Anton Holzer
Editorial, Heft 97, 2005
Erschienen in Fotogeschichte Heft 97, 2005
Es gibt eine Tendenz in der Fotografiegeschichte, die sich gern und fast ausschließlich der Galerie der großen Namen verschreibt. Der Museums- und Galeriebetrieb stellt offenbar die Weichen. Die Forderungen lauten: An den Wänden der Ausstellungen müssen bekannte Bilder hängen, sonst lasse sich die Schau nicht "verkaufen". Monografische Zusammenstellungen erhalten den Vorzug vor komplexeren thematischen Ausstellungen. Fotografie muss möglichst "pur" gezeigt werden, gerahmt und an der weißen Wand. Sie soll sich nicht zu sehr mit nichtfotografischen Ausstellungsstücken mischen. Fotografie hat sich demnach, um Kunst bleiben (oder werden) zu können, abzuschotten gegen die Welt der Politik und Gesellschaft. In der musealen Präsentation haben die Fotografien über den Zeiten zu schweben, die Periodisierungen der Zeitgeschichte dienen lediglich einer groben Einteilung von ästhetischen Entwicklungen in ein "Vorher" und "Nachher". Die Ereignisse der Straße laufen, wenn überhaupt, als ein weit entferntes Echo im Hintergrund mit. Ob das Bild für die Presse oder für einen Bildband, für eine Zeitschrift oder für ein Plakat entstanden ist, erfährt man bestenfalls im Katalog. Die Geschichte der Fotografie als Kunst scheut offenbar die Niederungen des Alltags und der Politik.
Dass die Fotografie von Anfang an (und bis heute) ein politisches Medium war (und ist), das oft aufmerksam, oft blind auf gesellschaftliche Veränderungen reagierte, aber auch Sehnsüchte und Phantasien aufgriff, prägte und kanalisierte, das macht die Fotografie im historischen Rückblick interessant. Die Zeitschrift Fotogeschichte muss (und will) den Konjunkturen des Ausstellungsbetriebs nicht auf dem Fuß folgen. Daher kommen immer wieder Stimmen zu Wort, die einem anderen Fotografieverständnis verpflichtet sind als dem hier skizzierten. Eine solche Fotografiegeschichte fragt bewusst nach den Querverbindungen zwischen Fotografie und Gesellschaft.
Das vorliegende Heft führt Texte zusammen, die – obwohl sehr unterschiedlich in ihrer Perspektive – allesamt über den engen Rand der Bilder hinausblicken. Jörn Glassenapp verortet die deutsche Landschaftsfotografie der 1970er Jahre in einem komplexen Geflecht an politischen und ästhetischen Bezügen, die bis in die Zwischenkriegszeit zurück reichen. Ulrich Keller analysiert ein frühes Beispiel einer medialen Kriegsinszenierung, die amerikanische Invasion auf Kuba 1898. Der voyeuristische Fokus auf den Krieg führte in der amerikanischen Bildpresse zu einer unglaublichen Vervielfältigung der Bilder, aber auch – so Kellers These – zu einer Zähmung der Berichte vom Horror der Gewalt. Christiane Arndt geht in ihrem Beitrag über die Leichenfotografie im 19. Jahrhundert den medialen Doppelungen und Überblendungen der Fotografie nach. Die Fotografie, deren frühe Jahre getragen waren von der Zuversicht, die Wirklichkeit festzuhalten, "beweist" auch das Gegenteil. Wenn die mimetische Kraft des Mediums schwindet, steigt, so die Autorin, ihr erzählerischer Anspruch. Rolf H. Krauss und Angela Matyssek beschäftigen sich mit zwei scheinbar gegensätzlichen Polen der "angewandten" Fotografie: ihrem Einsatz als Instrumente der Wissenschaft am Beispiel der kunsthistorischen Fotografie (Matyssek) und als Mittel des Vergnügens und der gesellschaftlichen Unterhaltung (Krauss). Rolf H. Krauss untersucht das Naheverhältnis zwischen populären Medien, Fotografie und Film. Um die Jahrhundertwende machten die Bilder im Schatten der Kunstfotografie (und des aufkommenden Films) Ausflüge auf den Jahrmarkt. Wenige Jahre später begann Richard Hamann mit seinem Bildarchiv Foto Marburg sein Vorhaben, die Fotografie auf wissenschaftliche Beine zu stellen. Sein Pionier- und Sammlergeist ist beeindruckend. Aber den Eigensinn der Fotografie konnte er nicht bändigen. Zum Glück!
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