Harald R. Stühlinger
Eine neue Fotozeitschrift
Christian Joschke, Olivier Lugon (Hg.)/Association Transbordeur: Transbordeur, Paris: Éditions Macula, 2017, zahlreiche Abb. in Farbe und S/W, 236 Seiten, 28,0 x 21,5 cm, broschiert, 29 Euro
Erschienen in: Fotogeschichte, Heft 144, 2017
Der 9. Februar 2017 sah den offiziellen Start eines anspruchsvollen Publikationsprojektes: das Fotomagazin Transbordeur wurde aus der Taufe gehoben, das von nun an einmal jährlich im Pariser Verlag macula erscheinen wird. Unterstützt werden die beiden Herausgeber durch ein international agierendes und interdisziplinär aufgestelltes Redaktionskomitee, das aus Kunsthistorikern und Geografen besteht. Diese fachliche Kombination ergibt sich aus den beiden an der Publikation beteiligten Institutionen, nämlich der Faculté des Lettres, Centre des sciences historiques de la culture der Universität Lausanne sowie dem auf Bildwissenschaften spezialisierten Département de géographie et environnement der Universität Genf. Die Beteiligten bilden genau das ab, was in den letzten Jahren zu einem Phänomen innerhalb der Fotografieforschung wurde: das vielschichtige, weit über die Kunstgeschichte hinausreichende Interesse an der Fotografie und ihrer mannigfaltigen Äußerungsformen.
Die erste Nummer des Magazins umfasst annähernd 240 Seiten, ein Umfang, der auch für die kommenden Ausgaben beibehalten und sogar überschritten werden wird. Die Publikation wurde in der Tradition der hochqualitativen Schweizer Grafik vom Genfer Atelier Schaffter Sahli stringent, ansprechend, gewagt aber auch erfrischend schön gestaltet. Dossier, Collections, Varia und Lectures sind die vier Sektionen im Band. Im Dossier finden sich alle dem Themenheft unmittelbar untergeordneten Beiträge, in Collection werden Sammlungen, Museumsbestände und Archive präsentiert, die im besten Fall Bestände zu dem im Dossier vorgestellten Thema beherbergen, Varia eröffnet die Möglichkeit neueste Forschungen außerhalb des eigentlichen Heftthemas darzubringen und unter Lectures werden Bucherscheinungen besprochen.
Nachdem anfänglich eine selbst verlegte Publikation von Tagungsergebnissen im Raum gestanden war, konkretisierte sich bald darauf die wagemutige Idee, ein neues Fotomagazin auf den Markt zu bringen. Obschon von der französischsprachigen Schweiz aus agiert wird, blickte man auf den viel wichtigeren französischen aber auch den kanadischen Markt. Gerade die Beobachtung der Aktivitäten der renommierten Zeitschrift Études photographiques zeigte, dass in ihrer zwanzigjährigen Geschichte lediglich ein Themenheft produziert worden war und, dass sie trotz ihres halbjährlichen Erscheinens, in letzter Zeit eher unregelmäßig erschien. Am kanadischen frankophonen Markt gab es keine substantielle Publikation, erst unlängst wurde die Online-Publikation captures (http://revuecaptures.org/) ins Leben gerufen. Die Herausgeber möchten vor allem diese Lücke schließen und ein Magazin, das sich stets einem Hauptthema mit kohärenten Beiträgen, der fotografiehistorischen Forschung sowie der Verbreitung fototheoretischer Texte widmet. Mit der Absicht der Herausgabe von nur einem Heft pro Jahr will man die Ernsthaftigkeit untermauern, sich substantiell einem Spezialthema anzunähern, sich darin zu vertiefen und es disziplinär und international betrachtet möglichst breit zu publizieren.
Eingebettet in die europäische Landschaft der fotohistorischen und -theoretischen Publikationen positioniert sich Transbordeur als zweite Zeitschrift auf dem französischen Markt. Ähnlich überschaubar sieht es – abgesehen von Fotomagazinen wie Eikon oder Camera Austria, die der künstlerischen Fotografie gewidmet sind – im deutschsprachigen Raum aus, wo neben dem auf Museen und Sammlungen konzentrierten Rundbrief Fotografie die im Jonas Verlag erscheinende Zeitschrift Fotogeschichte die wichtigste Publikationsplattform darstellt. Die letztgenannten erscheinen einmal im Quartal, eine Periodizität, die sie mit der ältesten englischsprachigen fotohistorischen Zeitschrift, History of photography teilen. Sie erscheint, wie Visual Studies, Photographies und Photography and Culture – mit jeweils drei Heften pro Jahr – unter dem Dach des englischen Verlagshauses Taylor und Francis. Philosophy of Photography erscheint ebenso wie der photoresearcher der European Society for the History of Photography zweimal pro Jahr.
Transbordeur will Publikationsplattform einer breit verstandenen Fotografieforschung sein, wie die drei Begriffe im Untertitel des Magazinnamens: photographie histoire société es verraten. Der Schwerpunkt des Heftes findet sich im Dossier und statt ikonografischer oder monografischer Studien geht es vielmehr um die Darlegung, Analyse und Interpretation der Mechanismen und Systeme der Netzwerke und Produktionsweisen, der Sammlungen, Archive und Dokumentationsmodi. Daneben wird die materielle Existenz der Fotografien – trotz Fortschreitens der Digitalisierung und den Möglichkeiten der Digital Humanities – als eine conditia sine qua non betrachtet.
Das erste Heft ist den Musées de photographies documentaires gewidmet. Der Anspruch aber endet keineswegs hier, denn die Herausgeber machen es sich zum Ziel Texte, Essays und Artikel aus anderen Sprachen einem frankophonen Publikum zugänglich zu machen, wodurch es sich auch um ein aufwändiges aber grundsätzlich wünschenswertes Übersetzungsprojekt handelt. Dieser enorme Arbeitsaufwand wird von den sechs Redaktionsmitgliedern durch Eigenleistung abgedeckt und ist allein durch ihre institutionelle Anbindung finanzierbar.
Die Themenfindung geschieht innerhalb des Redaktionskomitees und die Themen der nächsten drei Hefte, für die es Calls geben wird, stehen bereits fest: kommendes Jahr: Photographie et exposition, im Jahr darauf: Photographie et technologies de l’information und schließlich 2020: Photographie ouvrière des années 1920 et 1930. Eine Online-Version von Transbordeur ist geplant, jedoch in welcher Form und in welcher Sprache ist noch nicht absehbar. Das Zielpublikum sind vornehmlich Mitglieder der Scientific Community aus französischsprachigen Universitäten schließt jedoch Affacionados, Sammler und Interessierte bei einem Preis von 29 Euro pro Heft mit ein.
Der translinguale Wissenstransfer kann zwar nicht hoch genug eingeschätzt werden, jedoch stellt sich die Frage, wie in einer global vernetzten und mit immer mehr auf englischer Sprache basierenden Wissenschaftsdisziplinen die Zukunft dieser interessanten und ästhetisch ansprechenden Publikation aussehen wird. Kleinere grafische Makel im ersten Band – etwa die verwirrende Anordnung der Untertitel am Umschlag oder der kleingedruckte Titel des Themas – als Begleiterscheinung einer neuen Unternehmung werden im Laufe der nächsten Hefte sicherlich behoben werden. Es bleibt zu hoffen, dass der Präsentation von monografischen und ikonografischen Themen neben der beabsichtigten Fokussierung auf die erwähnten Themen dennoch der gebührende Platz eingeräumt wird. Transbordeur ist ein ambitioniertes Projekt und es ist zu wünschen, dass daraus eine Erfolgsgeschichte wird.
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