Anton Holzer
Drei Frauen und die Donau
Oder: Schleifen der Erinnerung – über eine künstlerische Arbeit von Om Bori
Erschienen in: Fotogeschichte, Heft 165, 2022
Die Geschichte spielt an der Donau. Oder genauer: Es sind drei Geschichte, die an den Ufern dieses Flusses verortet sind: jene von Josefin, Margarete und Maria. Die ungarisch-deutsche Medienkünstlerin Om Bori erzählt die Geschichten dieser drei Frauen in einer dreiteiligen, gut 8 Minuten langen Videoinstallation.[1] All drei Protagonistinnen stehen in einem familiären Verhältnis zur Künstlerin: Josefin ist ihre Urgroßmutter, Maria ihre Großmutter und Margarete ihre Großtante. Verbunden sind die Geschichten dieser Frauen in der historischen Wirklichkeit, mehr aber noch in der Form der Erzählung, durch das Wasser der Donau. In ihrer dreiteiligen Videoarbeit hat die Künstlerin viel untergebracht: drei komplexe Lebensgeschichten und (fast) ein ganzes Jahrhundert Geschichte. Große Themen und scheinbar kleine, private: Glück und Unglück, Krieg und Frieden, Flucht und Heimat, Liebe und Enttäuschungen, Arbeit und Kinder, Urlaub und Reisen, Träume und Hoffnungen. In einfachen, nüchternen Sätzen verknüpft die Künstlerin als Erzählerin und Gestalterin die Erinnerungsstränge der drei Frauen, die Schicksal und Umstände in Budapest zusammengeführt haben.
Maria Josefin Margarete hat Om Bori ihre visuelle Erzählung aus dem Jahr 2019 genannt. Die drei Vornamen tauchen ganz am Beginn aus dem Dunkel auf, einer nach dem anderen. Und diese drei Namen ergeben in der Folge dann eine Leselinie, nach und nach werden neue Verbindungen herstellt, von der einen Frau zur anderen, von der einen Geschichte zur nächsten. Maria, die Großmutter der Künstlerin, ist in der Vojvodina, in der kleinen Ortschaft Besdan am linken Ufer der Donau, aufgewachsen. Sie war, so die Stimme aus dem Off, eine schöne Frau mit einem besonders schönen Lächeln. Josefin, die Urgrußmutter, wuchs ebenfalls an der Donau auf, weiter flussaufwärts, in Linz. Sie war, so berichtet der Künstlerin, acht Jahre alt, als der Erste Weltkrieg ausbrach. Ihre Eltern verließen Linz und zogen nach Budapest. Hier, so heißt es, habe sie die Donau wiedererkannt. Aber sie weigerte sich je wieder ein Wort Deutsch zu sprechen. Auch die Eltern Marias verließen ihre Heimat Vojvodina wegen des Krieges, nicht des Ersten sondern des Zweiten Weltkriegs. Ihr Lächeln hatte Maria, so sagte sie später, in der Vojvodina zurückgelassen. Die Sprachen aber hat sie mitgenommen, sie wurde Übersetzerin. Budapest liegt zwischen diesen beiden Fluchtorten. Hier wuchs Margarete, die Großtante, auf, ebenfalls in der Nähe der Donau, unweit der Margaretheninsel. Die Folgen des Krieges, des Zweiten, waren auch in ihrer Lebensgeschichte spürbar, die Sowjets, die zu Kriegende die Stadt in Besitz nahmen, die Gefahren und Gewalttaten, denen vor allem Frauen in den Wirren unmittelbar nach dem Krieg ausgeliefert waren.
Die Lebensgeschichten der drei Frauen sind auf den ersten Blick nicht ungewöhnlich. Und doch sind sie gerade in ihrer Gewöhnlichkeit besonders. „Obgleich durch verschiedene Epochen, Regime und Landesgrenzen voneinander getrennt, sind die drei Frauen“, so die Künstlerin, „durch prägende Lebensereignisse und -orte miteinander verbunden.“ Verbunden sind sie aber auch in ihrer Rolle als Frauen, die ähnliche Erfahrungen machten – etwa im deprimierenden Umgang mit Männern, mit Vorgesetzten, Institutionen. Om Bori verwebt die Geschichten der drei Frauen über Zeiten und Brüche hinweg miteinander und erzählt auf diese Weise eine „generationsübergreifende Geschichte einer mitteleuropäischen Migrantenfamilie“. Es entsteht eine neue Familienerzählung, die manchmal ausbuchstabiert und manchmal verdichtet wird. Kindheit, Flucht, Krieg, Arbeit, Familie, neues Glück, neues Unglück. Die Abfolge der Ereignisse erscheint atemberaubend, vorgetragen werden sie aber mit ruhiger Stimme. Die Rede ist von Träumen und Hoffnungen, viel aber auch von Enttäuschungen. Mehr oder weniger schwingen in den Geschichten die untergründigen Traumata des 20. Jahrhunderts mit, die in die Biografien auf unterschiedliche Weise eingeschrieben sind.
Bemerkenswert ist die Art, in der die Künstlerin diese drei Lebensgeschichten visuell und akustisch miteinander verbindet. In bewegten und unbewegten Bildern, in Filmen, Fotografien, Collagen, Zeichnungen, kolorierten Animationen und Tönen, und nicht zuletzt in der Kommentarstimme aus dem Off, legt sie die drei Geschichten assoziativ nebeneinander aus. Oder besser: sie verschränkt mit den Mitteln der Montage und der Collage Szenen und Erinnerungsschnipsel und verbindet diese immer wieder mit ihrer eigenen Geschichte und die Erinnerung an die Kindheit. Die Erzählstimme trägt Erinnerungssplitter zusammen, die sich auf immer neue Weise überschneiden und überlagern, die Privates und Politisches, Familiengeschichte und Politik, Wege und Orte in winzigen Szenen verdichten. Geradlinige Erzählung entsteht auf diese Weise keine, im Gegenteil, bewusst springt die Künstlerin zwischen Zeiten, Personen und Orten hin und her, immer wieder wechselt sie abrupt die biografische Perspektive. Und dennoch: So schmal diese Ausschnitte der jeweiligen Erzählung auch sein mögen, der gesellschaftliche und politische Horizont der Erzählung ist weit ausgespannt. Die Erschütterungen beider großen Kriege im 20. Jahrhundert, aber auch die Trennung des europäischen Kontinents im Kalten Krieg haben die Familiengeschichten tiefgreifend geprägt.
Als zentralen Faden ihrer Erzählung hat Om Bori die Donau gewählt, die, im Rückblick betrachtet, mehr ungewollt als gewollt, die drei Geschichten miteinander verknüpft hat. Der Fluss ist aber nicht nur ein geografisches Band, der die Biografien verbindet, er ist auch der Motor und der Spiegel der Erzählung. Den Wirrnissen des Lebens setzt Om Bori die ruhige Bewegung des Wassers gegenüber. Die Donau ist für sie der „große Mutterfluss“ Europas, jener Fluss, „der die drei Frauen in eine gedachte sowie eine reale Verbindung zueinander setzt.“[2] Der Rhythmus des Fließens, die unaufhörliche Veränderung, die das Wasser mit sich bringt, schreibt sich ein in die Formen der Erzählung. Er bestimmt, so die Künstlerin, „die nicht-lineare Narration der Arbeit.“ In immer neuen Anläufen und Schleifen wird die Erinnerung zusammengebaut und weitergegeben, nicht als großes Ganzes, sondern in kleinen Geschichten, in Details und Ausschnitten. Fotografien lassen diese Fetzen der Vergangenheit für einen Moment aufleuchten: Gesichter aus dem Album blicken uns an, Familienbilder, aber auch Straßenszenen, Stadtbilder. Sie verschwinden wieder, werden überlagert, gehen über in andere Bilder.
Was hat das Leben der drei Frauen bestimmt? Was haben sie erträumt? Was wurde Wirklichkeit? Das kleine und das große Glück, so stellt sich als Konstante heraus, hängen eng zusammen, aber auch das kleine private Unglück und das große gesellschaftliche Unglück haben miteinander zu tun. Diese komplexen Verbindunglinien zwischen dem Schicksal der Einzelnen und den Triebfedern der Gesellschaft scheinen in der Erzählung immer wieder durch. Wie die historischen Kräfte Schicksale lenken, das interessierte die Künstlerin, aber auch „wie die Einzelne sich dem Schicksalhaften zu widersetzen versucht, freilich zumeist vergebens und dabei doch nicht hoffnungslos“. Das Schicksalshafte, das war der Krieg, die Gewalt, die Hierarchie, aber auch manche Beziehungen erleben die Frauen als unausweichlich. „Auch der zweite Mann liebte sie nicht. Margarete fügte sich“, heißt es an einer Stelle, der Wunsch nach Liebe und Anerkennung blieb unerfüllt. Das Foto der jungen Frau aus dem Fotoalbum ist an dieser Stelle in die Horizontale gekippt. Und das Wasser der Donau fließt über das Bild hinweg.
In der dreiteiligen Anordnung springen die Funken des Erzählens oft von einem Bildrahmen zum anderen über, oft ziehen die Szenen am gleichen Strang, oft arbeiten die drei Bilderzählungen gegeneinander. Die Geschichten bleiben fragmentarisch, sie fügen sich nicht zu einer abgeschlossenen Einheit, vielmehr zieht die Künstlerin, entlang des Wassers und der Biografien, immer neue zyklische Schleifen. Weitergabe und Wiederholung liegen dicht beieinander. Ohne Übergang springt die Geschichte von einer Frau zur nächsten, von einer Generation zur anderen. Margarete hatte keine Kinder, die Enkelinnen ihrer Schwester liebte sie daher umso mehr. Als Surrogat, wie die Erzählerin berichtet. „Besonders die älteste Enkelin liebte sie sehr. Die Enkelin war ich“. Ohne Pause geht die Geschichte weiter. „Maria war eine strenge Mutter. Ihre Hände konnten stark zuschlagen.“ Und dann ein weiterer Schwenk. „Josefin hatte Angst vor der Kirche.“
Die Anordnung der Bildkader ist streng, folgt einem klaren formalen Konzept. Und dennoch schwappt die Erzählung immer wieder aus dem Rahmen. Mithilfe von Worten, Texten, Zeichnungen, Objekten, Räumen, Rhythmen und Algorithmen – und dem Fluss als tragendem Narrativ – wird die Geschichte vorangetrieben, zurückgespult, neu begonnen. Über Generationen hinweg, mit all den Brüchen und Neuanfängen. Am Ende der Erzählung heißt es: „So habe ich sie in Erinnerung behalten, die Großtante Margarete, die allein auf der Margaretheninsel auf einer Bank sitzt und romantische Romane liest. Sie starb, als ich noch ein Kind war …“ Während die Bilder aus dem Album langsam verschwinden und der Fluss sich wieder Raum verschafft, erklingt, zum Plätschern des Wassers, das ungarische Schaukellied „Hinta palinta“, ganz leise, um dann zu verklingen. Die Bilder der Donau verschwinden ebenfalls, eines nach dem anderen. Auch die kreisenden, sich anarchisch ausbreitenden Bewegungen der Rauschschwaden, die die Installation im Hintergrund parallel zu den Schleifen der Erinnerung begleitet haben, treten nun zurück. Das Ende der Geschichte ist, so wie der Anfang, schwarz.
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[1] Om Bori: Maria Josefin Margarete, 3-Kanal Videoinstallation (8.24 Min.), 2019. Ein größerer Teil des Projekts wurde während eines Aufenthalts im Rahmen des Programms Artist in Residence Niederösterreich (AIR) in Krems an der Donau realisiert.
[2] Der Begriff des „Mutterflusses“ ist in der slawischen Literatur weit verbreitet, er bezieht sich auf unterschiedliche Flüsse. Zum ersten Mal, so erinnert sich die Künstlerin, sei sie dem Begriff in den Romanen von Jean M. Auel begegnet.
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