Anton Holzer
Nadar x 3
Fotografie, Karriere, Medienmanagement
Bernd Stiegler: Nadar. Bilder der Moderne, Köln: Koenig Books, 2019, 311 S., 20,5 x 13,5 cm, zahlreiche Abb. in S/W, broschiert, 19,80 Euro.
Erschienen in: Fotogeschichte, Heft 154, 2019
Es ist schon erstaunlich: Nadar, der bekannteste und wichtigste französische Fotograf des 19. Jahrhunderts hat – anders als in Frankreich und im englischsprachigen Raum – im deutschen Sprachraum bislang noch keine ausführliche biografische Würdigung in Buchform erhalten. Bernd Stiegler tritt nun an, dies zu ändern. Aber er schränkt in seiner Einleitung gleich ein: eine Biografie im klassischen Sinne sei sein Buch nicht, denn die Figur Nadar existiere nicht im Singular, sondern sei, wenn schon, ein Kollektiv (zusammengesetzt aus Félix Nadar (1820–1910), seinem Sohn Paul (1856–1939) und seinem Bruder Adrien (1825–1903). Ganz in diesem Sinne hatte vor kurzem auch die Ausstellung „Les Nadar. Une Légende Photographique“ in der Bibliothèque nationale de France (bis 3. Februar 2019, mit Katalog) argumentiert. Nadar, so Stiegler, ist aber weit mehr als die Summe dreier unterschiedlich erfolgreicher Fotografen. Es sei vielmehr ein durch intensive Öffentlichkeitsarbeit (v.a. von Félix Nadar) geformtes Markenzeichen, ein Signet, aber auch ein komplexes Medienunternehmen, das weit über den Tätigkeitsbereich eines klassischen Ateliers hinaus aktiv war. Die Biografie dreier Fotografen, ihre mythologische Überhöhung und die propagandistische Zuspitzung ihres Geschäfts lassen sich also nicht leicht voneinander trennen.
Aus all diesen Gründen entschied sich der Autor dafür, nicht drei ineinander verschränkte Lebens- und Werkgeschichten zu erzählen. Vielmehr macht er etwas viel Spannenderes und Anspruchsvolleres. Er liest das Werk der drei Fotografen (oder besser: zentrale Ausschnitte bzw. Werkgruppen daraus, wobei jenes von Félix Nadar eindeutig im Zentrum steht) vor der der Folie der politischen, gesellschaftlichen, sozialen, kulturellen, städtebaulichen und wissenschaftlichen Debatten der Zeit. „Mir kommt es nicht darauf an“, so Stiegler, „eine weitere Biographie Nadars – im Singular wie im Plural – zu schreiben, sondern eine Bildgeschichte der Moderne zu skizzieren, die immer schon und notwendig eine kollektive ist.“ Gleich vorweg: dieses Vorhaben ist geglückt – und wie. Das Buch ist hervorragend recherchiert und glänzend geschrieben. Wer sich künftig mit der Fotografie des 19. Jahrhunderts im Kontext der Moderne beschäftigt, wird an diesem Werk nicht vorbeikommen. Schade ist nur, dass das relativ kleine Format des Bandes auch die zahlreichen Fotografien und Zeichnungen – viele davon noch nicht im Kontext Nadars publiziert – in ein allzu enges Korsett zwängt. Sollte der Band neu aufgelegt (oder übersetzt) werden, wäre es ratsam, das Buchformat deutlich zu vergrößern und damit auch den Bildteil aufzuwerten.
Stiegler durchmisst das „Panthéon Nadar“ in großen Schritten und zugleich hält er sich immer wieder länger auf, um einzelne Bildserien und Themen aus nächster Nähe in Augenschein zu nehmen. Großen Raum widmet er der Frage, wie genau die mythologische Signatur Nadar entstanden ist, wie sie in heftigen – auch juristischen – Bruderkämpfen etabliert und verteidigt wurde, aber auch der Frage, mit welchen medialen und propagandistischen Strategien dieses Logo (das nicht nur über dem Pariser Atelier prangte, sondern auch für Ausstellungen, Publikationen, Zeichnungen und andere Drucksorten verwendet wurde) aufgebaut und verbreitet wurde. Eingehender untersucht werden aber auch andere ausgewählte Themen und Werke, natürlich die Rolle Nadars als Ballonpionier, die berühmte Pierrot-Serie, die Fotos, die im Pariser Untergrund entstanden, die klinischen bzw. psychiatrischen Aufnahmen, die Reisebilder Paul Nadars, aber auch die zahlreichen Porträts, die in den diversen Ateliers zwischen 1854 und den frühen Jahren des 20. Jahrhunderts entstanden. Beleuchtet werden auch die interessanten Querverbindungen zwischen der Zeichnung (Félix Nadar begann seine Karriere als Karikaturist und hatte intensive Kontakte zu anderen Zeichnern, allen voran Constantin Guys) und der Fotografie, aber auch die Rolle illustrierten Presse in der Öffentlichkeitsarbeit Nadars.
Monatelang hat sich der Autor in der Pariser Bibliothèque nationale durch das fotografische Werk (über 200.000 Nadar-Fotos sind überliefert) gekämpft, aber auch den umfangreichen schriftlichen Nachlass der drei Fotografen gesichtet. Stiegler passt seine Funde nicht bloß in ein vorgefertigtes biografisches Schema ein, er schließt mithin nicht einfach nur Lücken in der Nadar-Forschung, sondern er verbindet den genauen Blick auf die Bilder und der begleitenden Dokumente mit kulturgeschichtlichen Fragen, die weit über die konkreten Fotoanlässe und -aufträge hinausreichen. Am Beispiel der (weniger bekannten) Tierfotografien etwa untersucht er wie die Modernisierung der Landwirtschaft und der Industrialisierung neue visuelle Formen der Produktpräsentation hervorgebracht hat. Die Fotos aus dem Pariser Untergrund setzt er mit der radikalen Neustrukturierung der oberirdischen Stadt und der rasanten städtebaulichen Entwicklung in Paris seit den späten 1850er Jahren in Verbindung. Die klinischen Aufnahmen Adrien Tournachons setzt er in den Kontext der wissenschaftshistorischen Umbrüche in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Auf diese Weise verweisen die fallbeispielhaften Untersuchungen sowohl auf das fotografische Werk (bzw. Ausschnitte daraus) wie auch auf den größeren gesellschaftlichen Kontext, in dem diese Bilder entstanden und sichtbar gemacht wurden.
Das Buch eröffnet durch die Linse der drei Nadars und ihrer eng miteinander verzahnten Lebens- und Arbeitsgeschichten einen Blick auf die gewaltigen Umwälzungen, die Paris nach 1950 prägte. Wie sehr die drei Protagonisten Teil eines weit verzweigten kulturellen, publizistischen und politischen Netzwerks sind, zeigt der gesellschaftliche Radius, in dem diese tätig waren. Und auch ein Blick ins Namensregister am Ende des Buches spannt diesen Kosmos noch einmal eindrucksvoll auf. Stieglers Buch ist, entgegen der Behauptung am Beginn, natürlich auch eine Art Kollektivbiografie. Aber es ist noch viel mehr: es ist eine gelungene und ausgezeichnet zu lesende Einführung in wichtige Bereiche der Fotografie des 19. Jahrhunderts, es ist ein facettenreiches Porträt des historischen Paris, die Walter Benjamin als Hauptstadt des 19. Jahrhunderts bezeichnete. Und zugleich ist der Band ein wunderbarer Reiseführer in jene Stadt, die wie kaum eine andere innerhalb weniger Jahre ihr städtebauliches, aber auch ihr kulturelles Aussehen radikal verändert hat. Festgehalten und kommentiert wurde dieser rasante Umbruch von den drei Nadars, die – geschickter als viele ihrer Kollegen und Konkurrenten – gesellschaftliche Zustände spiegelten, das bürgerliche und intellektuelle Selbstbewusstsein inszenierten und die – allen voran Félix Nadar – ein untrügliches Gespür für Ruhm und Profit hatten.
Auch wenn die Lebenswege, die Erfolge und auch die – nicht wenigen – Niederlagen recht ungleich zwischen den drei Männern verteilt waren: alle drei hatten die Nase im Wind. Und wenn nicht alles täuscht, liegen die Sympathien des Autors nicht auf Seiten des erfolgreichsten von ihnen, Félix Tournachon. Mit dessen ichbezogener, selbstgefälliger und rücksichtsloser Art war er zwar als Fotoimpresario und Medienstratege erfolgreicher als die anderen beiden Nadars, aber im historischen Nachhinein erscheint sein Weg nicht nur im hellen Licht, sondern weist auch Schattenseiten auf, die der Autor nicht ausblendet. Im Grunde ist der Karriereweg Félix Tournachons geprägt vom ständigen Kampf um Anerkennung. Vielleicht führte er diesen Kampf so heftig und unerbittlich, weil seine gesellschaftliche Position als Bürger, als Unternehmer und als gesellschaftliche Figur in einer Phase des radikalen gesellschaftlichen Übergangs trotz aller Erfolge im Einzelnen eben doch unsicher und brüchig blieb.
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