Anna Sophia Messner
Migration in fotografischen Bildern
Tanya Sheehan: Photography and Migration, London/New York: Routledge, 2018, 24 x 16 cm, 240 S., ca. 80 Farb- und S/W-Abb. sowie Karten, kartoniert, 39 Euro
Erschienen in: Fotogeschichte, Heft 151, 2019
Vor dem Hintergrund der aktuellen globalen Migrationsbewegungen und der damit einhergehenden Verbreitung massenmedialer Bilder stellt der vorliegende Sammelband Überlegungen hinsichtlich der komplexen und vielfältigen Beziehungen von Fotografie und Migration im 21. Jahrhundert an. Im Kontext der internationalen wissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit dieser Thematik gründete die Herausgeberin Tanya Sheehan 2014 das „Photography and Migration Project“ am Colby College, USA, in dessen Rahmen zahlreiche Veranstaltungen mit WissenschaftlerInnen, KünstlerInnen, Studierenden sowie der lokalen Bevölkerung stattfinden, um die öffentliche Diskussion im Hinblick auf die lokale Migration im Zuge der aktuellen Migrationsdebatten sowohl in den USA als auch global anzuregen. Darüberhinaus sei weiterhin auf aktuelle Konferenz- und Publikationsprojekte wie „Diverse Migrations: Photography Out of Bounds“ am Photographic History Research Centre, De Montfort University, Leicester, „Encounters: Handling, Placing and Looking at Photographs in Relation to Migration“ am Kunsthistorischen Institut in Florenz – Max-Planck-Institut, 2017 oder „Exploring Photography in History of the Immigration to the USA“ an der University of Bergen, 2018, verwiesen.
Die Analysen und Diskussionen der 13 Beiträge des Sammelbands finden auf der Grundlage von fotografischen Bildern, Zeugnissen und Geschichten statt, die die AutorInnen teilweise selbst aufgenommen, gesammelt oder erlebt haben und thematisieren eine Vielfalt an globalen, nationalen, regionalen, lokalen sowie persönlichen Ereignissen und Perspektiven. Dabei sind die Beiträge theoretischen Themenkomplexen entsprechend der vier keywords (im)mobility, border, refugee und diaspora zugeordnet, die den Migration Studies entnommen und, u.a. in Anlehnung an Bruce Burgetts and Glenn Hendlers „Keywords for American Cultural Studies“, als eng miteinander verbundene, flexible Begriffe verstanden werden.
In ihrer Einleitung kritisiert die Herausgeberin u.a. die Verbreitung einseitiger Medienbilder und deren visuelle Rhetorik. Die Aufnahmen von überfüllten Booten und Zügen, von verzweifelten Menschen und leeren Gesichtern stellen Migration als erzwungen sowie Migranten als traumatisierte Opfer dar und zielen damit auf die Empathie des westlichen Betrachters, in dessen Köpfen die Bilder verschwimmen, ab. Dennoch gelingt es einzelnen Bildern spezifische Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. So zum Beispiel die Aufnahme des zweijährigen Alan Kurdi am Strand in der Nähe von Bodrum 2015, das in der internationalen Presse zirkulierte. Oder die mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnete Fotografie von Sergey Ponomarev für die New York Times im November 2015, die ein mit Migranten besetztes türkisches Boot vor der griechischen Insel Lesbos festhält. Beide Aufnahmen verweisen auf westlich ikonografische Vorbilder: der leblose Körper Alan Kurdis in den Armen des türkischen Polizisten ruft die christlich ikonografische Tradition der Pietá hevor. Ponomarevs's Fotografie erinnert an kanonische Gemälde wie etwa Théodore Géricaults Floß der Medusa. Während die Fotografen die Szenerien ungeachtet der ikonografischen Vorbilder aufnahmen, scheint es, als hätten die Medien diese Bilder gerade im Hinblick auf diese spezifische ikonographische Tradition ausgewählt, um bestimmte Emotionen, wie Mitleid, Angst und Verzweiflung beim Betrachter anzusprechen, so Tanya Sheehan. Zentrales Anliegen der Herausgeberin ist es deshalb, über Alternativen im Hinblick auf die Darstellung von Migration im Medium der Fotografie nachzudenken und Möglichkeiten in Bezug auf die Entstehung neuer Bilder und Narrative zu diskutieren.
So thematisiert etwa Jasmine Alinder in ihrem Beitrag unter dem keyword (im)mobility booklets, die die Internierung, Umsiedlung und Wiedereingliederung von 120.000 Amerikanern japanischer Abstammung im Kontext des Zweiten Weltkriegs fotografisch illustrieren. Vor dem Hintergrund des 2017 von der Trump-Regierung erteilten Einreiseverbots für muslimische Reisende und Flüchtlinge in die USA werden die Fotografien hinsichtlich Fragestellungen von visual culture, mobility und race anaylisiert. Bezugnehmend auf den „forensic turn“ sowie Foto-, Film- und Medientheorien untersucht Anne Teresa Demo (im)mobility im Hinblick auf bewegte und unbewegte Bilder. Dabei diskutiert sie die Einbeziehung und Zirkulation von Fotografien verschwundener Migranten an der mexikanisch-amerikanischen Grenze in zwischen 2001 und 2015 entstandenen Dokumentarfilmen.
Der Foto-Essay „Melilla. Back Door to Europe“ des Fotojournalisten Samuel Aranda wird von Parvati Nair unter dem keyword border besprochen. Die Fotografien dokumentieren die Alltagsrealität der Migranten aus Sub-Sahara Afrika in der geographischen Grenzregion zwischen dem globalen Süden und dem globalen Norden am Berg Gourougou in Marokko, an dessen Fuß sich die Stadt Mellila, ein Relikt aus spanischer Kolonialzeit, befindet. Am Beispiel lateinamerikanischer Migration in die USA gewährt Jason de León weiterhin Einblicke in seine Feldforschung an Grenzen und den Einsatz der Kamera als ethnographisches Werkzeug. Dabei versteht er das Überschreiten von Grenzen als einen komplexen zyklischen, sozialen Prozess, der weniger physisch als viel mehr zeitlich ist.
Unter dem keyword refugee untersucht Thy Phu die Geschichte und die visuelle Dimension des Genres der human-interest story und stellt diesem Paradox die Perspektive von Geflüchteten im Hinblick auf deren Selbstrepräsentation im Medium der Fotografie gegenüber. Vor dem Hintergrund ethischer Fragestellungen und den US-Präsidentschaftswahlen 2016, untersucht Marta Zarzycka weiterhin affektive Funktionen von sogenannten „Flüchtlingsfotografien“ in sozialen Netzwerken sowie affektive Reaktionen von Betrachtern auf diese.
In der von Anthony W. Lee geleiteten Roundtablediskussion mit den drei zeitgenössischen „Diaspora-FotografInnen“ Pok Chi Lau, Surendra Lawoti und Wei Leng Tay wird die Gültigkeit bisheriger Definitionen von diaspora im Hinblick auf multidirektionale globale Strömungen und deren vielfältige Verflechtungen mit dem Medium der Fotografie hinterfragt. So diskutiert Martha Langford unter Bezugnahme auf Methoden und Theorien der entangled transnational histories die kritische Rezeption der fotografischen Arbeiten des japanisch-kanadischen Fotografen Kan Azuma im Kontext der nationalistischen und multikulturalistischen Rhetorik im Kanada der 1970er Jahreund bietet damit eine alternative Lesart an.
Wie dargelegt, greifen die Beiträge des Sammelbands die Aktualität und Brisanz des Themas Fotografie und Migration in seiner globalen Dimension auf und bieten ein breites Spektrum an methodischen, theoretischen und inhaltlichen Herangehensweisen und Fragestellungen an. Eine übergreifende Kontextualisierung und Einbindung der besprochenen Beispiele im Hinblick auf die historische, zeitliche und räumliche Dimension der vielfältigen Verbindungen von Fotografie und Migration bleibt fragmentarisch. Vielmehr wird von der Herausgeberin eine theoretische und inhaltliche Zuordnung der einzelnen Beiträge nach den genannten keywords vorgenommen. Diese werden teilweise von den AutorInnen selbst auf Grundlage der von diesen besprochenen Beispiele problematisiert sowie deren Anwendbarkeit hinsichtlich der Komplexität des Themas, v.a. im Hinblick auf transnationale Prozesse, in Frage gestellt und teilweise sogar widerlegt. Die Markierung der in dieser Form voneinander isoliert bleibenden Handlungsorte in der den einzelnen Kapiteln voranstehenden Landkarten forciert diesen Eindruck.
Vor dem Hintergrund der sich täglich verändernden Situation im Hinblick auf die aktuellen Migrationsbewegungen und die Verbreitung massenmedialer Bilder gelingt es der Herausgeberin und den AutorInnen wichtige Schlaglichter auf die komplexe Thematik von Fotografie und Migration sowie deren globale Dimension im 21. Jahrhundert zu werfen und alternative Perspektiven und Narrative aufzuzeigen. So kann der Sammelband als umfassende Bestandsaufnahme eines bestimmten Moments verstanden werden, der bedeutende Impulse zur Weiterführung des Diskurses setzt.
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