Miriam Halwani
Photography at MoMA
Eine „große“ Geschichte mit Mängeln
Die große Geschichte der Photographie: Die Anfänge, in Zusammenarbeit mit dem MoMA New York hg. und mit Texten von Quentin Bajac, Lucy Gallun, Roxana Marcoci und Sarah Hermanson Meister u.a., München: Schirmer/Mosel 2017, aus dem Englischen von Matthias Wolf, Ursula Wulfekamp und Sven Scheer, 376 S., 31,5 x 24 cm, 396 Abb. in Farbe und S/W, geb. mit Schutzumschlag, 78 Euro
Erschienen in: Fotogeschichte, Heft 148, 2018
Die „umfassendeste(n) Darstellung der frühen Photographie-Geschichte überhaupt“ habe man publiziert, annonciert der Münchener Verlag Schirmer/Mosel angesichts des ersten, und zuletzt erschienenen, Bandes Die große Geschichte der Fotografie: Die Anfänge. Der Schuber ist nun voll. Drei großformatige Bände zu insgesamt 228 Euro erzählen in einer allgemeinen Einleitung, jeweils acht Kapiteln à vier Seiten Text und umfangreichem Bildmaterial nicht irgendeine Geschichte der Fotografie, sondern die „große“ Geschichte von den Anfängen bis zur Gegenwart. Entsprechend groß sind auch die Erwartungen. Band eins, Die Anfänge, umfasst die Jahre 1840 bis 1920. Warum 1840 und nicht 1839 oder früher? Weil sich die Erzählung entlang ausgesuchter Werke aus der Sammlung der Museum of Modern Art spinnt und die frühesten Arbeiten der Sammlung auf 1840 datiert sind. Photography at MoMA heißt die Reihe im Original. Zwei der Werke finden sich auf dem deutschen Cover: eine nackte Frau (von Auguste Belloc) und ein schnelles Auto (von Jacques-Henri Lartigue). Zusammen mit dem Titel und der Verlagsankündigung lässt sich ein reißerischeres Marketing für den Überblick über den Teilbestand eines Museums kaum denken.
Das großformatige und mit 376 Seiten gewichtige Buch lässt sich lesen, betrachten und vermessen. Ich beginne mit dem Vermessen. Wie auch die beiden anderen Bände, gliedert sich das Buch also in acht Kapitel, angefangen mit „The Pencil of Nature: Großbritannien“ über „Frühe Photographie in Frankreich“, „Virtuelle Reisen rund um die Welt“, „The New Frontier: Amerika entdeckt sich selbst“, „Alltag in Amerika“, „Die angewandte Photographie Europas“, „Auf der Suche nach dem Ideal: Künstler und Amateure“ bis „Vom Piktorialismus zur Moderne“. Diesen Themenblöcken sind Jahreszahlen und insgesamt 191 Namen von Fotograf*innen, Institutionen sowie „unbekannte Photographen“ zugeordnet. Erste Feststellung: Es tauchen in den ersten 80 Jahren der Geschichte der Fotografie nur zwölf Fotografinnen auf, was 6 Prozent der hiesigen Auswahl ausmacht. Betrachtet man nun weiter die in den Bildunterschriften notierten Nationalitäten der Fotograf*innen verhält es sich wie folgt: USA 42%, Frankreich 26%, Großbritannien 19%, Deutschland 5%, Italien 3%, Österreich 2%, Kanada 1%, Irland 0,5%, Belgien 0,5%, Australien 0,5%, Polen 0,5%. Dies mag genügen, um die erste Frage, die sich beim Lesen des Buchtitels stellt, zu beantworten: Nein, die „große“ Geschichte sucht ihre Größe nicht darin, ein ausgewogeneres Bild der am Nordwesten orientierten Fotogeschichte zu entwickeln. Worin also dann?
Betrachtet man die Bildteile, besticht sogleich das elegante Layout. In der Regel stehen die Werke einzeln auf der weißen Buchseite. Ausnahmen bilden Fotografien eines Ereignisses oder eines Konvolutes. Um die zwangsläufige Paarbildung beim Betrachten der Doppelseiten zu unterlaufen, sind die Abbildungen versetzt angeordnet oder bewusst unterschiedlich groß. Die Bildunterschriften halten Abstand zu den Werken. Eine solche Präsentationsweise setzt ganz auf die Betrachtung des Einzelbildes und seiner Wirkung als autonomes Bild. Und das entspricht auch den Sammelkriterien des Hauses, wie sie Bajac in seiner informativen Einleitung über die Geschichte der Sammlung Fotografie am Museum of Modern Art skizziert: „Anstatt frühe Photographie in aller Ausführlichkeit zu sammeln, legte man größeren Wert auf eine sorgfältige Auswahl bestimmter Stücke, die historische und ästhetische Meilensteine darstellen.“ Das elegante Layout des Katalogs lässt die Fortsetzung dieser Highlight-Fotogeschichte vermuten. Doch es tut sich bei näherer Betrachtung eine Bildauswahl auf, die bekannte Motive von bekannten Fotograf*innen ebenso bietet wie unbekannte. Und gerade unter den Werken, die nach Bajacs Amtsantritt in die Sammlung kamen, finden sich solche Positionen, etwa das Motiv eines abgetrennten Fußes von einem unbekannten Fotografen. „Atemberaubend“ nennt Bajac das Bild – eine emotive und letztlich nichtssagende Beschreibung, die konform geht mit ähnlichen Adjektiven der anderen Autor*innen: „unglaublich präzise Papierabzüge“, „beeindruckend“ und neben Edward Steichens Ankaufs- und Ausstellungspolitik werden auch sein „Charme und seine ungezwungene Eleganz“ ins Feld geführt. Weiter schreibt Bajac: „Auch über 150 Jahre später hat die frühe Photographie (…) nichts von ihrer evokativen und geheimnisvollen Kraft eingebüßt“. Das visuell von jeglichem befreite Bild soll also in den weißen Seiten dieses Buchs seine „Kraft“ entfalten, die kurzen und in kleiner Schrifttype gesetzten Einführungstexte geraten da fast zum Dekor.
Gesammelt wurde die frühe Fotografie am Museum of Modern Art bereits seit 1940. Das ansonsten auf das 20. und 21. Jahrhundert beschränkte Museum, machte bei der Fotografie eine Ausnahme. „Das Interesse an Photographie des 19. Jahrhunderts entsprach durchaus dem MoMA-Projekt der Moderne, wie es [Alfred] Barr in jenen [1930er-]Jahren konzipierte. Zur selben Zeit organisierte das Museum mehrere Ausstellungen mit Werken, die sich der streng modernen Chronologie entzogen. Grundlage dafür was das Credo, dass der Geist der Moderne auch jenseits der schönen Künste der modernen Zeit zu finden sei.“ Welcher Geist und welche Moderne gemeint sind, wird ebenso wenig spezifiziert wie die „geheimnisvolle Kraft“. Aber an verschiedenen Stellen wird in den Texten der Link zur Moderne und zu anderen Sammlungsbeständen doch gemacht, angefangen beim Cover der amerikanischen Ausgabe. Auf ihm ist ein Ausschnitt von Charles Thurston Thompsons fotografiertem Spiegel zu sehen, Teil einer Serie von fünf, die Bajac ans Museum holte. Als Covermotiv lässt das Bild eine Reflexion des Mediums erwarten, also eine Metaebene, vielleicht auch eine Familiarisierung mit künstlerischen Ansätzen des 20. Jahrhunderts. Geoffrey Batchen sieht jedenfalls eine solche Verwandtschaft, wenn er in seinem Text „Inbegriff der Modernität. Die frühe britische Photographie“ schreibt, Thompsons Spiegelserie werde im MoMA zu einem „fortlaufenden Projekt der Konzeptkunst“. Tatsächlich war Thursten Fotograf am South Kensington Museum, London, heute Victoria & Albert Museum, und hatte die Aufgabe, die Bestände zu fotografieren. „1853 wurde erwartet, dass der Betrachter die Anwesenheit des Photographen übersah und sich ganz auf den Rahmen konzentrierte, den er ablichtete. Heute tun wir das Gegenteil, wir sehen über den Rahmen hinaus, um einen Blick auf den magischen Vorgang des Photographierens zu werfen“, schreibt Batchen. Marcel Duchamps Handmade Stereopticon Slide von 1918/19 als eines der letzten Abbildungen im Buch greift den Faden zur Konzeptkunst wieder auf. Wenn 1933 am MoMA argumentiert wurde, persische Fresken des 18. Jahrhunderts seien eine „Vorwegnahme gewisser moderner Gemälde“, wird auch in Die große Geschichte immer wieder der Link zur Moderne gemacht. W. H. F. Talbot ließe sich ob seiner Bildausschnitte und „Schnappschüsse“ (!) dem Surrealismus beigesellen, eine von oben fotografierte Kiste Pfirsiche zeige „die Vorwegnahme avantgardistischer Ästhetik“. Vergleichsabbildungen, die dies belegen würden, fehlen. So stellt sich das Projekt eines chronologischen Überblickskatalogs ausschließlich zur Sammlung Fotografie am MoMA selbst in Frage, zumal in der musealen Präsentation der Werke längst der Weg aus den eigens für die Fotografie konzipierten Ausstellungsräumen im Museum hinaus in die anderen Sammlungsbereiche gefunden wurde. Ja, Bajac ließ die Edward Steichen Photography Collection Galleries eigens umbauen, um die durch die Architektur der kleinen Kabinetträume hin zu größeren Räumen vorgeschriebene chronologische Erzählung durchbrechen zu können. In mehrerer Hinsicht unterzieht Bajac der Fotografie am MoMA einer Revision. Er kritisiert den US-amerikanischen Fokus der Ankäufe seiner Vorgänger und fordert eine Rückbesinnung auf die Anfänge des MoMA, als die Fotosammlung begründet wurde und Alfred Barr, Gründungsdirektor des MoMA, eine integrative Erzählung forderte, die Zeiten und Medien zusammenführen solle, anstatt eine Zeitleiste zu pro Medium zu zeichnen, unter der auch noch hübsch nach Ländern sortiert wird. Man fragt sich, warum die Chance in diesem Band genau das zu tun, nicht genutzt wurde. Warum das, was in der Architektur des MoMA aufwändig korrigiert wurde, in Buchform keine Resonanz fand. „Today it’s probably time, I think, to go on and to avoid what I would call a fossilization of the history of photography as an art form. We must, I think, try to think a history of art that would at last totally anchor past the photographic medium with all its disruptive nature“, sagte Bajac 2013 in einem Vortrag in Warschau. Nur schade, dass diese „disruptive nature“ der Fotografie, ihre Sperrigkeit, in diesem Band nicht zur Geltung kommt und die Leser*innen zu wenig mehr als Staunen eingeladen werden. Aber vielleicht liegt genau hier das Missverständnis, nämlich dass diese drei Bände ein Marketingprodukt sind, das als Coffee Table Book weite Verbreitung finden soll, nicht aber als weitergedachte Auseinandersetzung mit der Fotografie, wie vom MoMA gewohnt.
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