Steffen Siegel
Wie lange existiert eine Fotografie?
Kate Palmer Albers: The Night Albums. Visibility and the Ephemeral Photograph, Oakland: University of California Press 2021, 161 Seiten, 15,2 × 20,3 cm, 17 Farb- und 17 Schwarz/Weiß-Abbildungen, kartoniert. 29,95 US-Dollar
Erschienen in: Fotogeschichte, Heft 166, 2022
Wenn es noch eines Beweises bedurfte hätte, wie nützlich die sozialen Medien nicht allein für unsere alltäglichen Kommunikationsweisen sind, sondern zuweilen auch für die Theorie der Fotografie – mit dem Buch The Night Albums von Kate Palmer Albers hielten wir diesen Beleg nun in den Händen. Als Snapchat vor gut einem Jahrzehnt an den Markt ging, bestand das wesentliche Versprechen dieser App aus genau einem Wort: Flüchtigkeit. Was hier gesendet und empfangen wird, bleibt eine Sache des Augenblicks, soll also gerade nicht dauerhaft zugänglich sein. Dass sich über die geteilten Inhalte auf diese Weise besser die Kontrolle behalten lässt, liegt auf der Hand. Wenigstens ebenso wichtig ist aber auch, dass mit Snapchat ein entscheidender weiterer Schritt im Gebrauch von Smartphones getan war: Wir aktivieren mit ihnen Verteilungspraktiken, die auf eine strukturelle Annäherung von Wort und Fotografie hinauslaufen. In sozialen Medien wie Snapchat dienen sie beide einer spontanen, einzig dem Augenblick verpflichteten Kommunikation, erheben jedoch keinen Anspruch auf Dauerhaftigkeit.
Mit Blick auf die sprachliche Seite dieses Vergleichs lässt sich zwischen ephemerer Rede und dauerhaftem Text unterscheiden. Für die Fotografie hingegen lag eine solche Unterscheidung bislang nicht auf Hand. Vielmehr werden die gut zweihundert Jahre Fotografiegeschichte traditionell als ein Bemühen erzählt, die Flüchtigkeit der visuellen Wahrnehmung in die Dauerhaftigkeit eines Bildes zu übersetzen. Das entscheidende Stichwort hatte bereits Dominique François Arago formuliert, als er im Januar 1839 die Daguerreotypie vorstellte als eine Methode zur „Fixierung der Bilder, die sich im Brennpunkt einer Camera obscura formen“.[1] Ideengeschichtlich betrachtet ist Aragos Akademierede in vielfacher Hinsicht folgenreich gewesen; und doch dürfte kaum ein Gedanke so sehr den Blick auf fotografische Bilder geprägt haben wie seine Formulierung „fixation des images“. Anders ausgedrückt: Mit Fotografien geht das Versprechen auf Stillstellung und Dauerhaftigkeit einher.
Kate Palmer Albers, die am kalifornischen Whittier College Kunstgeschichte lehrt, setzt dieser traditionellen Lesart des Fotografischen einen Essay entgegen, der für eine differenziertere und, so schreibt sie selbst resümierend, eine ehrlichere Auffassung des Mediums argumentiert. Wer sich für Fragen der Fotorestaurierung interessiert, wird jene auf die Spitze getriebene Lektion, die Snapchat erteilt, schwerlich benötigen. Der Blickwechsel aber, den Albers vorschlägt, ist ebenso folgenreich wie herausfordernd. Was geschieht mit unserer Auffassung von Fotogeschichte, wenn wir in ihr Zentrum nicht die fixierte und dauerhaft stabile Einschreibung auf einen Bildträger setzen, sondern vielmehr Formen und Seherfahrungen der Flüchtigkeit? So hatte schon vor einigen Jahren Jordan Bear in einem fundierten Essay darauf aufmerksam gemacht, dass von einem solchen Unterschied unser Nachdenken über die Ursprünge des Fotografischen abhängt.[2] Im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhundert mögen Thomas Wedgwood und Humphrey Davy noch nicht in der Lage gewesen sein, ihre fotografischen Bilder zu fixieren – dieses Unvermögen jedoch als ein Scheitern zu beschreiben, unterstützt eine Sichtweise, gegen die sich nun auch Albers mit ihrem Buch wendet. Dabei hat die Autorin nicht im Sinn, die fotohistorischen Konsequenzen ihrer These in ganzer Breite auszuführen. Die kaum mehr als 150 Seiten – der Anmerkungsapparat und 34 Abbildungen sind dabei schon mitgerechnet – würden hierfür schwerlich hinreichen. Stattdessen wählt Albers eine Methode schlaglichtartiger Skizzen und Fallstudien, die stets um dieselbe Frage kreisen: Wie lange existiert eine Fotografie? Sogleich zweifach wird auf dem Cover des Buches deutlich gemacht, dass damit eine Frage aufgeworfen wird, die bis zu den Ursprüngen des Mediums zurückführen. Während jedoch Kenner:innen der Fotogeschichte ohne Mühe den Ausschnitt aus Nicéphore Niépces Heliografie „Point de vue de la fenêtre“ identifizieren werden, verhält es sich mit dem Haupttitel des Buches etwas komplizierter. Bei den hier angesprochenen „Nachtalben“ handelt es sich um eine Anspielung, die auf das Jahr 1836 zurückweist.
Seinerzeit hatte Eugène Hubert im Journal des artistes einen Artikel veröffentlicht, der nicht allein verdeutlicht, dass sich bereits Jahre vor dem Schlüsseljahr 1839 die Nachrichten von Daguerres Erfindung zu verbreiten begannen, sondern auch, dass das, was Arago als „fixation“ ansprechen wird, schon zuvor eine wichtige Rolle spielte: „Ich bezweifle, dass M. Daguerre zu den vollständigen Ergebnissen gelangt ist, die ihm wohl offiziöse Freunde zugeschrieben haben dürften; hätte er, wie man behauptet, die vollkommenste aller Zeichnungen erzielt, so hätte er sie sehr wahrscheinlich sehen lassen (selbst ohne die zweite Voraussetzung, das heißt die Vorrichtung, um es auf unbegrenzte Zeit zu konservieren), und sei es, dass er ein Nachtalbum anlegte, indem er seine Ergebnisse mit schwarzem Papier umschlösse und sie nur bei Mondschein zeigte.“[3]
Albers nimmt Daguerres frühen Opponenten Hubert beim Wort und entwirft eine Perspektive auf das Fotografische, die von einer flüchtigen – zeitlich streng limitierten – oder aber gänzlich entzogenen Seherfahrung ausgeht. Nur lose systematisch verbunden, zeigt sie anhand von ältesten und neuesten Fotografien – einerseits mit Blick auf Niépce und Daguerre, andererseits auf zeitgenössische Künstler:innen wie Robert Heinecken, Adrian Piper und Oscar Muñoz – die Bedeutung einer solchen Sichtweise für die Grundsatzfrage nach dem Begriff des Fotografischen. Dabei bleiben ihre Ausführungen zu skizzenhaft und sind zu sehr einer ersten essayistischen Annäherung verpflichtet, als dass sich diese einzelnen Beobachtungen bereits zu einer Geschichte der verschwindenden und verschwundenen fotografischen Bilder fügen würde. Doch werden künftige fotohistorische Studien, die sich dieser Perspektive anschließen wollen, zahlreiche systematische Anknüpfungspunkt finden.
Besonders reizvoll wird diese Diskussion gerade dann sein, wenn sie in den Kontext des Kunstmarktes gestellt wird. Seit Jahren erleben institutionelle wie private Sammler:innen auf schmerzliche Weise, wofür sich Albers in ihrem Buch interessiert. Was aber theoretisch spannungsvoll und historiografisch perspektivenreich sein mag, das ist mit Blick auf inzwischen zu Spitzenpreisen gehandelte Kunst fraglos ein Ärgernis. Vor allem die bemerkenswerte rasche Verwandlung – oder aber eben wahlweise der Verfall – von Farbfotografien[4] gibt allen Anlass, Albers’ Perspektive der ephemeren Fotografie ernst zu nehmen und von hier aus nicht nur theoretisch, sondern ganz pragmatisch danach zu fragen, wie wir die Grenzen einer Fotografie in zeitlicher Hinsicht bestimmen können.
Nicht zuletzt aber geht mit der Frage nach dem Verschwinden der Fotografie ein gesellschaftlich immer bedeutsameres Problem einher: In einer Zeit, da digitale Daten vor allem aus politischen und ökonomischen Gründen zum Gegenstand der Speicherung und Überwachung werden, gewinnt der Wunsch nach zeitlicher Begrenzung und Löschung des Fotografischen eine dringliche Wendung. In diesem Sinn wird mit Snapchat ausgerechnet eine jener Data-Mining-Maschinen zum Sinnbild der Herausforderung, in unserer eigenen Zeit die persönliche Souveränität nicht mehr an das Sehen und Gesehen-Werden zu knüpfen, sondern – gerade im Gegenteil – an die Möglichkeit, sein eigenes fotografisches Bild dauerhaft zum Verschwinden zu bringen.
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[1] Dominique François Arago: Fixierung der Bilder, die sich im Brennpunkt einer Camera obscura formen [7. Januar 1839], in: Steffen Siegel (Hg.): Neues Licht. Daguerre, Talbot und die Veröffentlichung der Fotografie im Jahr 1839, München: Wilhelm Fink Verlag, 2014, S. 51–54.
[2] Jordan Bear: Self-Reflections. The Nature of Sir Humphrey Davy’s Photographic „Failures“, in: Tanya Sheehan, Andrés Mario Zervigón (Hg.): Photography and Its Origins, New York, London 2015, S. 185–194.
[3] Eugène Hubert: M. Daguerre, die Camera obscura und die Zeichnungen, die sich von ganz alleine fertigen [11. September 1836]. Zitiert nach der Übersetzung in: Siegel 2014, (Anm. 1), S. 28–29, hier S. 28 (Hervorhebungen im Original).
[4] Soweit ich sehe, wurde diese Debatte zum ersten Mal in ganzer Breite angestoßen in: Wolfgang Hesse (Red.): Farbfehler! Gegen das Verschwinden der Farbfotografien, Stuttgart 1998.
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