Steffen Siegel
Virtueller Kiosk
Illustrierte Magazine der Zwischenkriegszeit
Katja Leiskau, Patrick Rössler, Susann Trabert (Hg.): Deutsche illustrierte Presse. Journalismus und visuelle Kultur in der Weimarer Republik, Baden-Baden: Nomos Verlag 2016, 469 S., 22,6 x 15,2 cm, zahlreiche Abb. in S/W, broschiert, 89 Euro
Erschienen in: Fotogeschichte, Heft 146, 2017
Die historische Zeitungsforschung befindet sich in einer paradoxen Situation: Kaum etwas dürfte eine so hohe Verbreitung erfahren haben wie gerade der Gegenstand ihres Interesses. Zeitungen, Zeitschriften und Magazine sind ja gerade dadurch definiert, als gedruckte Medien eine alltägliche, leicht zugängliche Massenware zu sein. Doch was ihrer Verbreitung einmal zugute kam, verkehrt sich rasch – am nächsten Tag, im nächsten Monat – ins Gegenteil. Nichts ist so alt wie die Zeitung von gestern. Wie qualitätsvoll auch immer seine Leistungen sein mögen, der Journalismus steckt bereits in seinem Namen den von ihm beanspruchten Horizont ab: Er ist für den Tag gemacht.
Mit guten Gründen wenden sich gegen eine solche Einschätzung Geschichts- und Kommunikationswissenschaften bereits seit gut einem Jahrhundert; zwischenzeitlich wurde sogar die Gründung einer eigenständigen Zeitungswissenschaft betrieben.[1] Mit erneuerter Intensität trägt seit Jahren, bald Jahrzehnten nun auch die Fotoforschung zu einer solchen Neubewertung des Journalismus bei.[2] Neben Wand, Buch und (eher neuerdings) dem Bildschirm ist die tendenziell ephemer angelegte Seite von Zeitungen und Magazinen gewiss das wichtigste Medium einer Kommunikation in und mit Fotografien. Es ist hierbei mehr als eine Nebensächlichkeit, dass eine erste Blütezeit der Illustrierten ausgerechnet mit jenen Jahren im und nach dem Ersten Weltkrieg in eins fiel, in denen die Papierqualität rapide sank. Für Forschungen zu Illustrierten jener Zeit gehört es zu den alltäglichen Erfahrungen, im Lesesaal auch bestens sortierter Bibliotheken enttäuscht zu werden. Die meist ohnehin nur lückenhaft gesammelten Jahrgänge sind meist zu eng gebunden und dadurch beschwerlich zu nutzen; und all zu oft zerfällt das brüchige Papier mit jedem weiteren Umblättern.
Umso mehr ist zu begrüßen und bleibt zu würdigen, dass sich bereits vor Jahren die Sächsische Landes- und Universitätsbibliothek (SLUB) in Dresden und die Universität Erfurt zusammengeschlossen haben, um mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft ein Internet-Portal ins Leben zu rufen, das eine weitreichende Antwort auf die skizzierten Probleme geben will. Unter der Adresse www.illustrierte-presse.de lässt sich nun bequem und in vorzüglicher Auflösung in einer ganzen Reihe illustrierter Magazine der Zwischenkriegszeit blättern. Die von den Projektverantwortlichen getroffene Auswahl ist einigermaßen idiosynkratisch: Erwartbares steht neben Überraschendem, Unverzichtbares neben Spezialistischem. So finden sich neben den Digitalisaten des Querschnitt, des Uhu oder von Scherl’s Magazin auch Das Jüdische Magazin oder Kokain. Dieses Durcheinander ist unbedingt richtig, hilft es doch immerhin virtuell, uns vor die Zeitschriftenauslage eines Kiosk der 1920er Jahre zu stellen und wenigstens imaginär das kuriose Durcheinander an Presseprodukten zu rekonstruieren. Es ist zu wünschen, dass mit einem solchen Portal die sich inzwischen abzeichnenden Trampelpfade der Kanonisierung noch einmal überprüft werden und im besten Fall unser Wissen von der Breite der Magazin-Produktion dichter werden wird.
Am Rand sei bemerkt, dass die hier besprochene Website in gewisser Weise aus zwei verschiedenen Portalen besteht. Bevor die Recherche beginnen kann, muss eine Entscheidung getroffen werden: links oder rechts entlang, zu den illustrierten Magazinen oder aber zur Gebrauchsgrafik. Wer sich für den Weg Richtung ‚Design‘ entscheidet, trifft auf das vollständige Digitalisat der ersten zwanzig Jahrgänge (1924–1944) von Gebrauchsgraphik, des wohl wichtigsten deutschsprachigen Periodikums der Werbebranche, das zugleich kaum weniger war als ein interdisziplinäres Forum für die visuellen Kultur der Zwischenkriegszeit. Die strikte Zweiteilung des Portals scheint nahezulegen, dass hier zwischen Voraussetzungen und Anwendungen unterschieden werden soll. Es bleibt den Nutzerinnen und Nutzer überlassen, diese beiden Aspekte anhand eigener Recherche gewinnbringend aufeinander zu beziehen.
Der virtuelle Kiosk, den das bereits 2013 abgeschlossene Digitalisierungsprojekt bietet, wird es gewiss noch nicht mit seinen physischen Vorgängern aufnehmen können. Gegenwärtig (im Jahr 2017) finden sich im Portal kaum mehr als ein Dutzend Titel, die überdies in nicht wenigen Fällen nur in ausgewählten Jahrgängen recherchiert werden können. Doch stimmt das Stichwort ‚Neuzugänge‘ und die erst jüngst (Mai 2017) vorgenommene Aufnahme weiterer Titel optimistisch. Unterstrichen ist hiermit die Absicht, das Portal kontinuierlich anzureichern. Man muss sich ein wenig durch die recht beschwerlich zu navigierende Website klicken, um auf das Schlüsselwort ‚Mitmachen‘ zu treffen. Für die sich so bemerkenswert intensivierenden Forschungen zur illustrierten Presse wäre unbedingt zu wünschen, dass möglichst viele der sammelnden Institutionen diesen Aufruf ernst nehmen und in eigene Beiträge zu diesem Portal übersetzen würden!
Für dieses Anliegen ist es gewiss alles andere als abträglich, dass die zum Abschluss des Verbundprojekts in Erfurt veranstaltete Tagung nun als ein Buch publiziert worden ist. Die insgesamt 17 Beiträge dieses Sammelbands sind eine eindrucksvolle Demonstration von Vielfalt: sowohl inhaltlich als auch methodisch. Allein der Hinweis auf das nicht weniger als sieben Seiten füllende Register der besprochenen oder doch wenigstens erwähnten Zeitschriften kann andeuten, wie umfassend das mit diesem Buch entworfene Panorama einer historischen visuellen Kultur ist. Im Sinne einer Tiefenbohrung monografisch erschlossen werden hierbei ausgesuchte Zeitschriften und Magazine – unter ihnen befinden sich Schünemanns Monatshefte, das Frankfurter Illustrierte Blatt, die Arbeiter-Illustrierte-Zeitung, der Querschnitt, a bis z oder Die Koralle. Daneben stehen systematische Annäherungen an die Illustrierte: etwa zum Pressezeichner, zur soziokulturellen Segregation der Leserschaft, zur Neuen Frau, zur Wochenendbeilage (und zur Erfindung des Wochenendes), zum Männlichkeitsbild in Modezeitschriften oder zur Werbung.
Hier ein einheitliches Ganzes zu erwarten, hieße den Charakter einer Tagungsdokumentation misszuverstehen. Dennoch bleibt zu bedauern, dass die Herausgeberinnen und Herausgeber darauf verzichtet haben, in ihrer Einleitung einen systematisch entwickelten Befund zum Stand der Illustrierten-Forschung zu geben. Die stattdessen entfaltete thematische Blütenlese (Europamüdigkeit, Menschenrechte, Rauchen, Taschenhunde…) hilft nicht recht weiter, wenn es darum geht, methodologische Perspektiven zu reflektieren, die die Ergebnisse der historischen Zeitungsforschung sowie der historischen Bildforschung zusammenführen könnten. Gerade weil sich künftige wissenschaftliche Recherchen zur Geschichte der illustrierten Presse zusehends auf ein besser erschlossenes Quellenmaterial werden stützen können (das eingangs besprochene Portal wird hierzu fraglos einen entscheidenden Anteil leisten), scheint eine genauere Profilierung der Fragestellung unbedingt geboten. Die Alternative wäre eine bunte Kasuistik an Einzelbefunden, die dem unübersehbaren Durcheinander eines Zeitungskiosk der 1920 Jahre wohl kaum nachstünde.
Dass das hier besprochene Buch in einem Verlag erschienen ist, der sich vor allem auf juristische und wirtschaftswissenschaftliche Themen spezialisiert hat (nun aber mit diesem Band eine neue Reihe „Mediengeschichte“ eröffnet), lässt sich leider nicht übersehen. Hinter den in diesem Band besprochenen Spitzenprodukten visueller Kultur des frühen 20. Jahrhunderts jedenfalls bleibt die nachlässige typografische Einrichtung weit zurück. Es wird künftigen Leserinnen und Lesern überlassen bleiben, zu beurteilen, inwiefern hier Inhalt und Form miteinander in Konflikt geraten. Dass sie es aber anhand eines Bibliotheksexemplars tun werden, wird bei einem Ladenpreis knapp unterhalb von 100 Euro wohl sicher sein.
[1] Siehe hierzu den lesenswerten Artikel von Albert Kümmel: Papierfluten. Zeitungswissenschaft als Schwelle zu einer universitären Medienwissenschaft, in: Stefan Andriopoulos, Bernhard J. Dotzler (Hg.): 1929. Beiträge zur Archäologie der Medien, Frankfurt am Main 2002, S. 224–252.
[2] Verwiesen sei einzig auf Patrick Rössler (Hg.): Moderne Illustrierte, Illustrierte Moderne. Zeitschriftenkonzepte im 20. Jahrhundert, Stuttgart 1998. Robert Lebeck, Bodo von Dewitz (Hg.): Kiosk. Eine Geschichte der Fotoreportage, Göttingen 2001. Diethart Kerbs, Walter Uka (Hg.): Fotografie und Bildpublizistik in der Weimarer Republik, Bönen (Westfalen) 2004.
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