Markus Wurzer
Südtiroler Amateurfotografie aus dem Italienisch-Abessinischen Krieg 1935–1941
Selbstbilder – Fremdbilder – Kriegsbilder
Dissertation, Karl-Franzens-Universität Graz, Institut für Geschichte, Prof. Helmut Konrad, Beginn: Oktober 2015, Art der Finanzierung: Projektassistent, Kontakt: markus.wurzer(at)uni-graz.at
Erschienen in: Fotogeschichte, Heft 142, 2016
Die kolonialen Projekte der europäischen Staaten hinterließen vielfältige Spuren in ihren Gesellschaften[1] – nicht nur in den öffentlichen, sondern auch in Familiengedächtnissen. In besonderer Weise vermittelten in familiären Kontexten Fotoalben – als authentische Zeugnisse – Vorstellungen über koloniale Gegebenheiten.[2] Die kulturwissenschaftliche Forschung widmet sich diesen Dokumenten als Vehikel der Konstruktion von Differenzen (Rasse, Klasse, Geschlecht) und europäischer Selbstvergewisserung.[3] Ansonsten wurden private Fotopraktiken in den letzten Jahren im Umfeld von Kriegen thematisiert, da diese ebenfalls vielversprechende Arbeitsfelder bilden.[4] Trotzdem gilt die Untersuchung von Alltagsfotografie nach wie vor als Desiderat. Die Forschung stimmt zwar überein, dass sich diese als autobiografische Quellen für die Analyse von Wahrnehmungs- und Identitätsbildungsprozessen eignen; Fragen nach (Re-)Produktions-, Distributions- sowie Nutzungsprozessen und den beteiligten Akteuren sind aber weiterhin offen.[5]
In der italienischen Armee, die 1935 Abessinien angriff, dienten auch 1118 deutschsprachige Südtiroler.[6] Erste Rechercheergebnisse zeigen, dass mindestens jeder zwanzigste davon Fotos heimbrachte.[7] Ihre Fotopraxis dient der Bearbeitung der skizzierten Desiderata als Fallbeispiel.[8] Dabei wird nach den Akteuren und der Fotografie als soziale Praxis (Produktion, Distribution und Nutzung) gefragt. Zweitens wird ermittelt, welche Motive geknipst wurden und welche kulturellen Muster diese determinierten. Drittens werden Fotoalben als narrative Räume begriffen; ihre Analyse zeigt, wie Südtiroler den Krieg, das Fremde und das Eigene wahrnahmen. Die Fotografiegeschichte zum Abessinienkrieg beschäftigte sich bisher nur mit Bildpropaganda.[9] Durch die Einschränkung auf die Südtiroler Soldaten soll die Praxis einer ethnischen Minderheit im Gegensatz zur hegemonialen, italienischen Gruppe sichtbar gemacht werden.
Das Sammeln, Archivieren und Aufbereiten von Privatfotos stellt ebenfalls ein Desiderat dar,[10] weshalb das Tiroler Archiv für photographische Dokumentation und Kunst (TAP)[11] Projektkooperationspartner ist. Dieses verfügt über das Knowhow, um die Privatbestände zu archivieren und für Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Methodisch orientiert sich das Projekt am Konzept der Visual History, das Bilder als Quellen, Medien und realitätsgenerierende Kräfte betrachtet. Dazu kennt es keine „fertige Methode“, sondern ist neben dem historischen Repertoire auf andere Disziplinen angewiesen.[12] Im Projekt wird zur Erfassung und Kategorisierung von Motiven auf die Ikonografie und zur Dekodierung der Bedeutungsdimensionen der Bilder in ihren Produktions- und Rezeptionskontexten auf die Ikonologie zurückgegriffen.[13]
[1] Bernd Stiegler: Theorien der Literatur- und Kulturwissenschaften. Eine Einführung, Paderborn 2015, S. 110.
[2] Jens Jäger: Fotografie und Geschichte (Historische Einführungen 7), Frankfurt/New York 2009, S. 173.
[3] Ebenda, S. 161, 176.
[4] Anne Lipp: Diskurs und Praxis. Militärgeschichte als Kulturgeschichte, in: Thomas Kühne/Benjamin Ziemann (Hg.): Was ist Militärgeschichte? Paderborn/München/Wien u. a. 2000, S. 211–229, hier S. 218; Anton Holzer (Hg.): Mit der Kamera bewaffnet. Krieg und Fotografie, Marburg 2003.
[5] Marita Krauss: Kleine Welten. Alltagsfotografie – die Anschaulichkeit einer „privaten Praxis“, in: Gerhard Paul (Hg.): Visual History. Ein Studienbuch, Göttingen 2006, S. 57, 59.
[6] Gerhald Steinacher (Hg.): Zwischen Duce und Negus. Südtirol und der Abessinienkrieg 1935–1941 (Veröffentlichungen des Südtiroler Landesarchivs 22), Bozen 2006.
[7] Auf einen Aufruf nach privaten Fotosammlungen in Südtiroler Tagesblättern im Frühjahr 2016 meldeten sich rund 50 Privatpersonen, was etwa 5 Prozent der Kriegsteilnehmer entspricht.
[8] Den ersten Impuls lieferten Gerald Steinacher/Ulrich Beuttler: Aus der Sicht des Soldaten: Fotoalben von Südtiroler Kriegsteilnehmern, in: Steinacher, (wie Anm. 6), S. 87–194.
[9] Auswahl: Angelo Del Boca/Nicola Labanca: L’impero africano del fascismo nelle fotografie dell’Istituto Luce, Roma 2002; Stefano Mannucci: La guerra d’Etiopia. La fotografia strumento dell’imperialismo fascista, o. O. 2013.
[10] Krauss, (Anm. 5), S. 70.
[11] Tiroler Archiv für photographische Dokumentation und Kunst, tiroler-photoarchiv.eu/index.php [Abfrage: 20.06.2016].
[12] Gerhard Paul: Visual History, Version: 3.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 13.03.2014
[13] Erwin Panofsky, Ikonographie und Ikonologie. Bildinterpretation nach dem Dreistufenmodell, Köln 2006.
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