Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie

hg. von Dr. Anton Holzer

Anton Holzer

Fotografisches Rheinpanorama, mit Mängeln

Helge Drafz: Rhein. Der Fluss in der Fotografie seit 1846, Köln: Greven Verlag, 2021 (hg. von der Rheinischer Verein für Denkmalpflege und Landschaftsschutz – Marianne von Waldhausen Gedächtnis Stiftung), 384 Seiten, 25 x 23 cm, 480 Abb. in Farbe und Schwarz-Weiß, gebunden mit Schutzumschlag, 40 Euro

 

Erschienen in: Fotogeschichte, Heft 166, 2022

 

„Man wird es vielleicht nicht mit Zahlen belegen können, aber der Rhein ist wahrscheinlich der meistfotografierte Fluss der Welt.“ Mit dieser Feststellung leitet Helge Drafz seinen üppig bebilderten, großformatigen Bildband ein. Auf knapp 400 Seiten führt er die LeserInnen in zahlreichen Fotografien durch die Geschichte des Flusses, von den frühen Aufnahmen um die Mitte des 19. Jahrhunderts bis in die Gegenwart. Der Autor führt aus, wie die Rheingegend bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts als eine der ersten europäischen Regionen eine touristische Infrastruktur herausbildete, wie Eisenbahn und Dampfschifffahrt den Fluss und seine Umgebung an die modernen Verkehrsnetze anschlossen. Er dokumentiert die technische Erschließung des Rheins, aber auch seine Umformung in ein nationales Gewässer am Ende des 19. und am Beginn des 20. Jahrhunderts. Besonderes Augenmerk legt er auf das Ende des Ersten Weltkriegs, als die alliierten Siegermächte den Fluss auch in Bildern demonstrativ in Beschlag nahmen. Er zeigt, wie der touristische Aufschwung der Zwischenkriegszeit in der NS-Zeit propagandistisch kanalisiert wurde und wie viele Städte am Rhein im Zweiten Weltkrieg im Bombenhagel zerstört wurden. In großen thematischen Schleifen über Wiederaufbau, Bonner Republik und Wirtschaftswunder nähert er sich der Gegenwart, in der der Fluss neuerlich in den Fokus der Fotografie geriet: als Projektionsfläche konzeptueller Fotokünstler (etwa Andreas Gursky und Axel Hütte) der Düsseldorfer Schule.

Beeindruckend ist, in welcher Fülle und Breite der Autor fotografisches Material aus vielen Quellen zusammengetragen und zu einem rhythmisch gestalteten Bildessay zusammengestellt hat. Er beschränkt sich nicht auf die Bebilderung von Sehenswürdigkeiten mit altbekannten Aufnahmen, im Gegenteil: Über weite Strecken sind die gezeigten Fotos kaum bis wenig bekannt. Das hat unter anderem damit zu tun, dass Drafz – auch dank digitaler Suchinstrumente – weltweite Recherchen angestellt hat. Er beschränkt sich in der Auswahl auch nicht auf die großen Namen (die, wie etwa August Sander, Lee Miller, Cartier-Bresson oder Renger-Patzsch, im Band freilich sehr wohl vorkommen), sondern er nimmt auch zahlreiche anonyme LichtbildnerInnen in die Bildstrecken mit auf. Aber auch in der Auswahl der Medien hält der Autor seine Perspektive weit offen, ohne Scheuklappen nahm er populäre Bildtypen aus der Massenproduktion wie Stereobilder und frühe Ansichtskarten in seine Auswahl auf, Berücksichtigung fanden aber auch Presseaufnahmen, Propagandabilder und private Alltagsbilder.

 Als suggestiv gestaltetes Coffee Table Book funktioniert der besprochene Band wunderbar. Die Texte sind gut und flott geschrieben, die Bildstrecken erzeugen einen veritablen visuellen Sog. Wenn man freilich höhere Ansprüche an das Buch anlegt und den Untertitel „Der Fluss in der Fotografie seit 1846“ ernst nimmt, wird die Angelegenheit komplizierter. Unter wissenschaftlichen Vorzeichen kann die Publikation nicht wirklich bestehen. Dazu sind die Mängel zu vielfältig. Die Angaben zu den Fotografien sind sowohl im Bildteil als auch im Anhang überaus dürftig. Technische Angaben, Formate und genaue Quellenhinweise fehlen völlig, die Herkunft der Fotos ist, komprimiert im Bildnachweis, nur mühsam zu erschließen. Die Texte kommen quer durch den gesamten Band ohne Quellenverweise aus, auch Literaturverzeichnis gibt es keines.

Das alles ist schade, denn viele Bilder, die erstmals in diesem Kontext publiziert wurden, regen durchaus zu Fragen und weiteren Recherchen an. Das betrifft etwa die produktionstechnischen und kommerziellen Hintergründe der stereoskopischen Aufnahmen, näher beleuchten könnte man auch die mediengeschichtlichen Aspekte der wunderbaren farbigen Schweizer Photoglob-Karten ebenso wie die kolorierten Bilder Frank Hurleys aus dem Jahr 1918, manche private Alben und vieles andere mehr. Weiterführende Literatur, die offenbar im Buch verarbeitet wurde, muss man sich auf diese Weise mühsam indirekt erschließen. Zur frühen Flussfotografie liegt etwa die fundierte Studie von Mona Schubert vor, die freilich nirgendwo im Band explizit genannt ist.[1]

Wenn man die Haupttexte im Buch als Maßstab nimmt, ist es durchaus der Anspruch des Autors, das Medium Fotografie in seinen vielfältigen gesellschaftlichen Bezügen zu verorten. Das gelingt ihm recht gut, wenn er etwa die deutschen Kriegsfotos amerikanischen Aufnahmen der Besatzungstruppen gegenüberstellt, die am Ende des Ersten Weltkrieges am Rhein entstanden. Auch die Zeit des Nationalsozialismus wird in den Textbeiträgen kritisch beleuchtet. Verwunderlich ist aber, dass die politische Rolle der Fotografinnen und Fotografen keiner näheren Betrachtung wert ist. Ja, mehr noch, die kurzen biografischen Hinweise, die der Autor am Ende des Bandes in den „Bilderläuterungen“ zusammenstellt, sind, gerade in Bezug auf die NS-Verwicklungen zahlreicher LichtbildnerInnen, geradezu kurzsichtig und naiv formuliert. Um nur zwei Beispiele zu nennen: Bei Lala Aufsberg, die 1937 und 1938 die Reichsparteitage in Nürnberg dokumentierte, wird die NS-Karriere der Fotografin mit keinem Wort erwähnt. Erich Retzlaff, mit seinen völkisch-rassistischen grundierten Bildbänden ein bedeutender Propagandist des NS-Regimes, wird mit einem einzigen Satz vorgestellt: „Erich Retzlaff (1899–1993) veröffentlichte ab 1930 mehrere Fotobildbände von Menschen in ihrer Lebenswelt.“ So ansprechend der vorliegende Band in seiner breiten Bilderzählung auch ist, im Detail hätte das Buch mehr Sorgfalt benötigt, auch dann, wenn der wissenschaftliche Anspruch bewusst niedrig gehalten wird. Auch ein gutes Coffee Table Book muss frei von Mängeln sein.

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[1] Mona Schubert: „I had much rather invent you a legend of my own.” Die fotografischen Rhein-Ansichten Charles Marvilles in Les Bords du Rhin (1853) und Francis Friths in The Gossiping Photographer on the Rhine (1864), in: bilderstrom. Der Rhein und die Fotografie, 2016–1853, hg. vom LVR-LandesMuseum Bonn und Christoph Schaden, Berlin: 2016, S. 223–229.

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