Anton Holzer
Punk, Anarchie und die Liebe zur Fotografie
Reinhard Matz, Steffen Siegel, Bernd Stiegler (Hg.): Wolfgang Schulz und die Fotoszene um 1980, Leipzig: Spector Books, 2019, Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im Museum für Kunst und Gewerbe in Hamburg, 14. Juni bis 24. November 2019 und im Museum für Fotografie in Berlin, 3. April bis 19. Juli 2020, 240 S., 28 x 22,5 cm, zahlreiche Abb. in S/W und Farbe, kartoniert, 28 Euro
Erschienen in: Fotogeschichte, Heft 154, 2019
Es spricht viel dafür, dass Wolfgang Schulz, geboren 1944, als Fotograf, Gründer und Herausgeber einer relativ kurzlebigen, aber nichtsdestotrotz wichtigen und einflussreichen deutschen Fotozeitschrift weiterhin in Vergessenheit geblieben wäre, wenn nicht der Zufall auf den Plan getreten wäre. Jener berühmte Zufall also, der oft unerwartete Entdeckungen ermöglicht und neue Erkenntnisse schafft. Der Zufall als plötzlicher Wendepunkt, als überraschendes Moment, der gelegentlich zu ebenso interessanten Einsichten führt wie das fleißige, kumulative Anhäufen von Wissen. Dieser Zufall war es also, der Mitte der 1990er Jahre zwei Bananenkisten voller Fotos (an die 2.000 Stück) am Müll vorbei via ebay zu Bernd Stiegler führte, der zu dieser Zeit begonnen hatte, eine eigene private Fotosammlung aufzubauen. Nach einer ersten Sichtung legte er die Bilder wieder auf die Seite, da über die Umstände ihrer Entstehung und den Fotografen oder die Fotografin vorerst nicht viel in Erfahrung zu bringen war. Ein weiterer Zufall wollte es, dass ein anderer Fotohistoriker, der zwei Jahrzehnte später zu Besuch bei Stiegler war, auf einer Polaroid-Serie, die aus der besagten Bananenkiste stammte, Wolfgang Schulz erkannte, jenen Wolfgang Schulz, der 1977 von Göttingen aus die Fotozeitschrift Fotografie in die Welt gesetzt hatte. Allmählich begannen sich die Nebel zu lichten. Und der Plan entstand, die Bildersammlung noch einmal neu und sorgfältig zu sichten und sie in Verbindung mit dem publizistischen Projekt dieser Zeitschrift zu bringen, die, obwohl sie bleibende Spuren in der jüngeren deutschen Fotogeschichte hinterlassen hat, weitgehend in Vergessenheit geraten ist.
Der vorliegende Katalog, der eine gleichnamige Ausstellung im Museum für Kunst und Gewerbe in Hamburg begleitete (die 2020 in adaptierter Form auch im Berliner Museum für Fotografie zu sehen ist), ist das Ergebnis dieser längeren Recherche, zu der auch Steffen Siegel und Reinhard Matz mit Ihrem Expertenwissen (und Essays) beigetragen haben. Die Publikation reiht sich ein in die seit einigen Jahren zu beobachtende Tendenz zur Historisierung und zugleich Wieder- und Neuentdeckung, aber auch Neubewertung der jüngeren deutschen Fotografiegeschichte, die lange Zeit – vor allem im Kunstkontext – vom Erbe Otto Steinerts und später von der Düsseldorfer Becher-Schule dominiert wurde. In den letzten Jahren begann sich das Feld dank neuer Interessen und Schwerpunktsetzungen auszudifferenzieren. Denken wir nur an das Ausstellungs- und Publikationsprojekt über die Berliner Werkstatt für Photographie im Jahr 2016.[1] Oder an die Publikationen und Recherchen von Gisela Parak und anderer Autorinnen und Autoren zur deutschen Fotografie der 1970er und 80er Jahre.[2]
Ausgangspunkt der vorliegenden Untersuchung waren zwar die Bilder von Wolfgang Schulz, bald aber wurde der Fokus erweitert. Ausstellung und Katalog nehmen sich vor, gewissermaßen durch die Brille des Fotografen und Zeitschriftenmachers Schulz und seiner Zeitschrift Fotografie auch das fotografische Umfeld seiner Zeit und damit letztlich auch einen wichtigen Teil der deutschen Fotografie um 1980 näher zu beleuchten. Ein Vorhaben, das, zumindest in Bezug auf die Erhellung der Biografie von Schulz, nicht ganz einfach war, da dessen Spuren mehr als verwischt sind. Kaum hatte er 1985 das Zeitschriftenprojekt Fotografie aufgegeben, war er von Göttingen nach Köln gezogen und hatte sich dort anderen Themen und Projekten zugewandt. Lange hat Stiegler nach Schulz gesucht. Irgendwann wurde aber klar, dass dieser für dieses Publikationsprojekt nicht mehr zu befragen war, da er seit längerem in einer Kölner Intensivstation im Wachkoma liegt. Allein aus diesem Grund lag es nahe, das Umfeld von Schulz zu befragen, etwa in mehreren längeren Gesprächen mit den journalistischen Wegbegleitern und frühen Mitarbeitern der Zeitschrift Fotografie Hans Christian Adam, Rolf Sachsse, W.P. Fahrenberg und Hanno Loewy.
Zeitschrift für internationale Fotokunst nannte sich – gar nicht bescheiden – die Zeitschrift Fotografie, die Wolfgang Schulz 1977 zusammen mit Walter Gerlach als Textgestalter und Erich Plöger als Grafiker in seiner Wohnung in Göttingen gründete – mit dem Geld seiner Familie und neben seinem Physikstudium, das er jahrelang auf die lange Bank schob. 40 Ausgaben in 33 Einzel- und Doppelheften entstanden bis 1985. Zwar war Schulz der Ideengeber und Chef der Zeitschrift, aber als Autor taucht sein Name nur sporadisch auf und auch als Fotograf druckte er nur sehr wenige der eigenen Bilder. Dafür vertraute er auf ein wachsendes und oft wechselndes Netz an Mitarbeitern (daber kaum schreibende Mitarbeiterinnen) und Fotografen und Fotografinnen. 13 der interessantesten fotografischen Positionen aus dem Umfeld der Zeitschrift werden in Ausstellung und Katalog exemplarisch vorgestellt: jene von André Gelpke, Heinrich Riebesehl, Wilhelm Schürmann, Verena von Gagern, Hans Christian Adam, Angela Neuke, Miron Zownir, Dagmar Hartig, Andreas Horlitz, Dörte Eißfeldt, Holger Stumpf, Petra Wittmar und Reinhard Matz.
Die Zeitschriftengründung fiel in eine Zeit des Aufbruchs und der regen Fotodebatten. Ab Mitte der 1970er Jahre, und vor allem um 1980, kam Bewegung in das Feld der Fotografie, etwa durch neu gegründete Zeitschriften und Periodika, unter anderem Volksfoto (1976), Camera Austria (1980), Fotogeschichte (1981), Fotokritik (1982), Fotonetz (1983), neue Fotoschwerpunkte im Verlagswesen (Schirmer/Mosel, Hatje, Nishen, DuMont u.a.) neue Fotogalerien, vielfältige fotografische Ausstellungsprojekte und zahlreiche Initiativen an Fachhochschulen. Die Zeitschrift Fotografie profitierte davon, dass in Deutschland ab Mitte der 70er Jahre die Fotografie in aller Munde war, dass, abseits der fotojournalistischen Produktion, ein gewaltiger publizistischer Nachhol- und Diskussionsbedarf zum Thema Gegenwartsfotografie herrschte.
Fotografie entstand ganz am Rande der offiziellen deutschen Fotokultur, ausgehend von der studentischen und alternativen WG-Kultur der Studentenstadt Göttingen. Die Leidenschaft für die Fotografie entstand in diesem Milieu zwischen Alternativkultur, Punk, Drogen und Sex. „Es gibt“, erinnerte sich Schulz nach der Jahrtausendwende in einem autobiografischen Text an diese Zeit, „noch ein bisschen mehr als Ficken, Kiffen und Jimi Hendrix hören.“ Etwa die Fotografie. „Ohne bezahlte Anzeigen, ohne Anbiederung“, so formulierte Schulz einmal, wolle er eine wirklich eigenständige Zeitschrift machen. Und 1982 schrieb er in einem seiner seltenen programmatischen Texte, er wolle den Fotografen „motivieren, seinen Kopf und seinen Bauch für die schwere Aufgabe der Wirklichkeitsfindung einzusetzen“.
Trotz des selbstbewussten Anspruchs der Zeitschrift nahmen sich Schulz und seine Kollegen in der Redaktion (neben den genannten auch Jörg Krichbaum und Andreas Müller-Pohle, der 1980 in Göttingen eine eigene Zeitschrift, nämlich European Photography, gründete) die Freiheit heraus, das zu zeigen und zu besprechen, was ihnen gefiel, was provozierte und oder gerade zufällig ins Haus schneite. Die Folge war, dass sich Profil und Ausrichtung der Zeitschrift sich immer wieder veränderten, je nach Inputs, personeller Besetzung und auch je nach den Launen des Herausgebers, der als schreibende Kollegen praktisch nur Männer um sich vereinte und damit in den Texten (nicht aber in den Bildserien) ein recht „männlich“ angehauchtes Zeitschriftenprojekt verfolgte. So mäandrierend die redaktionelle Linie der Zeitschrift auch war, so vehement lehnte sich Schulz gegen den fotografischen Mainstream auf, gegen die, wie er es einmal formulierte, „normierte Bildproduktion“. Dagegen setzte er einen intuitiven und anarchistischen Zugang zur Fotografie, der nicht die Mitte der Gesellschaft zeigte, sondern viel öfter die gesellschaftlichen Ränder, etwa in Bildserien über die verschiedenen Subkulturen. Auch in seinen eigenen Fotoarbeiten probierte er immer wieder Neues aus, neben manchem Gelungenem steht, so Stiegler, auch viel „Halbzeugs, das uns heute aber gerade in seiner Unfertigkeit anspricht“. Schulz wusste, was er nicht wollte, wogegen er sich vehement auflehnte. 1984, ein Jahr vor der Einstellung seiner Zeitschrift schrieb er: „(...) bitte, bitte keine GROSSEN BLUMEN und keine Häuser mehr, ich wohne sogar drin (in meinem), keine Titten und Ärsche, ob mit oder ohne Anschnittechnik, ich werde seit zehn Jahren von allen Kiosken damit bombardiert, mich interessieren keine Gartenzäune, ich klettere lieber über sie.“
1985 stellte er die Zeitschrift ganz ohne Vorwarnung ein, brach seine Zelte in Göttingen ab und ließ die Fotografie vorläufig hinter sich. In einer Werbezeile für die Zeitschrift Fotografie hatte Schulz zwischen den lieferbaren Coverabbildungen – mit unverkennbar ironischem Unterton – einmal die Worte gesetzt „Eine Sammlung von bleibendem Wert“. Nie im Traum hätte er wohl jemals daran gedacht, dass diese Sammlung von Zeitschriften und Bildern nicht nur aufgehoben, sondern als bedeutender Teil der jüngeren deutschen Fotogeschichte neu befragt würde.
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[1] Florian Ebner u.a. (Hg.): Werkstatt für Photographie 1976–1986, Berlin, Essen 2016. Siehe dazu auch Fotogeschichte, Heft 137, 2015, bit.ly/2J4rZw7
[2] Gisela Parak (Hg.): Schöne neue BRD? Autorenfotografie der 1980er Jahre, Braunschweig 2014 sowie Gisela Parak (Hg.): Die wilde Vielfalt. Zur deutschen Fotoszene der 1970er und 80er Jahre, Fotogeschichte, Heft 137, 2015.
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