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Steffen Siegel
Fotografinnen in globaler Perspektive
Andrea Nelson (Hg.): The New Woman Behind the Camera, New York: DelMonica Books/D.A.P., 2020, 288 Seiten, 30,5 × 25,5 cm, 282 Abb., gebunden mit Schutzumschlag, 60 US-Dollar.
Erschienen in: Fotogeschichte 163, 2022
Es kam in den zurückliegenden Jahren nicht sehr häufig vor, dass ein Themenheft der Zeitschrift Fotogeschichte mit einem Fragezeichen im Titel erschien. Im Frühjahr 2020 aber war es soweit: „Wozu Gender?“ überschrieb die Gastherausgeberin Katharina Steidl das 155. Heft dieser Zeitschrift,[1] das – wie der Untertitel anzeigt – geschlechtertheoretischen Ansätzen in der Fotografie gewidmet war. Manche Leserinnen und Leser mögen sich gewundert haben (der Autor dieser Zeilen gehört zu ihnen): Sieht sich die Relevanz von Forschungen aus einer gendertheoretischen Perspektive wirklich noch in Frage gestellt? Versteht sich dieses „Wozu?“ denn nicht längst von selbst? Eine mögliche Antwort hierauf gibt ein Klassiker der feministischen Kunstgeschichtsschreibung: der vor mehr als einem halben Jahrhundert erschienene Aufsatz „Why Have There Been No Great Women Artists?“[2] Seine Autorin, die US-amerikanische Kunstwissenschaftlerin Linda Nochlin, wollte durch die parodierende Wiederaufnahme jener Frage, warum es angeblich keine großen Künstlerinnen gegeben habe, provozieren; erst recht aber waren ihre Antworten unbequem. Denn wer sich mit der „sogenannten Frauenfrage“ auseinandersetzt, sieht sich, so eines von Nochlins zentralen Argumenten, von ganz allein mit methodischen Grundsatzfragen konfrontiert. Aus der Perspektive der Genderforschung verlieren etablierte Begriffe, Paradigmen und Methoden an Plausibilität und verlangen nach Diskussion und Rechtfertigung. „Wozu Gender?“ – mit dieser Frage geht in der Tat eine unverändert aktuelle Aufforderung zur disziplinären Selbstreflexion einher.
Eben diese Einladung formuliert der nun erschienene Band The New Woman Behind the Camera sogleich in mehrfacher Hinsicht. Publiziert wurde er anlässlich einer Ausstellung, die wegen der Pandemie erst mit einem Jahr Verspätung eröffnen werden konnte – zunächst im Metropolitan Museum in New York, später wird sie auch in der National Gallery of Art in Washington, D.C. zu sehen sein. Von den „Tagesthemen“ im Ersten Deutschen Fernsehen bis zum Rezensionsessay im New Yorker[3] – das eindrucksvolle publizistische Echo, das die Ausstellung bereits unmittelbar nach ihrer Eröffnung auf sich zog, scheint zu belegen: Aufmerksamkeitsökonomisch betrachtet verdienen fotohistorische Genderfragen ein Ausrufezeichen. Doch reicht das Interesse, das die Kuratorin und Hauptautorin des Buches, Andrea Nelson, mit ihrem Projekt verbindet, beträchtlich weiter. Zurecht wirft sie eine scheinbar einfache Frage auf: Von welchen Frauen sprechen wir eigentlich, wenn von den fotografierenden „New Women“ die Rede ist?
Bei einem ersten Blättern durch das hervorragend ausgestattete, in seiner Druckqualität opulente Buch wird man kaum eine der inzwischen kanonischen Fotografinnen der 1920er und 1930er Jahre vermissen: Gewürdigt werden Berenice Abbott und Aenne Biermann, Ilse Bing und Margaret Bourke-White, Marianne Breslauer und Claude Cahun. Ich breche diese Aufzählung beim Buchstaben C ab, hätte aber mühelos bis zum Ende des Alphabets fortfahren können. Eine solche Zusammenschau ist ohne Frage erfreulich, wirklich dringlich war sie für die fotohistorische Forschung aber gewiss nicht mehr. Unverkennbar profitiert Nelsons Projekt von jenen bereits vor gut drei Jahrzehnten geleisteten Forschungen, die Ausstellungen wie „Fotografieren hieß teilnehmen“ vorausgesetzt waren. Was Ute Eskildsen seinerzeit mit einem Fokus auf die Fotografinnen der Weimarer Republik entfaltete,[4] hat nicht nur weitere – in ihrem kuratorischen Zuschnitt mal mehr, mal weniger vergleichbare – Ausstellungen dieser Art inspiriert,[5] sondern vor allem den Blick auf eine Besonderheit gelenkt, die mit der Fotografie einhergeht.
Spätestens mit der Etablierung des Fotoamateurismus setzten sich Formen der fotografischen Praxis durch, die sich unabhängig machen konnten von allen institutionellen Rahmungen. Die Unterschiede, die sich in den Karrieren der von Nelson ausgewählten Fotografinnen ablesen lassen, mögen beträchtlich sein. Eines jedoch eint fast alle von ihnen: Die von Nochlin zurecht kritisierte Normierung des Kunstfelds durch exklusive – genauer noch: exkludierende – Institutionen spielte im Feld des Fotografischen seit den 1920er Jahren nicht mehr die alles entscheidende Rolle. Als Studiofotografinnen, Bildjournalistinnen, Dienstleisterinnen der angewandten Fotografie, schließlich aber auch im sich entfaltenden Kunstmarkt waren für Frauen vielfältige Formen der Teilhabe möglich. Dabei liegt in einer genaueren Beschreibung der professionellen Vielfalt, die mit solcher „Teilnahme“ einhergeht, ein ganz eigener systematischer Wert. Vor allem die Essays von Kristen Gresh (zur Bildpresse), von Mila Ganeva (zur Modefotografie) und von Andrea Nelson (zur Studiofotografie) sind in diesem Sinn wichtige Beiträge zur noch genaueren Konturierung eines modernen Berufsbilds.
So wenig die Herausgeberin in ihrer Vorrede ausdrücklich darauf abhebt, so sehr lässt sich ihr Projekt aber doch als eine indirekte Gegenrede lesen zu jenen problematischen, inzwischen aber dennoch zahlreichen Versuchen eines positiv besetzten Otherings.[6] Was neuerdings unter dem Schlagwort „Female Gaze“ in Ausstellungen wie Büchern verhandelt wird, hat innerhalb der Fotogeschichtsschreibung schon seit Längerem ein eigenes Genre begründet.[7] Auf eine solche Ontologisierung des weiblichen Blicks durch die Kamera und auf die Welt zielt Nelsons Buch nun gerade nicht. Zur genaueren Beschreibung ihres Anliegens lohnt es sich, die beim Buchstaben C abgebrochene Aufzählung noch einmal aufzugreifen. Ins Spiel gebracht werden von Nelson mehr als 120 Fotografinnen, unter ihnen Karimeh Abbud (Palestina/Israel), Jette Bang (Dänemark), Dulce Carneiro (Brasilien), Adele Gloria (Italien), Hou Bo (China), Kata Kálmán (Ungarn), Bernice Kolko (Mexiko), Valentina Kulagina (Sowjetunion), Toshiko Okanoue (Japan) oder Homai Vyarawalla (Indien).
Bereits das Nebeneinander dieser Namen verdeutlicht, dass man die im Buchtitel zitierte „Neue Frau“ nicht allein geografisch in einem globalen Sinn auffassen sollte. Was in Ausstellungen wie Eskildsens „Fotografieren hieß teilnehmen“ noch einen konkreten historischen Sinn besaß, das ist hier eher ein wohl klingendes Schlagwort ohne allzu große begriffliche Trennschärfe. Lässt man diese vermutlich von den Marketingabteilungen der beteiligten Museen getroffene Entscheidung beiseite, so zeichnet sich in Nelsons Buch aber doch eine Möglichkeit ab, die von Naomi Rosenblum vor fast dreißig Jahren eröffnete Erzählung[8] mit noch größerer Konsequenz auf eine wirklich global interessierte Geschichtsschreibung auszudehnen. Die in Nelsons Buch unternommene Beschreibungen von interkontinentalen Netzen und Kanälen der fotografischen Praxis – ganz besonders deutlich in Kim Sichels Essay zu den Fotoreportagen aus Afrika – sind jedenfalls ein Ansatz, der weit über die feministische Fotogeschichte hinausreichen sollte.
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[1] Fotogeschichte, 40. Jg., Heft 155, 2020: Wozu Gender? Geschlechtertheoretische Ansätze in der Fotografie, hg. von Katharina Steidl. Die Beiträge stammen von Kerstin Brandes, Susanne Holschbach, Kathrin Köppert, Katharina Steidl und Anne Vitten.
[2] Linda Nochlin: Why Have There Been No Great Women Artists? [1971]. Wieder abgedruckt in: Maura Reilly (Hg.): Women Artists. The Linda Nochlin Reader, London 2015. Eine deutsche Übersetzung ist greifbar als: Warum hat es keine bedeutenden Künstlerinnen gegeben? In: Beate Söntgen (Hg.): Rahmenwechsel. Kunstgeschichte als Kulturwissenschaft in feministischer Perspektive, Berlin 1996, S. 27–56.
[3] Tagesthemen vom 8. Juli 2021, 23’48’’–27’02’’. Abrufbar unter https://www.tagesschau.de/multimedia/sendung/tt-8379.html. Peter Schjeldahl: Another Eye, in: The New Yorker, 2. August 2021.
[4] Ute Eskildsen (Hg.): Fotografieren hieß teilnehmen. Fotografinnen der Weimarer Republik, Essen 1994.
[5] Siehe zum Beispiel Lena Johannesson, Gunilla Knape (Hg.): Women Photographers – European Experience, Gothenburg 2004; Inka Graeve Ingelmann (Hg.): Female Trouble. Die Kamera als Spiegel und Bühne weiblicher Inszenierungen, Ostfildern 2008; Gerda Breuer, Elina Knorpp (Hg.): Gespiegeltes Ich. Fotografische Selbstbildnisse von Frauen in den 1920er Jahren, Berlin 2014; Ulrich Pohlmann (Hg.): Qui a peur des femmes photographes? 1839–1945, Vanves 2015.
[6] In einem besonders früh erschienenen Buch wird dies bereits im Titel ausgestellt: Val Williams: The Other Observers. Women Photographers in Britain 1900 to the Present, London 1986.
[7] Siehe zum Beispiel Lothar Schirmer (Hg.): Frauen sehen Frauen. Eine Bildgeschichte der Frauen-Photographie. Von Julia Margaret Cameron bis Inez van Lamsweerde, München 2001; Boris Friedewald: Women Photographers. From Julia Margaret Cameron to Cindy Sherman, München, London, New York 2014. Zum „Female Gaze“ nenne ich exemplarisch Alfred Weidinger (Hg.): Virtual Normality. The Female Gaze in the Age of the Internet, Wien 2018; Charlotte Jansen: Girl on Girl. Art and Photography in the Age of the Female Gaze, London 2019.
[8] Naomi Rosenblum: A History of Women Photographers, New York, London, Paris 1994; aktualisierte und erweiterte Ausgabe 2000.
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