Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie

hg. von Dr. Anton Holzer

Stefanie Diekmann

Zum langen Abschied

Herta Wolf (Hrsg.): Paradigma Fotografie. Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2002 (stw 1598), Übersetzungen aus dem Amerikanischen von Wilfried Prantner, Jörg Heininger und Rolf Braumeis, aus dem Französischen von Dieter Hornig, 10,2 : 17,5 cm; 467 S., 49 S/W-Abb., Taschenbuch, – 15

Erschienen in: Fotogeschichte 89, 2003

Der Band heißt: Paradigma Fotografie, im Untertitel: Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters. Ein Abschiedsprojekt also, das als solches in einer gewissen Tradition steht, denn tatsächlich hat der Abschied von der Fotografie schon vor einer ganzen Weile begonnen und sich für die Theoriegeschichte als überaus produktiv erwiesen. Roland Barthes (für viele Autoren der von Herta Wolf herausgegebenen Anthologie ein wichtiger Bezugspunkt), verwies in der 1980 veröffentlichten Schrift Die Helle Kammer seine Begegnung mit dem fotografischen Medium gleich mit dem ersten Satz ins Register des unwiederbringlich Vergangenen: "Eines Tages, vor langer Zeit, stieß ich auf eine Photographie (...)". Und Bernd Busch, der seine Wahrnehmungsgeschichte der Fotografie 1989 vorstellte, bemerkte, ebenfalls gleich auf der ersten Seite: "Wir scheinen uns auf den Abschied von diesem Medium vorbereiten zu müssen, noch bevor wir es erkannt und verstanden haben: zu früh, zu spät." Eine wehmütige Sichtweise, zweifellos; indes haben sich seither das Erkennen und Verstehen untrennbar mit ihr verknüpft, der lange Blick mit dem langen Abschied, die Reflexion mit der Rede von Vergängnis und der Idee, einen Gegenstand zu behandeln, der bereits ein wenig die Züge dessen angenommen hat, was Barthes das spectrum nannte.

Fotogeschichte wäre demnach (immer auch) Abschiedsgeschichte, einmal explizit, einmal implizit, seit wenigstens fünfundzwanzig Jahren, und die Fotografie, mit der die melancholische Sicht der Welt ein neues Dispositiv bekam, selbst jener melancholischen Kontemplation preisgegeben, die das Ende denkt und kein Ende findet. Statt dessen übersetzt sie sich in Texte, oft sehr schöne; der vorliegende Band macht da keine Ausnahme, auch wenn nicht alle Beiträge gleichermaßen lesenswert erscheinen. Manchen, z.B. Joel Snyders Das Bild des Sehens, hätte eine etwas radikalere Editionspraxis (konkret: Kürzung) nicht geschadet, andere scheinen etwas unfokussiert, und um "zentrale Beiträge zur Diskussion der Fotografie" (Versprechen des Klappentextes) handelt es sich wohl kaum in allen Fällen. Am stärksten, hier wie so oft, sind die Fallstudien: Texte, in denen sich Fotohistorie und Fototheorie über ein konkretes Szenario verschränken und einer jener Einsatzpunkte identifiziert worden ist, an denen das Geflecht der Diskurse, die die Geschichte des fotografischen Mediums mitbestimmt haben, die spezifische Dichte aufweist, die beides erlaubt: Rekonstruktion und Analyse, die Rede über das Partikulare und Einsicht in die Zusammenhänge, in denen das Partikulare seine Konturen gewinnt.

Für die Kunstwissenschaft ist diese Arbeitsweise vor allem in der amerikanischen Zeitschrift October kultiviert worden, und so kann es kaum verwundern, dass viele der Beiträge in Paradigma Fotografie von Autoren aus dem Umfeld dieser Zeitschrift verfasst und oft auch dort publiziert worden sind. Rosalind Krauss" Anmerkungen zum Index: Teil I und Christopher Philips" Aufsatz Der Richterstuhl der Fotografie sind in dem Band October. The first Decade, 1976 - 1986 enthalten; eine amerikanische Version von Hubert Damischs Anmerkungen zu einer Phänomenologie des fotografischen Bildes (im Original veröffentlicht im Magazin L"Arc im Jahre 1963 und damit bei weitem der älteste Text in der Anthologie) findet sich im Heft October No. 5, das ausschließlich Schriften über die Fotografie vorbehalten war; Autoren wie Abigail Solomon-Godeau, und Hal Foster sind wichtige Mitarbeiter der Zeitschrift, Benjamin H. Buchloh ein Co-Editor, und auch Douglas Crimp, aus dessen Buch Über die Ruinen des Museums ein Aufsatz ausgewählt wurde, gehörte bis 1990 zu den Herausgebern. In der Liste der Textnachweise wird dieser Bezug nur teilweise evident, aber zweifellos setzt Paradigma Fotografie das mit der Herausgabe von Rosalind Krauss" Die Originalität der Avantgarde und andere Mythen der Moderne begonnene Unternehmen Herta Wolfs fort, die Rezeption der October-Autoren voranzubringen und deren wichtigste Schriften in guten Übersetzungen zugänglich zu machen. Die Beiträge von Philips und Solomon-Godeau über die Diskurs- und Ausstellungspolitik der fotografischen Abteilung des Museum of Modern Art, Crimps Kommentar, der darlegt, inwiefern der Einzug der Fotografie in die Museen von einer Wiederbelebung konservativer Kunstmythologien getragen ist, Buchlohs Aufsatz zu Gerhard Richters Atlas sind tatsächlich beispielhafte Texte (denen Wolfs eigene Untersuchung zur Interdependenz von archivalischen und fotografischen Strukturen am Beispiel der Berliner Meßbildanstalt in nichts nachsteht). Einzig jener Aufsatz, in dem Krauss die indexikalischen Qualitäten der Fotografie untersucht, um Indexikalität abschließend zum entscheidenden Moment in der Kunst der 70er zu erklären, hat eine gewisse Patina angesetzt; interessanter ist ihr Text Das Schicksalsministerium, der gleichfalls in der Anthologie enthalten ist und sich mit André Malraux" Großprojekt der fotografischen Zusammenführung aller Kunstwerke dieser Welt zu einem imaginären Museum befasst.

Malraux und sein musée imaginaire, das MoMA und seine fotografischen Kustoden Beaumont Newhall, Edward Steichen und vor allem John Szarkowski: Sie alle haben in den Beiträgen zu Paradigma Fotografie mehr als einen Auftritt. Dies, ebenso wie die zahlreichen Rekurse auf Barthes" Helle Kammer oder Benjamins Kunstwerk-Aufsatz, zeigt, dass die Fototheorie der letzten zwei, drei Jahrzehnte, bei allem Sinn für Partikularität, ihre zentralen Szenarien und Exempel hat. Lieblingsgegenstände, wenn man so will, nur dass damit nicht notwendig eine affirmative Haltung verbunden ist. Steichens Ausstellung The Family of Man, Szarkowskis umfassender Versuch, die Fotografie aus ihren Entstehungs- und Verwendungskontexten zu lösen, um fortan die kunstkritischen Kriterien der klassischen Moderne auf sie anzuwenden, oder Malraux" fotografisches Supermuseum erhalten ihre Wichtigkeit gerade als Gegenstände der Problematisierung – Beispiele eines ideologischen, mythologischen Umgangs mit fotografischen Bildern, dem die Autoren ihr Konzept der Kontextualisierung entgegensetzen. In eine ähnliche Richtung – wider die Artistenmetaphysik – geht auch der Beitrag von John Tagg über den Zusammenhang von Schöpfungs- und Eigentumsfiktionen. Allerdings ist dieser Text, und mehr noch Allan Sekulas Aufsatz Der Handel mit Fotografien, etwas beschwert durch die redundante Einarbeitung neomarxistischer Theoreme: Werkherrschaftskritik vom Reißbrett, wenn man so will; die Kommentare eines Hillel Schwartz zum selben Thema  sind da interessanter.

Umgekehrt ist der nachgerade ikonische Status von Barthes" Schrift über die Fotografie evident. Mehrfach wird auf sie verwiesen, zwei Beiträge (Herta Wolfs Ausführungen Zu Roland Barthes" "Die helle Kammer"  und Martha Iversens Was ist eine Fotografie") stehen zu ihr in mehr oder weniger exegetischer Beziehung, und zwei Interviews, eines von 1977, das zweite von 1979, dokumentieren Barthes" Auskünfte zu diesem Buch, das die neuere Fototheorie beeinflusst hat wie kaum ein anderes. Als 1999 Band IV der Theorie der Fotografie, herausgegeben von Hubertus von Amelunxen, erschien, wurde mehr als einmal angemerkt, wie viele der darin versammelten Texte auf Die helle Kammer bezogen seien. Seine Bedeutung für den vorliegenden Band lässt sich aber noch etwas genauer erklären: Keiner der "großen" Texte über das fotografische Medium hat das metonymische Verhältnis zwischen dem Foto und seinem Referenten so ausführlich erkundet wie dieser, keiner in vergleichbarer Weise auf das Paradigma der Spur gesetzt, auf Restverbindungen, Beglaubigungen von Präsenz, kurzum: all jene Momente, die sich nicht einfach aus dem Register des Analogen in das des Digitalen transponieren lassen. Digital indes ist die Zukunft der Fotografie, und die These, die implizit im Untertitel der Anthologie formuliert wird, die, dass sie als digitale die Bezeichnung "fotografisch" nicht länger verdient.

Ende des fotografischen Zeitalters – man verabschiedet sich, auf lange Sicht von einem Medium und für den Moment schon einmal von seiner Essenz. Das Fotografische ist nicht mehr, das scheint hier der status quo. Und da sich die Aufsätze in der zweiten Hälfte des Bandes kaum mit der Frage nach Essenzen befassen – ihr theoretischer Zuschnitt schließt das aus ", muss die Zäsur zwischen "fotografisch" und "post-fotografisch" wohl anderswo zu suchen sein: in den Beiträgen der ersten Hälfte, jenen vier oder fünf Texten, die um die Figur des Index kreisen, und jenen, die den Bedingungen digitaler Bildaufzeichnung (& -gestaltung) gewidmet sind. Mit dem Wechsel vom einen zum anderen befasst sich dabei nur ein Aufsatz, der leider zu den schwächsten in dieser Publikation gehört. Peter Lunenfeld skizziert in seinen Ausführungen die Transformation der indexikalischen Verbindung zwischen Bild und Objekt in eine dubitative, i.e. fragwürdige und letztlich opake, um gleich darauf zu erklären, dass damit nichts anderes erschüttert sei, als "die Reste unseres überkommenen Glaubens" an eine Beziehung, die man sich als längst korrumpierte vorzustellen hätte. Die Zäsur analog/digital wäre mithin keine Zäsur, sondern lediglich Zuspitzung einer problematisch gewordenen Relation: kein Paradigmenwechsel, keine prinzipiellen Veränderungen, der Abschied sollte unter solchen Umständen nicht allzu schwer fallen. Interessanter und vielversprechender scheint Wolfgang Hagens Vorschlag, die Fotografie, wie Barthes sie kannte, und die, deren Konjunktur in die letzten zehn, fünfzehn Jahre fällt, auf ihr entropisches bzw. nicht-entropisches Moment hin zu befragen und als Unterscheidungskriterium zwischen beiden die Irreversibilität des chemischen und die absolute Reversibilität des digitalen Prozesses zu bestimmen. Über die vielzitierte, wenig ausgelotete Wandlung, die mit dem digitalen Bild assoziiert wird, lässt sich aus seinem Aufsatz Die Entropie der Fotografie. Skizzen zu einer Genalogie der digital-elektronischen Bildaufzeichnung am meisten lernen. Ob einige Texte des Folgebandes, der für das zweite Halbjahr 2003 angekündigt ist, die Auseinandersetzung weiter perspektivieren (bitte einfacher!) werden, bleibt abzuwarten.

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