von Frankreich aber auch den USA her kommend, in die deutschen Theoriedebatten Einzug hielt (und die weit über die Fotoszene hinaus rezipiert wurden), thematisiert Kemp im dritten Band, der 1983 erschien, noch nicht. Es ist dem vierten, nunmehr von Hubertus von Amelunxen im Jahr 2000 herausgegebenen Band der Theorie der Fotografie vorbehalten, diese poststrukturalistischen Strömungen, die das Bild der Fotografie in den beiden ausgehenden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts nachhaltig geprägt haben, in aller Breite vorzustellen und in der Einleitung auch theoretisch einzuordnen. Die geografische Reichweite der Erkundungen folgt im vierten Band im Wesentlichen jener von Kemp, es kommen also Texte aus dem deutschen, französischen, angelsächsischen (und nunmehr verstärkt, auch aus dem italienischen) Raum vor.

So wie Kemp bereits im dritten Band den Verlust der großen tragenden Theoriekonzepte diagnostiziert hatte, so bringt auch Amelunxen die Theoriediskussion der 1980er und 90er Jahre nicht mehr auf einen Nenner, konzediert aber doch, dass es eine Art roten Faden gebe, der sich durch die Theoriedebatten der letzten beiden Jahrzehnte gezogen habe: nämlich jenen einer Diskursanalyse der Fotografie. Die Haptik der Fotografie, das konkrete, fass- und handhabbare Medium, scheint sich im poststrukturalistischen Rausch der Zeichen und in der Abstraktion des Kontextes weitgehend zu verflüchtigen. Was bleibt, ist, so Amelunxen, „ein Spiel von Korrespondenzen“. Die Bedeutungen der fotografischen Bilder geraten, derart konzeptualisiert, ins Wanken und bewegen sich „vom Diskurs zum Bild oder vom Bild zum Diskurs“. Die Gemeinsamkeit, die der Herausgeber in den versammelten Schriften des vierten Bandes sieht, ist denkbar allgemein und offen (wenn nicht schwammig) gehalten: Die Texte der Ausgabe vereine, so der Herausgeber, der „Versuch, Orte der Repräsentation, zu denen das fotografische Bild und die medientechnische Verankerung der Fotografie das menschliche gefügt hat, am Ende des 20. Jahrhunderts zu denken.“

Die großen Leitbegriffe der Fotografie, die bereits in der Nachkriegszeit verräumt worden waren, haben auch für die letzten beiden Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts ausgedient. Was übrig bleibt, sind Begriffe wie „Diskurs“, „Differenz“, „Referent“, „Dispositiv“ und „Kontext“ (um nur einige wenige zu nennen), die die Fotografie häufig zu einer Art Spielball kultureller Bedeutungen machen. Das Hauptaugenmerk der Fototheorie liegt, aus dieser Perspektive betrachtet, nicht in der Analyse konkreter Bilder (manche Fototheoretiker:innen dieser Jahre haben nie oder kaum selbst im Archiv oder mit konkreten Fotosammlungen gearbeitet), sondern in deren Interpretation in einem größeren kulturellen Rahmen.

Der fünfte, 2023 erschienene und von Peter Geimer zusammengestellte Band der Theorie der Fotografie folgt nicht nur in der Konzeption und im Aufbau der von Kemp initiierten und von Amelunxen fortgeschriebenen Struktur. Auch er beginnt die Zusammenstellung der Texte mit einer langen Einleitung (aber ohne Vorwort), die versucht, theoretische Ordnung in das kaum mehr überblickbare Dickicht der internationalen Theorieentwicklung zu bringen. Im Zeitalter des Internets sind zwar die Beschaffungsprobleme der Texte um einiges kleiner geworden, aber die Schwierigkeit der Auswahl, die schon Kemp angesprochen hatte, sind deswegen nicht geringer, sondern sogar noch größer geworden. „Je näher (…) die Texte der Gegenwart rücken, desto schwieriger gestaltet sich ihre Auswahl. Schon rein quantitativ steht man hier einer weitgehend ungefilterten Vielzahl an Publikationen gegenüber. Zudem tendiert im Fall der jüngsten Texte die historische Distanz gegen Null. Das gilt vor allem für die Auseinandersetzung mit den aktuellsten medientechnischen Entwicklungen.“

Gemeint sind die enormen Auswirkungen des Internets auf die Erscheinungsweisen und die sozialen und kommerziellen Gebrauchsweisen der Fotografie, die im vierten Band von Amelunxen nur gestreift worden waren. Nun aber, im beginnenden 21. Jahrhundert, werden sie zu einem der zentralen Themen der Fototheorie. Im Abstand von etlichen Jahren erweist sich die Bestimmtheit, mit der um das Jahr 2000 eine tiefe Zäsur zwischen der scheinbar untergehenden analogen Ära und der heraufdämmernden digitalen Zeit postuliert und theoretisch ausgedeutet wurde, als zu kurz gegriffen. Geimer zeigt mit seiner Auswahl, wie sehr in der Fotografie Begrifflichkeiten von der analogen in die digitale Zeit übernommen wurden, auch wenn sich die Kontexte des fotografischen Gebrauchs grundlegend geändert haben.

Die Grenzen des Fotografischen, konstatiert Geimer, sind am Beginn des digitalen Zeitalters noch fluider und konturloser geworden als im 20. Jahrhundert, als der analoge Charakter des Mediums der permanenten medialen Transformation noch Grenzen setzte. Auch die Grenzen zwischen unterschiedlichen Bildmedien (etwa der Fotografie in all ihren Ausprägungen, dem Video oder der Computergrafik) sind, so der Herausgeber, so durchlässig geworden, dass das Vorhaben, eine reine Theorie der Fotografie zu rekonstruieren, ein wenig anachronistisch anmutet. Da es den Rahmen dieser Anthologie sprengen würde und einzelne Beiträge sehr wohl Blicke in die „Gärten der medialen Nachbarn“ wagen, blieb die Struktur der vor Jahrzehnten konzipierten Textsammlung erhalten und der Fokus auf die Fotografie blieb weiterhin im Zentrum der Publikation.

Peter Geimer kommt in seiner Einleitung auf das Dilemma zu sprechen, dass die Theorieentwicklung dem technischen Fortschritt, aber auch den medialen Praktiken zwangläufig hinterherhinkt. Die Theorie reagiert relativ langsam auf den immer schneller werdenden medialen Galopp. Und auch die Rezeption der Theorie hinkt der Entwicklung hinterher, zumal dann, wenn sie, wie hier, in Buchform erscheint. In diesem Format ist das Zuspätkommen geradezu vorprogrammiert. Das kann man schon daran erkennen, dass just im Jahr 2023, in dem die Buchausgabe erschien, die Entwicklungen im Bereich der KI die Fotografie und ihre Gebrauchsweisen (aber auch viele andere Bereiche der Kultur und der Technik) grundlegend zu verändern begannen. In der Theorieproduktion ist dieser Epochenbruch erst zögerlich angekommen, in der von Geimer zusammengestellten Textauswahl fehlt das Thema ganz, denn Bücher haben eine lange Vorlaufzeit (die Publikation wurde bereits 2022 angekündigt). Aber es ist ohnehin müßig, einer Anthologie, die ihrem Anspruch nach länger haltbare Theoriepositionen versammeln will, vorzuwerfen, dass die Analyse der Gegenwart zu kurz kommt.

Am Ende dieser langen Rückschau sollte man vielleicht eine Art vorläufige Bilanz ziehen. Die – inzwischen auf fünf Bände angewachsene – Theorie der Fotografie istohne Zweifel ein großes, verdienstvolles und überaus wichtiges Werk. Weiterhin wird diese umfangreiche Edition theoretischer Positionen in sehr vielen Bibliotheken stehen und als zentraler Referenzpunkt für fototheoretische Debatten dienen. Und dennoch: Trotz aller Klugheit und Akribie in der Zusammenstellung, Kommentierung und Einleitung scheint die enorme Strahlkraft, die die Theorie der Fotografie in den 1980er und 90er Jahren noch hatte, ein Stück weit aufgebraucht zu sein. Im 21. Jahrhundert hat die Bedeutung derartiger monumentaler gedruckter Werke abgenommen. Das zeigt sich unter anderem daran, dass der Umfang der Referenzen in der fotohistorischen und -theoretischen Literatur auf dieses Werk in den letzten Jahren in meinen Augen abgenommen hat. Die Gründe dafür sind vielfältig. In Zeiten des Internets ist die Bedeutung gedruckter Bücher generell kleiner geworden, vieles, was zuvor nur auf Papier zugänglich war, ist nun in digitaler Form erhältlich. Zahlreiche Zeitschriften haben ihre Bestände rückwirkend digitalisiert, JSTOR und Co. haben ebenfalls dazu beigetragen, die Recherche und der Lektüre ins Netz zu verlagern.

Dazu kommt, dass die Konkurrenz anderer Quellensammlungen zur Fotografie und Fototheorie deutlich zugenommen hat. War in den frühen 1980er Jahren die Theorie der Fotografie (zumindest im deutschsprachigen Raum) noch weitgehend konkurrenzlos, so hat sich das längst geändert. Im angelsächsischen Bereich gibt es seit vielen Jahren das weit günstigere und handlichere Format der „Reader“ (etwa den von Richard Bolton herausgegebenen Band The Contest of Meaning oder Liz Wells‘ Photography. A Critical Introduction, um die bekanntesten zu nennen), die in zahlreichen Auflagen bis heute erscheinen. Auch im deutschsprachigen Raum gibt es Reader zur Fotogeschichte und -theorie, etwa die bei Suhrkamp erschienen Bände Ordnungen der Sichtbarkeit (hg. von Peter Geimer, 2002) oder Diskurse der Fotografie (hg. von Herta Wolf, 2003), die ein Stück weit auch in Konkurrenz zur vielbändigen, gebunden erscheinenden Theorie der Fotografie stehen. Und schließlich sollte auch über die Kosten gesprochen werden. Der fünfte Band der Theorie der Fotografie kostet 58 Euro, was von der Aufmachung her durchaus angemessen erscheint. Und dennoch ist das nicht wirklich ein Preis für Studierende, sondern im Wesentlichen einer für Bibliotheken. In Klammern: Der Preis für die ersten vier Bände in einem Band, der nach wie vor lieferbarbar ist, mutet mit 78 Euro im Vergleich dazu geradezu wie ein Schnäppchen an.

Es gibt über die genannten Gründe noch weitere und vielleicht sogar gewichtigere Argumente, die darauf hindeuten, dass die monumentale Form einer mehrbändigen Theorie-Edition wie der vorliegenden allmählich an seine Grenzen stößt. Zu hinterfragen ist etwa das für dieses Werk gewählte kuratorische Prinzip, das einer einzigen Person die Aufgabe zuteilt, die internationale Theorieproduktion im Alleingang (wenn auch meist mit Hilfe eines kapillaren akademischen Netzwerks) zu sichten und eine Auswahl von Beiträgen für die Publikation zu treffen. Das ist, wie wir gesehen haben, mit großen Schwierigkeiten behaftet. Wer überblickt schon allein die weit verzweigten und in vielen Sprachen geführten Debatten im globalen Maßstab?

Dazu kommt: Bisher waren die Herausgeber und „Kuratoren“ der Textauswahl ausschließlich Männer. Das schlägt sich auch in den inhaltlichen und personellen Konturen der fünf Bände nieder. Insgesamt ist die Autorenliste sehr stark männerlastig, auch wenn das Ungleichgewicht der Geschlechter in der letzten Ausgabe gegenüber den früheren gemildert wurde. Der feministischen Fotografiegeschichte und -theorie ist in keinem der Bände ein eigener Abschnitt gewidmet, die ausgewählten Texte der Autorinnen fügen sich stets in „größere Zusammenhänge“ ein. Eine Herausgeberschaft im Team hätte vermutlich beigetragen, die Theoriedebatten in ihrer Vielfalt breiter zu sichten und dann auch in der Zusammenstellung der gedruckten Texte differenzierter zu gestalten.

Auffallend ist weiter, dass auch in der jüngsten Ausgabe der Theorie der Fotografie das geografische Einzugsgebiet der Texte gegenüber den vorangegangenen Bänden nicht entscheidend erweitert wurde. „International“ meint im letzten Band der Ausgabe noch immer hauptsächlich aus dem deutschsprachigen Raum, aus Frankreich und dem angelsächsischen Raum stammend. Diese geografische Beschränkung hat auch zur Folge, dass Debatten und Beiträge, die außerhalb dieser „westlichen“ Welt formuliert wurden, weitgehend außen vor bleiben. Das betrifft etwa Texte und Positionen zu kolonialen oder neokolonialen Aspekten der Fotografie, aber auch andere Perspektiven auf das Medium, die in einer westlich-aufklärerischen Sichtweise nicht so ohne weiteres unterzubringen sind.

Das alles sind Einwände und Kritikpunkte, die die Verdienste der vorliegenden Edition keineswegs schmälern wollen. Bevor aber ein sechster Band nach demselben Schema konzipiert wird, sollte man vielleicht fragen, ob die altehrwürdige gebundene Buchform wie die vorliegende im 21. Jahrhundert noch das geeignete Format ist, um angeregte Debatten zu entfachen. Vielleicht wären ein anderes mediales Format und eine vielstimmigeres Auswahlteam besser geeignet, um Beiträge für lebendige Debatten zusammenzustellen, Debatten, die, global und kritisch, offen und niederschwellig, neugierig und aktuell die großen und kleinen Fragen der Fotografie im gesellschaftlichen Kontext verhandeln. Eine solche, nennen wir es hier einmal probeweise „offene Edition“, könnte auch ruhig etwas weniger hermetisch daherkommen. Bereits Wolfgang Kemp hatte im ersten Band davor gewarnt, dass aus Gründen der Gesamtkonzeption und der notwendigen argumentativen Gegenüberstellung oft „auch dürre, hölzerne Textstrecken in Kauf genommen werden“ mussten.

Vielleicht auch aus diesem Grund hat Peter Geimer im jüngsten Band die Konzeption des Theoretischen deutlich ausgeweitet und (anders als in den Vorgängerbänden) zu Recht auch Texte von Nichttheoretiker:innen mitaufgenommen, etwa literarische Beiträge oder solche von Künstler:innen. Diese Innovation ist nur zu begrüßen. Vielleicht könnte eine neue Edition auch in einer anderen Hinsicht Frischluft einlassen. Theorie muss nicht zwangsläufig, wie dies im deutschsprachigen Raum oft der Fall ist, „dürr und hölzern“ sein, sondern kann auch in der Präsentation und in den Fragestellungen einen Dialog zum Publikum aufnehmen. Dazu wäre es nötig, auch in gestalterischer Hinsicht einen Sprung in die Gegenwart zu wagen und den ausgedehnten Textwüsten, die die bisherigen Bände kennzeichnen, Einhalt zu gebieten. Eine großzügigere, auch farbige Bebilderung, auf die in den Texten idealerweise immer wieder Bezug genommen wird, könnte die Theoriedebatten insgesamt auf anschaulichere Beine stellen. Und vielleicht ein klein wenig dazu beitragen, die Theorie der Fotografie endgültig im 21. Jahrhundert ankommen zu lassen.

Letzte Ausgaben

 

Hefte ab 150 | Siehe auch: Themen- und Stichwortsuche | Hefte und Einzelbeiträge aus dem Archiv auch als PDF bestellbar.

172

Vermessene Bilder

Von der Fotogrammetrie zur Bildforensik

Mira Anneli Naß, Steffen Siegel (Hg.)

Heft 172 | Jg. 44 | Sommer 2024

 
171

Verletzte Bilder

Anton Holzer, Elmar Mauch (Hg.)

Heft 171 | Jg. 44 | Frühjahr 2024

 
170

Mehr als ein Raum

Das fotografische Atelier: Kunst, Geschäft, Industrie

Anne Vitten (Hg.)

Heft 170 | Jg. 43 | Winter 2023

 
169

Vom Lichtbild zum Foto

Zur westdeutschen Fotoszene der 1950er Jahre

Clara Bolin (Hg.)

Heft 169 | Jg. 43 | Herbst 2023 

 
168

Kritik der Autorschaft

Fotografie als kollektives Unternehmen

Paul Mellenthin (Hg.)

Heft 168 | Jg. 43 | Sommer 2023 

 
167

Artist Meets Archive

Künstlerische Interventionen im fotografischen Archiv

Stefanie Diekmann, Esther Ruelfs (Hg.)

Heft 167 | Jg. 43 | Frühjahr 2023 

 
166

Schreiben über Fotografie II

Steffen Siegel, Bernd Stiegler (Hg.)

Heft 166 | Jg. 42 | Winter 202

 
165

Erinnerung, Erzählung, Erkundung

Fotoalben im 20. und 21. Jahrhundert

Bernd Stiegler, Kathrin Yacavone (Hg.)

Heft 165 | Jg. 42 | Herbst 2022

 
164

Zirkulierende Bilder

Fotografien in Zeitschriften

Joachim Sieber (Hg.)

Heft 164 | Jg. 42 | Sommer 2022

 
163

Black Box Colour

Kommerzielle Farbfotografie vor 1914

Jens Jäger (Hg.)

Heft 163 | Jg. 42 | Frühjahr 2022

 
162

Den Blick erwidern

Fotografie und Kolonialismus

Sophie Junge (Hg.)

Heft 162 | Jg. 41 | Winter 2021

 
161

Norm und Form

Fotoalben im 19. Jahrhundert

Bernd Stiegler, Kathrin Yacavone

Heft 161 | Jg. 41 | Herbst 2021

 
160

Keepsake / Souvenir

Reisen, Wanderungen, Fotografien 1841 bis 1870

Herta Wolf, Clara Bolin (Hg.)

Heft 160 | Jg. 41 | Sommer 2021

 
159

Weiterblättern!

Neue Perspektiven der Fotobuchforschung

Anja Schürmann, Steffen Siegel (Hg.)

Heft 159 | Jg. 41 | Frühjahr 2021

 
158

Die Zukunft der Fotografie

Anton Holzer (Hg.)

Heft 158 | Jg. 40 | Winter 2020 

 
157

Fotogeschichte schreiben. 40 Jahre Zeitschrift Fotogeschichte

Anton Holzer (Hg.)

Heft 157 | Jg. 40 | Herbst 2020 

 
156

Aquatische Bilder. Die Fotografie und das Meer

Franziska Brons (Hg.)

Heft 156 | Jg. 40 | Sommer 2020 

 
155

Wozu Gender? Geschlechtertheoretische Ansätze in der Fotografie

Katharina Steidl (Hg.)

Heft 155 | Jg. 40 | Frühjahr 2020

 
154

Protestfotografie

Susanne Regener, Dorna Safaian, Simon Teune (Hg.

Heft 154 | Jg. 39 | Winter 2019

 
153

Fotografie und Text um 1900

Philipp Ramer, Christine Weder (Hg.)

Heft 153 | Jg. 39 | Herbst 2019

 
152

Fotografie und Design

Linus Rapp,  Steffen Siegel (Hg.)

Heft 152 | Jg. 39 | Sommer 2019

 
151

Nomadic Camera

Fotografie, Exil und Migration

Burcu Dogramaci, Helene Roth (Hg.)

Heft 151 | Jg. 39 | Frühjahr 2019

 
150

Polytechnisches Wissen

Fotografische Handbücher 1939 bis 1918

Herta Wolf (Hg.)

Heft 150 | Jg. 38 | Winter 2018