Bei Mao in China
Peter Pfrunder im Gespräch über den Fotojournalisten Walter Bosshard
Erschienen in: Fotogeschichte, Heft 149, 2018
Der Schweizer Walter Bosshard (1892–1975) gehört zu den ganz Großen des internationalen Fotojournalismus. Er arbeitete seit 1928 für deutsche, Schweizer und angloamerikanische Medien. Mit seinen Fotoreportagen aus Ostasien trug er in den 1930er Jahren wesentlich zur Etablierung einer neuen globalen Politikberichterstattung bei. In der Fotostiftung Schweiz in Winterthur ist derzeit das Werk des Fotografen in der Ausstellung „Walter Bosshard/Robert Capa: Wettlauf um China“ neu zu entdecken. Im Mittelpunkt der Schau, die noch bis 10. Februar 2019 zu sehen ist, stehen Bosshards Bildberichte aus dem China der 1930er Jahre. Für Ausstellung und Katalog verantwortlich zeichnet Peter Pfrunder, Direktor und Kurator der Fotostiftung Schweiz. Mit ihm haben wir über die Hintergründe des Projekts und die neuen Forschungen zu Walter Bosshard gesprochen.
Anton Holzer/Fotogeschichte: Der Schweizer Fotojournalist Walter Bosshard ist in der internationalen Fotoszene ganz und gar kein Unbekannter. Was hat Sie, Herr Pfrunder, dazu bewogen, im Jahr 2018 noch einmal einen neuen Anlauf zu wagen? Sie haben selbst vor 20 Jahren eine Bosshard-Ausstellung und einen Katalog gemacht. Zeigen Sie einen anderen, einen neuen Bosshard?
Peter Pfrunder: Der Anstoß kaum von außen: Vor einigen Jahren hatte ich Gelegenheit, der chinesischen Fotoexpertin Duan Yuting Einblick ins Bosshard-Archiv zu geben. Ihre frische Sicht auf den umfangreichen China-Bestand aus den Jahren 1931 bis 1939 öffnete auch mir die Augen. Es gibt kaum etwas Vergleichbares für diese Schlüsselperiode der chinesischen Geschichte, weder von chinesischen noch von ausländischen Fotografen. Wir fassten daher bald den Plan, die Bilder dorthin zurückzubringen, wo sie entstanden sind. 2015 konnten wir eine Bosshard-Ausstellung in China organisieren, und zwar im Rahmen des Fotofestivals von Lianzhou (Provinz Guangdong). Wir kuratierten gemeinsam, aber Duan Yuting hatte eine wichtige Stimme bei der Auswahl der Bilder. Dank der chinesischen Sicht rückten neue Fragestellungen in den Vordergrund. Unser Blick richtete sich – neben der Ästhetik – weniger auf das Exotische als auf den politischen und historischen Gehalt. Manche Bilder, die wir vor 20 Jahren übersehen hatten, wurden plötzlich bedeutungsvoll. Das Bemerkenswerte am Bosshard-Archiv: es liefert eine Deutung der Geschichte, die deutlich von der offiziellen Geschichtsschreibung abweicht. Die starken Reaktionen des chinesischen Publikums auf unsere Ausstellung regten mich schließlich an, weitere Forschungen über Bosshard und China anzustellen und eine neue Sicht zu präsentieren – auch für ein europäisches Publikum.
Sie haben den Katalog "China brennt. Bildberichte 1931–1939" genannt. Warum dieser Fokus auf China in den 1930er Jahren?
China hat eine herausragende Stellung in Bosshards Schaffen. Einerseits durch die Kontinuität seiner Berichterstattung: in den 1930er Jahren lebte er fast ununterbrochen in China und erarbeite sich ein Expertenwissen, mit dem er sich von den meisten Fotojournalisten unterschied, die das Land kurzfristig besuchten, um dann wieder anderen Aufträgen nachzueilen. Anderseits konnte er in dieser Zeit aus nächster Nähe die Entwicklung des sino-japanischen Krieges verfolgen, dessen Dimensionen und Folgen bis heute im Westen wenig bekannt sind. Die Konzentration auf das Jahrzehnt in China erlaubt es, die Bilder in ihren fotojournalistischen Kontext einzubetten. Es geht nicht einfach um tolle Einzelbilder, sondern um ausgewählte Reportagen und thematisch dichte Arbeiten. Bosshards Rolle als Korrespondent, seine Arbeitsmethoden, aber auch das Nebeneinander unterschiedlicher journalistischer Formate sind exemplarisch für die Geschichte des Fotojournalismus. Die Überlagerung der drei Ebenen – Stellenwert innerhalb des Werks, historisch-politische Relevanz, Pionierzeit des Fotojournalismus – rechtfertigt den Fokus auf China. Dazu kommt, dass Bosshard in dieser Phase auch als Fotograf und Fotojournalist hohe Ambitionen entwickelte. Seine Bildberichte hatten eine Qualität, die er vorher und nachher nur selten erreichte.
Kommen wir noch einmal kurz auf Bosshards fulminante Fotokarriere zurück. Er wurde 1892 geboren und ist in einem kleinen Schweizer Bauerndorf aufgewachsen. War die Karriere als internationaler Fotojournalist nicht sehr ungewöhnlich? Können Sie ein paar wichtige Stationen im Leben Bosshards noch einmal benennen.
Bosshard gehört zu jener Generation von Fotojournalisten, die diesen Beruf um 1930 neu erfanden: häufig waren es Autodidakten, die mit kreativen Ideen, körperlicher Tüchtigkeit, Verhandlungsgeschick, hoher Risikobereitschaft und als gute Geschichtenerzähler sehr schnell reüssierten. Das Gespür für eine starke visuelle Dramaturgie war wichtiger als die technischen Vorkenntnisse. Die Konjunktur der neuen illustrierten Zeitschriften, die hohe Nachfrage nach aussergewöhnlichen Bildern und die Möglichkeiten der dynamischen Kleinbildfotografie erzeugten eine Art Goldgräberstimmung: Jeder hatte eine Chance.
Bosshard war ausgebildeter Lehrer und stand während des Ersten Weltkriegs als Soldat an der Grenze, suchte aber bald darauf nach neuen Herausforderungen. 1927/28 erhielt er durch glückliche Umstände eine Anstellung als technischer Leiter der Deutschen Zentralasienexpedition und kehrte mit einer Fülle von Bildern nach Hause, die er international verkaufen konnte. Er wurde von der Berliner Agentur Dephot unter Vertrag genommen und publizierte unter anderem in der Berliner Illustrirten Zeitung und der Münchner Illustrierten Presse. 1930 wurde er von der Münchner Illustrierten nach Indien entsandt, um über die Unabhängigkeitsbewegung zu berichten. Mit seinen sensationellen Gandhi-Porträts gelang ihm der internationale Durchbruch als Fotograf. Im selben Jahr machte er sich mit dem Buch Indien kämpft!, das er nach seiner achtmonatigen Indien-Reise veröffentlichte, auch als schreibender Journalist einen Namen. So wurde er über Nacht zu einem gefragten Mann für die politische (Bild-)Berichterstattung.
Ein talentierter Allrounder also?
Ja. Bosshard beherrschte die Kameratechnik ebenso wie die journalistische Recherche, und es bereitete ihm keine Mühe, mit den einflussreichsten Politikern ein Interview zu führen oder längere analytische Texte zu verfassen – all dies konnte er als Einmannbetrieb abdecken. Als die Japaner 1931 in China einmarschierten, erkannte er sofort, dass die Nachfrage nach China-Berichten steigen würde. Tatsächlich bot ihm der Ullstein-Verlag einen Vertrag als „Sonderberichterstatter“ an, so dass er 1933 seinen Wohnort nach Beijing verlegte. Ab 1937/38 bekundete Bosshard allerdings zunehmend Mühe mit der gleichgeschalteten Nazi-Presse. Von dieser Zeit an lieferte er seine Berichte an die angelsächsischen und schweizerischen Medien. Vor allem die Agentur Black Star, die unter anderem auch Life belieferte, wurde zu einem wichtigen Abnehmer. 1939 erhielt er schließlich einen Korrespondenten-Vertrag der Neue Zürcher Zeitung, was zu einer deutlichen Verlagerung seiner Arbeit führte: Das Schreiben wurde zusehends wichtiger als das Fotografieren.
Bevor Bosshard Fotojournalist wurde, war er in den 1920er Jahren Plantagenmanager und Edelsteinhändler in Fernost. Hat diese geschäftliche Ader seinen Erfolg als Fotograf eigentlich begünstigt? Immerhin erschien sein erstes Buch ja fast gleichzeitig mit seinem Einstieg ins Zeitungsgeschäft. Er wusste also, wie man sich im Mediengeschäft bewegte.
Ohne Zweifel. Bosshard hatte ein unternehmerisches Flair, und er verstand es gut, sich in einem sehr kompetitiven Umfeld zu behaupten – durch die Wahl seiner Themen, durch ein Netzwerk von wichtigen Kontakten oder eben durch die Kombination von Fotografieren und Schreiben. Gerade für die Berichterstattung aus China erarbeitete er sich in den dreissiger Jahren eine Art Monopolstellung, die sich auch geschäftlich auszahlte. Seine Ambitionen waren allerdings nicht vom kommerziellen Erfolg geleitet. Im Vordergrund stand bei Bosshard ein echtes journalistisches Interesse: Das Schürfen nach Information, der Drang zum Dokumentieren, die Lust am Vermitteln, Erzählen und Gestalten, die Begegnung mit aussergewöhnlichen Persönlichkeiten, die Möglichkeit zum Reisen oder die Freiheit des „roving correspondent“. All dies war für ihn viel wichtiger als schnelles Geld.
War er ein Abenteurer, ein Abenteurer mit Kamera?
In gewisser Weise ja. Walter Bosshard liebte es, abgelegene Gebiete zu bereisen, und er hatte offensichtlich keine Angst, sich gefährlichen Situationen – etwa an der Kriegsfront – auszusetzen. Die Journalistin Freda Utley schrieb über ihn, dass er wie ein Bergführer jedes Hindernis zu überwinden wisse und dabei trotzdem immer den Charme eines weltläufigen Gentleman bewahre. Bosshard scheute kein Risiko, um zu guten Bildern und Geschichten zu kommen – exemplarisch etwa seine abenteuerliche, sechstägige Reise nach Yan’an, im Hinterland der Provinz Shaanxi, wo sich Mao 1938 verschanzt hatte. Er war auch immer dabei, wenn es eine Gelegenheit gab, an Expeditionen teilzunehmen, auf denen das Improvisieren gefragt war. Mehr als einmal entrann er nur knapp dem Tod. Möglich, dass er solche Adrenalinschübe brauchte, um auch gegen persönliche Krisen anzukämpfen. In seinen Tagebüchern gibt es Momente der Verzweiflung und der existenziellen Sinnsuche, die er aber hinter der Fassade des zähen und mit allen Wassern gewaschenen Abenteurers versteckte.
Herr Pfrunder, Sie haben die letzten Monate intensiv die verstreuten Bosshard-Bestände gesichtet. Wie nähert man sich eigentlich all diesen Teilarchiven? Das Archiv für Zeitgeschichte der ETH Zürich hat Bosshard Bestände, dazu kommt die Bosshard-Sammlung in der Fotostiftung, die sie betreuen. Aber Sie haben noch ganz andere Fenster zu Bosshard aufgetan ...
Während unsere Stiftung das Negativarchiv besitzt, wird der umfangreiche schriftliche Nachlass im Archiv für Zeitgeschichte aufbewahrt. Dazu gehört auch wichtiges visuelles Dokumentationsmaterial, etwa die kleinformatigen Archivkopien seiner Fotos. Da beide Institutionen in den letzten Jahren große Fortschritte in der Aufarbeitung und Digitalisierung gemacht haben, kann man die Bilder und die dazugehörigen Informationen heute wesentlich besser zusammenfügen als früher. Obschon Teile des Archivs verschollen sind, sind die Bestände der beiden Institutionen so umfangreich, dass eine komplette Erschließung mit Verknüpfung der verschiedenen Informationsebenen noch nicht möglich ist. Immerhin sind aber die Grundlagen dafür vorhanden, und aus der Kombination der beiden Teilbestände ergibt sich ein recht scharfes Profil von Bosshards Schaffen. Allerdings fehlten bisher fast alle (meist von ihm selbst vergrößerten) Prints, die für die Reproduktion in Zeitschriften verwendet wurden. Erst vor kurzem ist es nun doch gelungen, solche Vergrößerungen ausfindig zu machen. Glücklicherweise werden im ehemaligen Ullstein Bildarchiv in Berlin – heute ullstein bild – immer noch an die 500 davon aufbewahrt. Auch im Archiv der Süddeutschen Zeitung sind Bosshard-Bilder zum Vorschein gekommen, die aus dem Archiv der Münchner Illustrierten stammen. Und schließlich erweist sich auch das Black Star-Archiv, das von der Ryerson University in Toronto übernommen wurde, als überraschende Quelle: gemäß Angaben aus Toronto lagern darin rund 1.500 Bosshard-Prints, die noch auf ihre Erschließung warten...
Es geht also wesentlich darum, all diese Informationen und Mosaiksteine zu einem neuen Bild zusammenzufügen. Wenn Sie zurückblicken: Hätte man eigentlich in den 1980er Jahren, als Bosshard erstmals für ein breites Publikum entdeckt wurde, bereits denselben Bosshard entdecken können, den Sie gefunden haben? Oder haben sich die Fragen, Perspektiven und Zugänge in der Zwischenzeit deutlich verändert?
Das Material wäre grundsätzlich vorhanden gewesen, aber der Zugang war damals schwierig. Ging es in den 1980er Jahren darum, einen Überblick über die verschiedenen Teile seines Schaffens zu gewinnen, so steht jetzt – vor allem am Beispiel China – die Kontextualisierung und Vertiefung im Vordergrund. Archivalien, welche den Verwendungszusammenhang sichtbar machen, schauen wir heute mit anderen Augen an. Es ist ja fast selbstverständlich geworden, zum Beispiel Kontaktbögen, Rückseiten von Prints oder Abdruckbelege miteinzubeziehen, wenn man ein fotojournalistisches Werk in einem Buch veröffentlicht. Bei historischen Fotografien stellen wir uns nicht mehr nur die Frage, was sie uns erzählen, sondern auch, wie sie sich zu einem Geschichtsbild verdichten und was für eine Wirklichkeit „konstruiert“ wird. Bei den China-Bildern kommt eine erhöhte Sensibilität für die Geschichte dieses Landes dazu, das inzwischen zur Weltmacht aufgestiegen ist.
Kommen wir noch einmal auf die Rückkehr der Bilder Bosshards nach China zurück. Sie sagten, den Anlass für die neuerliche Beschäftigung mit Bosshard habe ein Ausstellungsprojekt in China gegeben, das Sie 2015 realisiert haben. Was haben Sie daraus gelernt? Wird Bosshard in China anders als im Westen gesehen?
Ja, auf jeden Fall. Das hängt natürlich auch mit unseren meist sehr rudimentären Kenntnissen der Geschichte Asiens zusammen. Wer mit Bosshard-Bildern nach China geht, erfährt zunächst einmal, dass der Zweite Weltkrieg nicht erst 1939 begann. Die kriegerischen Auseinandersetzungen mit Japan begannen ja schon 1931 und zogen sich dann durch die 1930er Jahre – mit traumatischen Folgen, die bis heute unbewältigt sind. Das spiegelt sich deutlich in Bosshards Werk. Eine der großen Fragen, die in China nach wie vor nicht offen diskutiert wird, bezieht sich auf die Rolle der nationalistischen Armee unter Tschiang Kai-Scheck im Kampf gegen die Japaner. Im offiziellen Heldenmythos werden Mao und die Rote Armee stark verklärt, während die nationalistische Kuomintang praktisch ausgeblendet wird. Bosshards Bilder zeigen aber eine ganz andere Realität, und das ist für vielen Chinesen sehr faszinierend und befreiend – solche Bilder wurden lange Zeit aus dem visuellen Gedächtnis verbannt.
Letztes Jahr wurde die Schau in Shanghai gezeigt. Etwa ein Drittel der Bilder waren aber nicht zu sehen, sie wurden zensiert. Warum eigentlich?
Die Zensur betraf hauptsächlich Bilder, auf denen Mao, Tschiang Kai-Scheck sowie die triumphierenden japanischen Truppen zu sehen waren. Die beiden großen Führer als Antagonisten in derselben Ausstellung zu haben, war nicht möglich, denn das hätte eine Diskussion provoziert, die wohl als zu gefährlich eingestuft wurde – denn sie stellt den offiziellen Geschichtsmythos in Frage. Man kommt beim Betrachten von Bosshards Fotografien sofort zur Frage, wie der japanische Vormarsch gestoppt werden konnte. Und dazu lässt die Partei nur eine Antwort gelten. Die Möglichkeit, solche historischen Fotografien in sozialen Medien wie Wechat zu verbreiten – das omnipotente Gegenstück zum westlichen Whatsapp – wird in China sehr gerne genutzt. Die Behörden haben Angst vor der Unruhe und den unkontrollierbaren Diskussionen, die dadurch losgetreten werden könnten. Deshalb wohl wurden auch alle Bilder zensuriert, die etwas mit Religion zu tun haben.
Apropos politische Einflussnahme: In den 1930er Jahren änderte sich auch der politische Kontext in Europa radikal. Bosshard arbeitete für deutsche Illustrierte, die seit 1933 unter NS-Einfluss standen. Wie bewegte er sich in diesem Feld? Wurde er zensiert, musste er inhaltliche Zugeständnisse machen? Und wie stand er dem Nationalsozialismus generell gegenüber?
Die starke Fokussierung auf deutsche Medien stürzte Bosshard in ein Dilemma. Als er um 1930 seine Beziehung zum Ullstein Verlag aufbaute, war dieser noch in jüdischem Familienbesitz. 1934 wurde der Verlag "arisiert", was sich auch in den Inhalten und der politischen Ausrichtung der Berliner Illustrirten spiegelte, der bedeutendsten und prominentesten Plattform für Walter Bosshard. Im Fernen Osten war er zwar nicht dem gleichen Druck ausgesetzt wie seine Kollegen in Europa. Aber er hatte natürlich keine Kontrolle darüber, was die Redaktion in Berlin aus seinen Berichten machte. Der Filter, der angewendet wurde, spiegelt sich etwa in den Titeln oder in den Themen, die für die Veröffentlichung bevorzugt wurden. Diese indirekte Zensur machte Bosshard schon zu schaffen. Bis 1934 war Kurt Szafranski, der jüdische Geschäftsführer der BIZ, sein wichtigster Ansprechpartner und Förderer. Als sich Szafranski 1935 in die USA rettete, wurde Bosshards Stellung in Berlin prekär. Ab 1937 distanzierte er sich ausdrücklich von den nationalsozialistisch geprägten Medien wie der BIZ. Dafür assoziierte er sich mit der von Kurt Szafranski gegründeten Agentur Black Star. Szafranski, der ja 1936 auch Life mitbegründete, dürfte ihm auch die Türe zu dieser Bühne geöffnet haben (zumindest via Black Star).
1938 veröffentlichte Life eine Aufsehen erregende Reportage von Bosshard über Mao Zedong und die Rote Armee. Wie kam es eigentlich dazu?
Die Mao-Geschichte war zweifellos ein Scoop, der international wahrgenommen wurde. Nachdem Edgar P. Snow in seinem Buch Red Star Over China (1937) den ersten großen Report über Mao und die Rote Armee veröffentlicht hatte, war die Nachfrage nach Informationen und Bildern aus dem kommunistischen Lager sehr groß. Aber es war für Journalisten äusserst schwierig, in die abgelegene und gut abgeschirmte "Rote Hauptstadt" Yan'an vorzudringen, wo sich Mao verschanzt hatte. Dank einem hervorragenden Beziehungsnetz und Empfehlungsschreiben von kommunistischen Spitzenfunktionären war Bosshard der erste Europäer, der – zusammen mit dem Amerikaner Archibald Steele, dem Korrespondenten der Chicago Daily News – von Mao empfangen wurde. Sein Bericht erschien nicht nur in Life, sondern auch in einer sechsteiligen Serie der Neuen Zürcher Zeitung – hier allerdings nur mit wenigen Illustrationen.
Unterschieden sich die beiden Bildberichte?
In der NZZ wie in den angelsächsischen Medien, die er zu dieser Zeit belieferte, konnte er die komplexen Hintergründe des sino-japanischen Kriegs zweifellos auf differenziertere Art beleuchten und analysieren. Bosshard liebte das Schreiben. Er war ein äusserst produktiver und versierter Autor und er machte zu dieser Zeit sogar den Versuch, ganz auf die Schriftstellerei zu setzen – eine Rechnung, die allerdings nicht aufging.
Sie schildern in Ihrem Buch auch die Konkurrenz zwischen Robert Capa und Walter Bosshard um die ersten und besten Bilder aus China im Jahr 1938. Wie kam es zu diesem Wettrennen?
Capa wurde 1938 als Kameramann für den Film "The Four Hundred Million" von Joris Ivens angeheuert. Das in China arbeitende Filmteam wurde jedoch von den Nationalisten permanent überwacht. Capa hatte sich erhofft, neben den Dreharbeiten eigene Reportagen realisieren zu können. Auch er träumte von einer Geschichte über Mao und die Rote Armee. Aber es gelang ihm nicht, sich aus dem Team zu lösen und nach Yan'an vorzudringen. Umso mehr frustrierte es ihn, dass Bosshard Erfolg hatte. Denn es war klar, dass Life nur denjenigen berücksichtigen konnte, der das Ziel zuerst erreichte.
... und das war Bosshard. Beide, Bosshard wie Capa, fotografierten nicht nur, sondern drehten auch Filme und experimentierten mit Farbaufnahmen. War es auch ein multimediales Wettrennen?
Ja, in gewisser Weise. Auch im Umgang mit den brandneuen Kodachrome 35mm-Farbfilmen spielte sich die Konkurrenz ab – eine eher freundschaftliche Konkurrenz. Ab 1938 experimentierten die Life-Herausgeber mit Farbe. Sie drängten darauf, Farbe in die Schwarzweiß-Reportagen zu bringen. Daher rüsteten sie einzelne Fotografen mit entsprechendem Material aus – so auch Walter Bosshard und Robert Capa. Bosshards Mao-Geschichte in Life beginnt tatsächlich mit drei Farbbildern – darunter wohl das erste farbig aufgenommene und so reproduzierte Mao-Porträt.
Und auch Capas Bilder erschienen in Farbe?
Ja. Einige Wochen später brachte Life die ersten Kriegsbilder in Farbe, und zwar von Robert Capa. Dieser hatte wie Bosshard die japanische Bombardierung von Hankau fotografiert. Es gibt Hinweise, dass Capa zu diesem Zweck einen Kodachrome-Film von Bosshard erhalten hatte, und es gelangen ihm damit einige bemerkenswerte Bilder. Diese Anekdoten sind bezeichnend für den medialen Umbruch der Zeit und den Konkurrenzdruck – zwischen den verschiedenen Verlagen und Medienerzeugnissen, aber auch zwischen den Fotojournalisten, die sich durch Innovation und besondere Leistungen profilieren mussten, um immer wieder zu neuen Aufträgen zu kommen. Bosshard drehte parallel zur Fotografie zahlreiche Kurzfilme.
"Ich sehne mich nach ein wenig Glück", schrieb Bosshard 1935 in seinem Tagebuch. 1939 nahm er eine Stelle als Korrespondent der Neuen Zürcher Zeitung an. Warum hängte er, nach so vielen Abenteuern und Reisen, sein unabhängiges Leben als Fotoreporter plötzlich an den Nagel?
Einerseits veränderte der Kriegsausbruch in Europa auch die Arbeitsbedingungen für einen Fotojournalisten in China; anderseits dürfte Bosshard nach zehnjähriger Hektik an der Berichterstatterfront eine gewisse Erschöpfung gespürt haben. Zwar war er auch als Korrespondent der NZZ fast immer unterwegs, aber er hatte ein gesichertes Einkommen und die Möglichkeit, seine zweite Leidenschaft, das Schreiben, weiter zu entwickeln – ohne die Freiheiten des "roving correspondent" aufzugeben. 1939 hatte er eine ausgezeichnete Reputation als Beobachter und Kommentator der weltpolitischen Entwicklungen, und er konnte die in den Konfliktzonen Asiens gewonnenen Erfahrungen überall einbringen. Seine Bücher Erlebte Weltgeschichte (1947) oder Generale, Könige, Rebellen. Weltgefahr im Mittleren Osten(1954) zeugen davon.
Herr Pfrunder, noch eine letzte Frage. 1975 starb Bosshard. Sein Werk geriet, wie Sie schreiben, danach für einige Zeit in Vergessenheit. Warum?
Eigentlich verschwand Walter Bosshard schon in den 1950er Jahren aus der Medien-Öffentlichkeit. 1953 stürzte er bei einem Einsatz in Korea so unglücklich, dass er fortan mit einer Hüftverletzung leben musste, die seine Mobilität stark einschränkte. In der Folge zog sich der damals 61jährige Bosshard auch aus dem Journalismus zurück. Die Fotografie war bereits mit dem Job bei der NZZ in den Hintergrund gerückt, und die großen Auftritte, die er in den 1930er Jahren hatte, waren im Aufbruch der Nachkriegszeit bald vergessen. Bosshard selbst tat wenig dafür, um als großer Fotoreporter in Erinnerung zu bleiben. Er übergab auch sein ganzes Negativarchiv an enge Freunde, die es wiederum der Fotostiftung Schweiz schenkten. Ein wichtiger Grund, weshalb Bosshard vergessen wurde, liegt sicher auch darin, dass fast sämtliche Vintage Prints in diversen Redaktionsarchiven verschwunden waren. So fehlte er auch auf dem Fotomarkt und im internationalen Ausstellungsbetrieb. Im Gegensatz zu anderen wichtigen Reportern seiner Generation konnten seine Werke nicht in die großen Fotosammlungen gelangen.
Und warum wurde er ab den 1980er Jahren wiederentdeckt.
Auslöser für die Wiederentdeckung war wohl das wachsende Interesse an den Anfängen des modernen Fotojournalismus, wobei auch die Pioniere im Umfeld der Dephot neu gewürdigt wurden. Entscheidend war dann aber die Erschließung des schriftlichen Nachlasses in den 1990er Jahren. In einem vom schweizerischen Nationalfonds geförderten Projekt haben wir damals begonnen, das Negativarchiv mit den zugehörigen Informationen zu verbinden und die Bilder in ihrem Kontext zu lesen. In der jüngsten Phase war es der Input aus China, der eine neue Beurteilung seiner Leistungen ermöglichte. Heute gibt es kaum mehr Zweifel daran, dass Bosshard eine herausragende Figur in der Geschichte des internationalen Fotojournalismus ist.
Vielen Dank für das Gespräch!
Ausstellung: Walter Bosshard / Robert Capa. Wettlauf um China, Fotostiftung Schweiz
22. September 2018 bis 10. Februar 2019 www.fotostiftung.ch
Katalog: Walter Bosshard: China brennt. Bildberichte 1931–1939, hg. von Peter Pfrunder, Zürich: Limmat Verlag, 2018
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