Michael Freund
Verstellte Blicke
Monika Schwärzler: At Face Value & Beyond. Photographic Constructions of Reality. Bielefeld: Transcript Verlag, 2016. 22,5 x 15 cm, 188 S., zahlreiche Farb- und S/W-Abbildungen, 29,99 Euro
Erschienen in: Fotogeschichte, Heft 143, 2017
Seit Kameras für viele erschwinglich sind und das Abbilden von Bildern leicht geworden ist, also seit gut hundert Jahren, gibt es die vielbeklagte Flut an Fotos. Die Digitalisierung der Fotografie in Verbindung mit Smartphones hat diese Entwicklung nur potenziert, sodass mittlerweile unser Blick so müde geworden ist wie der von Rilkes Panther, der „nichts mehr hält“ – als ob es hinter tausend Bildern keine Welt mehr gäbe. Angesichts dieses Trends stellt sich die Frage, welche Bilder einem angesichts dieser Flut noch auffallen. Wo kommt etwas dazu, das nicht mit immer Gleichem den Erwartungen entspricht? Was macht das Ungewöhnliche bestimmter Fotos aus, und wie kann man beschreiben, was derartige Abbildungen bemerkens-wert macht?
Die Kunst- und Medientheoretikerin Monika Schwärzler hat sich diesem Thema gewidmet. In Vorträgen auf internationalen Konferenzen hat sie diese Zusammenhänge aus medienkritischen, ästhetischen, psychoanalytisch orientierten und nicht zuletzt auch persönlichen Blickwinkeln analysiert. Die Arbeiten liegen nun in Buchform vor. At Face Value lautet der erste Teil des Titels: was man zuerst sieht, für bare Münze nimmt, kritiklos hinnimmt, & Beyond der zweite: was dahinter steckt, was jenseits der baren Münze liegt. Schwärzler sucht nach einem gemeinsamen Nenner für die Abweichungen von der bildnerischen Norm. Beispiele dafür findet sie in Katalogen, in der Werbung, auf Titelblättern, am Flohmarkt, in der Frühgeschichte der Fotografie.
In ihrem ersten Beitrag über „bewusste und halbbewusste Zustände der Kamera“ geht Schwärzler von der bedenkenswerten Feststellung aus, dass Fotos ursprünglich keine „Bilder“ im herkömmlichen Sinn, also keine Gemälde waren und dass man dies auch beklagte. Fox Talbot zitierend, verweist sie auf den Umstand, dass Kameras ihre Sujets ohne Unterschied und Unterscheidung festhielten, neben dem eigentlich Intendierten also auch Zufälliges, Nebensächliches festgehalten wurde. Es gab keine der Malerei vergleichbare Codes, wie mit der vorgefundenen Wirklichkeit umzugehen sei, auf dass diese zu einem stimmigen, eben zu einem „Bild“ würde. (Es waren die Sharp-Focus-Realisten der 1960er und 70er Jahre, die Gemälde anfertigten, in denen Realität in ihrer banalen, unordentlichen Gleich-Gültigkeit zum Prinzip wurde. Nicht zufällig malten sie vor allem Fotos ab und hießen dementsprechend auch „Photo Realists“.) Fotografen konnten die Misslichkeit, dass Kameras „auf faszinierend unerwartete Weise“ alle Details der Wirklichkeit gleichermaßen und ohne Ansehen von Stand und Herkunft registrierten, einsetzen und zu einem quasi „störenden“ Ergebnis gelangen.
Als erstes Beispiel solcher Photographic Constructions of Reality (so der Untertitel des Bandes) nimmt Schwärzler eine im Band auch abgebildete Fotogravur von James Craig Annan aus dem Jahr 1904 und führt vor, wie ein durch das Bild wandernder Schimmel die Absicht, das gravitätische Stirling Castle zu würdigen, durchkreuzt. Sie geht davon aus, dass der Fotograf „bewusst und nicht naiv“ ebenfalls die zum Code gewordene piktoriale Gelungenheit durchkreuzt hat. Nur zwei Jahre später, so zeigt sie, aber bereits sehr viel weiter in der Würdigung dessen, was ein „gelungenes“ Bild ausmacht, hat Alfred Stieglitz einen alltäglichen Vorgang festgehalten: „Snapshot, Paris“ zeigt ebenfalls ein Pferd, ein Lastentier, das am Zügel festgehalten wird. Einerseits liegt hier eine um Jahrzehnte vorweggenommene Street Photography vor, andererseits sind die Bildelemente klassisch strukturiert, so als wollte Stieglitz sein Sujet aus der Avantgarde in den traditionellen Kanon zurückholen.
Von Annan zeigt die Autorin ein weiteres Bild. Er hat 1894 in Venedig eine katholische Prozession aufgenommen. Das Bild wäre eine „normale“ Dokumentation, würden nicht zwei unscharfe, nur als dunkle Umrisse erkennbare Gestalten partiell die Sicht beeinträchtigen. Schon damals habe, so Schwärzler, der deutsche Piktorialist Fritz Matthies-Masuren an dem Bild gelobt, dass es die tatsächliche Situation des Zuschauens bewusst gemacht hat. (Vor einigen Jahren hat es ein interessantes, wahrscheinlich unbewusstes Echo auf diesen Aufbau gegeben: Im Frankfurter Allgemeine Magazin erschien ein Bildbericht über ein Photo Shooting, übrigens ebenfalls in Venedig. Die Bildstrecke zeigte verschiedene mehr oder weniger fantasievoll gestaltete Szenarien mit Models, und in einem dieser Fotos läuft gerade ein kleiner, unscharf geratener Junge hinein und schneidet eine Grimasse. War das gestellt oder passierte es dem Fotografen und es wurde hinterher entschieden, dass dieses Bild den Bericht ungewöhnlicher machen würde? So oder so, es bestätigt den Reiz des „Beyond“, den Schwärzler sucht).
Schwärzler wird auch bei persönlichen Erinnerungen fündig. Sie erinnert sich an einen Karnevalszug, den sie als Kind erlebte. Da die Erwachsenen den Blick verstellten, konnte sie das Geschehen nur teilweise betrachten. Vielleicht, so sagt sie heute, hätte sie sich damals lieber auf die Rücken, Kragen und Haarschnitte konzentrieren sollen. Diese Erinnerung ruft sie im Zusammenhang mit Fotos von Maria Hahnenkamp und Thomas Struth auf. Auch hier wird der Blick, der von Fotografien visuelle Dokumente erwartet, enttäuscht. Hahnenkamp gibt nur Andeutungen frei von dem, was ein „Body Discourse“ bedeuten kann oder was sich zwischen „Two Women“ abspielt. Bei Struth geht die Suche nach dem Störenden noch einen Schritt weiter. Nicht nur einzelne Bilder, auch eine ganze Fotoproduktion, ganze Schaffensperioden können „Outliers“ haben, scheinbar blinde Flecken in einem laufenden Prozess: Einerseits, so weist Schwärzler nach, findet sich bei dem Becher-Schüler die dokumentarische Tradition wieder, aber eben gebrochen. Seine Großformate von Straßen in New York, Edinburgh oder Dortmund, von Häuserfluchten in Genf und blockierten Perspektiven in Neapel sind von Kälte und linearer Strenge gekennzeichnet. Sie sind beklemmend. Aus seinen Aussagen und aus dem, was sie in den Bildern sieht, schließt Schwärzler auf möglicherweise unbewusste Absichten des Künstlers. Es sei fast Aggression im Spiel, wenn er uns die moderne, abgezirkelte Welt dieser Städte zeigt.
Andererseits die Welt des Dschungels: Nach jahrelanger Arbeit im urbanen Raum bildete Struth den ungeordneten Urwald ab, bunt, undurchdringlich und ein „Paradies“ – so der Titel der Serie, mit der er sein urbanes Projekt radikal unterbrach. Das ist das Andere, außen Liegende, das notwendig wurde, als Struth an eine künstlerische Mauer geriet. Schwärzler verweist darauf, dass die dissonanten Sujets in einem Ausstellungskatalog offenbar mit Absicht nebeneinander abgebildet wurden.
In einem weiteren Beispiel analysiert die Autorin ein Projekt des Schweizer Künstlers Jules Spinatsch. Er hatte den Wiener Opernball mit einer komplizierten digitalen Apparatur minütlich im Stil von Überwachungskameras rundum festgehalten und die Ergebnisse unter anderem in zwei Büchern verarbeitet. Das Ungewöhnliche daran ist Schwärzler zufolge, dass dabei nicht, wie man erwarten könnte, ein schwelgendes Panorama entstanden ist. Vielmehr hat der Betrachter nur fragmentierte Details vor sich, inklusive allem Möglichen, welches in einer Hochglanzbroschüre über den Ball nichts verloren hätte: das „visuelle Register“ einer überwachten Gesellschaft.
Als vielleicht kuriosestes Beispiel in At Face Value & Beyond führt die Autorin eine Trouvaille des Künstlers Andreas Karner vor. In einem Second-Hand-Laden hatte er eine Sammlung von rund 2000 Diapositiven aus den 1970er und 80er Jahren erstanden, der Fotograf war unbekannt. Daraus konstruierte er die fiktive Geschichte der beiden ständig abgebildeten Personen, „Frau Elfriede“ und „Herr Alfred“. In einer stimmigen Interpretation sieht Schwärzler eine strenge Ordnung in den Bildern, die im Hintergrund durchaus Unterschiedliches zeigen, oft sind es Urlaubsziele. Im Vordergrund aber steht zumeist Elfriede, „aufrecht, stabil, zuverlässig“, mit einer weißen Tasche in der Hand. Der Rest ist Bühne, nicht vergleichbar mit heutigen, hyper-lebendigen Prospekt- und auch Touristenfotos. So wirkt, folgert die Autorin, die Protagonistin wie hineinverpflanzt in die abgebildete Umgebung. Der „entfremdete Status“ der Reisenden wird aufrechterhalten. Die Tasche der Frau Elfriede übrigens – „weiß, keusch, geschlossen, aber darauf wartend, mit der fremden Wirklichkeit gefüllt zu werden, die dem mäßigen Appetit einer älteren weiblichen Reisenden entspricht“ (Schwärzler) – diese Tasche erinnert an eine Beobachtung, die der Stanford-Professor Hans Ulrich Gumbrecht in den USA gemacht hat: dass dort die Managerinnen „und wahrscheinlich auch Daisy Duck“ immer solch gestärkte weiße Blusen tragen, die bedeuten: Rühr mich nicht an, ich bin von früh bis abends proper! Etwas, das den Professor durchaus irritiert hat ...
Das Buch ist sorgfältig ediert, die Bilder ergänzen das Geschriebene sinnstiftend. Einmal nur fällt auf, dass der zitierte Philosoph Robert Pfaller den Vornamen Norbert bekommen hat – aber vielleicht ist auch das bloß eine bewusst irritierende kleine Abweichung. Insgesamt hat Monika Schwärzler aus dem divergenten Material eine analytisch stringente und zugleich gut lesbare Anleitung dafür geschaffen, wie man die einem ersten, „müden“ Blick vertraut erscheinenden Bilder neu sehen kann: Media Literacy auf hohem Niveau.
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