Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie

hg. von Dr. Anton Holzer

Christin Müller

Berliner Tristesse

Ein Fotobuch-Klassiker neu aufgelegt

Michael Schmidt, Waffenruhe, hg. von der Stiftung für Fotografie und Medienkunst mit Archiv Michael Schmidt, Köln, London: Buchhandlung Walther Koenig, 2018, dt./engl., 26,5 x 30 cm, 82 Seiten, 39 Abb. in S/W, davon eine Falttafel, mit einem literarischen Text von Einar Schleef, Text/Nachwort von Janos Frecot, Einlage mit einem Text von Thomas Weski, 29,80 Euro.

 

Erschienen in: Fotogeschichte, Heft 152, 2019

Michael Schmidts Fotoband Waffenruhegehört sicherlich zu den ungewöhnlichsten Projekten des Fotografen. Die 1987 erstmals erschienene Publikation wurde nun neu aufgelegt. Die erste Auflage, die von der Fotografischen Sammlung der Berlinischen Galerie in Zusammenarbeit mit dem Berliner Nishen Verlag herausgegeben wurde, war schnell vergriffen und erzielt heute beachtliche Preise auf dem antiquarischen Markt. Die Neuauflage entstand zeitgleich zur Projektion von Schmidts Bildern Anfang 2018 an der Fassade der Berliner Volksbühne. Jeden Abend nach Sonnenuntergang wurden vom 31. Jänner bis 11. März 2018 Bilder aus der Serie und einzelne Passagen aus dem ebenfalls im Buch veröffentlichten Text von Einar Schleef an die Außenfassade des Berliner Theaters projiziert. Die Präsentation wurde im Atelier des 2014 verstorbenen Michael Schmidt unter Mitwirkung seiner Frau Karin Schmidt entwickelt und von Thomas Weski kuratiert. Weski verfasste auch einen erklärenden Beilagentext zur Neuauflage.

Michael Schmidt gehörte in der deutschen Nachkriegsfotografie zu den stilprägendsten Fotografen, der den Umgang mit Stadtlandschaften und Schwarz-Weiß-Kontrastierungen nachhaltig beeinflusste. Er gründete 1976 die legendäre Werkstatt für Photographie an der Volkshochschule in Berlin-Kreuzberg. Der 1945 in Berlin geborene Schmidt war zeitweise in beiden Teilen der Stadt beheimatet. Die Karriere des Autodidakten ist eng mit seiner Geburtsstadt verbunden, da Berlin für viele Fotoprojekte als künstlerischer Ausgangspunkt fungierte. Die Fotografien aus der Serie „Waffenruhe“, die zwischen 1985 und 1987 in West-Berlin entstanden sind, wurden 1987 in der Berlinischen Galerie im Martin-Gropius-Bau und 1988 im Museum Folkwang in Essen ausgestellt. Zudem erlangte Schmidt mit dieser Serie auch erstmals internationalen Erfolg. Das Museum of Modern Artin New York richtete ihm 1988/89 gemeinsam mit zwei weiteren Fotografen (PatrickFaigenbaum, Reagan Louie) eine Ausstellung unter dem Titel „New Photography 4“ ein. Eine Arbeit aus der Serie ging zudem in die Sammlung des Museums ein.  

Das Buch Waffenruhepräsentiert auf 82 Seiten insgesamt 39 Schwarz-Weiß-Abbildungen des für seine nüchtern dokumentarischen Stadtlandschaften bekannten Fotografen. Zudem wird im ersten Drittel des Buches ein Text des Schriftstellers und Theaterregisseurs Einar Schleef eingebunden, der von einem von seiner Frau verlassenen Mann handelt, der nach der Trennung zusammen mit einem Kaninchen in dem leergeräumten Einfamilienhaus sitzt und dessen deprimierender Alltag detailreich beschrieben wird. Für Schmidt war Waffenruherückblickend „…die Sehnsucht nach meiner eigenen Bildwelt und darüber hinaus die Verteidigung des Individuums.“[1]In der Tat stellt das Projekt einen entscheidenden Wendepunkt in seiner Arbeit dar. Die subjektive Betrachtung der Stadtlandschaft Berlins und seiner Lebensbedingungen ändert radikal den Fokus der Kamera. Er wendet sich für Waffenruheerstmals von objektiv-dokumentarischen Überblicks- oder Panoramaaufnahmen ab, wie sie vorwiegend in seinen früheren Fotoprojekten z.B. in „Berlin nach 1945“ oder „Berlin-Kreuzberg“ zu sehen waren. In der entstandenen Serie, die vorwiegend mit Blick auf die Berliner Mauer realisiert wurde, sindscheinbar spontan aufgenommene Detailaufnahmen des Berliner Stadtraums präsentiert. Ein durch Naturausschnitte und Betonmauern verstellter Blick durchzieht die Fotografien. Daneben finden sich vier Porträtaufnahmen im Profil oder in frontaler Sicht. Diese  Bilder zeigen junge Erwachsene in dunklen Innenräumen, die keine nähere Verortung zulassen. Die Gegenstände und Menschen, die in den Fokus geraten, sind nah vor das Objektiv gerückt und versperren die Sicht auf die Umgebung. Die Berliner Mauer ist direkt wie indirekt das Leitmotiv in dem Fotoprojekt. Aber nicht nur die geschichtsträchtige Betonwand schränkt die Sicht auf das Dahinterliegende ein, sondern auch Äste und Gestrüpp, Gazenetze, Absperrbänder und (beschmierte) Fensterscheiben bilden Distanzebenen. So kann der Blick in der Regel nicht in die Ferne schweifen, sondern wird immer wieder verstellt. Diese sichteinschränkenden Foto-Stills sind zudem von Unschärfe und Verschwommenheit durchzogen. Auch wenn diese Stilelemente tradierte Mittel in der Fotografie sind, werden sie bei Schmidt spannungsvoll miteinander verknüpft. Bildästhetik und Bildinhalt verweisen mittelbar wie unmittelbar auf die hiesige politische und gesellschaftliche Situation der damaligen Zeit.

Schmidt zeichnet Ende der 1980er Jahre ein Bild von der Stadt, das geprägt ist von Depression, scheinbarem Stillstand, Enge und Tristesse. Auch die plötzlich auftretenden Porträts von jungen Heranwachsenden zwischen den menschenleeren Stadtaufnahmen drücken diesen Umstand aus. Die Protagonisten wirken alles andere als hoffnungsvoll und sorgenfrei. Auf einem Bild ist von einer Person lediglich ein mit einer Narbe versehenes Handgelenk präsentiert. Ein symbolisches Zeichen für ein zwischen Leben und Sterben oszillierenden Zustand einer geteilten Stadt und seiner Bewohner. Das Bild, welches Schmidt von der Stadt Berlin in Waffenruhe wiedergibt, ist kein lebendiges Bild. Seine bedrückend wirkenden Close-up-Aufnahmen sind in der für ihn bis dato üblichen schwarz-weiß Haltung mit vielen Grauabstufungen gehalten, die das Bild umso mehr unterstützen, welches Schmidt vermitteln möchte. Zudem verweisen kahle Sträucher und Büsche oder teilweise gefrorenen Pfützen auf die „abnehmende“ Herbst- oder Winterjahreszeit, in denen die Bilder entstanden sind. Ob Schmidt die eintretenden Veränderungen und das Aufblühen der Stadt nach der Wende geahnt hat und die Wahl der tristen Jahreszeiten den bevorstehenden Frühling implizieren soll, kann nur gemutmaßt werden.

Mit Waffenruhegibt Michael Schmidt den Betrachtern einen subjektiven, emotionalen Einblick in das Lebens- und Raumgefühl der damaligen Zeit in West-Berlin und schafft damit eine singuläre fotografische Position.Nicht auf all seinen Fotografien wird die Mauer, die die Stadt einschränkte und teilte, als Gegenstand sichtbar, aber sie ist auf jedem einzelnen Bild spürbar. Dieser Eindruck vermittelt sich allerdings nur durch eine Aneinanderreihung von mehreren Fotografien aus der Serie. Durch eine einzelne Arbeit lässt sich das Raumgefühl der Stadt und die subjektive Sicht von Schmidt nur schwer präzisieren. Die fotografischen Aufnahmen wechseln sich dabei in einer spannend gesetzten Auswahl im Hoch- und Querformat als auch in den Formaten – zentral ausgerichtete kleinere Motive folgen ganzseitigen Bildern – in dem Buch ab. In etwa der Mitte des Buches folgt eine Falttafel, bestehend aus zwei einzelnen Motiven, die zur Mitte des Buches ausgerichtet sind. Durch diese eigenwillige Reihenfolge wirkt das Buch abwechslungsreich und überraschend fesselnd.

Die Einbindung des literarischen Beitrages von Einar Schleef und das damit beschriebene Bild des Berliner Alltags wäre aus meiner Sicht nicht notwendig gewesen. Der Text ist aufgrund seiner großzügigen Setzung und der etwas zu groß wirkenden Schrift nur schwer lesbar. Die thematisch vage passende Abhandlung, die zwischen den atmosphärischen Schwarz-Weiß-Aufnahmen platziert ist, hinterlässt beim Leser sowohl aufgrund des Inhalts als auch durch das Layout ein unbehagliches Gefühl. Wie auch Weski in seinem Beilagenessay erwähnt, soll sich dadurch die emotionale Kraft der Bilder zusätzlich verstärken. Schmidts Fotografien zeichnen aber auch ohne literarische Text ein düster-beklemmendes Bild von einer „eingemauerten“ Stadt und sind ein authentischer Beleg für den ohnmächtigen Zustand der Bewohner. Anders als es der Kurator Janos Frecot am Ende des Buches behauptet, hätten ähnliche Bilder auch an anderen Orten entstehen können. Denn die in Schmidts Fotografien vermittelten Themen wie die Einschränkung des Freiheitsgefühl, die Unsicherheit über die Zukunft oder die Gefahren aufkommender Auseinandersetzungen beschränken sich örtlich und zeitlich nicht auf das Berlin der Vorwendezeit, sondern sind vielmehr universelle Menschheitsthemen.

Das Fotobuch Waffenruheist ein essentieller Bestandteil für die Betrachtung von Schmidts Œuvre und gehört innerhalb der Dokumentar- und Autorenfotografie zu den herausragenden Werken der 1980er Jahre in Deutschland. Als „Dokument der Zeit“ erreicht das Buch nun zu einem erschwinglichen Preis und auch in englischer Sprache ein größeres Publikum.

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[1] Ute Eskildsen: In leidenschaftlichem Widerstreit zwischen Abbild und Darstellung, in: Michael Schmidt, Ute Eskildsen: Fotografien seit 1965, Essen: Museum Folkwang, 1995, S. 13.

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