Anja Guttenberger
Fotografie ist Kunst!
Neues Standardwerk zu Grete Stern und Horacio Coppola
Roxana Marcoci, Sarah Hermanson Meister: From Bauhaus to Buenos Aires. Grete Stern and Horacio Coppola, New York: Museum of Modern Art, 2015, 31,2 x 24,9 cm, 256 S., ca. 300 Farb- und S/W-Abb., Gebunden mit Schutzumschlag, Englisch, 41,95 Euro.
Erschienen in: Fotogeschichte, Heft 138, 2015
In ihrem Begleitkatalog From Bauhaus to Buenos Aires, der im Jahr 20015 im Museum of Modern Art in New York gezeigten gleichnamigen Ausstellung erschienen ist, bringen die Kuratorinnen Roxana Marcoci und Sarah Hermanson Meister erstmalig wieder zusammen, was zusammen gehört: die Fotografin Grete Stern und den Filmemacher und Fotografen Horacio Coppola. Beide waren privat und in ihrem Schaffen verbunden und gelten mit ihren stark von der europäischen Moderne geprägten Fotografien und Fotocollagen als Begründer der modernen Fotografie in Argentinien. Katalog und Ausstellung des MoMA ehren dieses Verdienst und widmen Grete Stern und Horacio Coppola ein herausragendes enzyklopädisches Werk über ihre Biografie und ihr Wirken.
From Bauhaus to Buenos Aires – bereits der Titel des Katalogs zeichnet den biografischen Weg von Stern und Coppola nach. Beide trafen sich 1932 und studierten gemeinsam in der Fotoklasse des Bauhauses unter der Leitung des Fotografen Walter Peterhans. In ihrem Beitrag über Grete Stern referiert Roxana Marcoci ausführlich den künstlerischen Werdegang der Fotografin – von Peterhans’ Privatschülerin in dessen Berliner Fotostudio, über ihr Studium am Bauhaus und die Gründung des berühmten Foto- und Werbeateliers ringl+pit zusammen mit der Peterhans-Schülerin Ellen Rosenberg (später Ellen Auerbach). 1933 geht die Jüdin Stern ins Londoner Exil, 1935 heiratet sie Coppola und emigriert gemeinsam mit ihm und den zwei gemeinsamen Kindern in dessen Heimat Argentinien. Die Autorin stellt mit einer Fülle an Bildmaterial zahlreiche Werke der Fotografin aus deren unterschiedlichen Schaffensperioden vor. Immer wieder bezieht sie anschaulich gesellschaftliche, soziale und politische Hintergründe und Werke anderer zeitgenössischer Künstler wie Hannah Höch und August Sander mit ein. So gelingt es ihr, nicht nur ein Gesamtbild von Sterns Leben und künstlerischem Wirken zu zeichnen, sondern auch einen tiefen Einblick in die Umstände und das Zeitgeschehen zu vermitteln. Dank Marcocis überaus gründlichen Recherchen hält der Katalog auch für das Fachpublikum sehr viele neue Informationen bereit. Wegen der in diesem Abschnitt gekonnt gesetzten Zwischenüberschriften eignet er sich sogar als Nachschlagewerk.
Werke aus Sterns umfangreichem Repertoire folgen dem Text in einem fast 60 Seiten umfassenden Bildteil auf wertigem Hochglanzpapier in Schwarz-Weiß- beziehungsweise Farbdruck. Dieser versammelt knapp 100 Abbildungen von Fotografien und Fotocollagen aus allen wichtigen Schaffensperioden der Künstlerin. Neben Fotos aus der Bauhauszeit und den populären ringl+pit Werbecollagen zeigt der Katalog Portraitaufnahmen aus dem Londoner Exil sowie eine Vielzahl der in den 40er und 50er Jahren entstandenen „Sueños“ (Träume). Mit dieser Serie lieferte Stern die Bebilderung zu Traumdeutungen in einer Frauenzeitschrift. Die Künstlerin arbeitet in ihren Collagen vor allem aber den Zweispalt zwischen zeitgenössischem Frauenbild und Psyche der Frauen selbst heraus: Da wird eine melancholisch dreinschauende Frau zur Nachttischlampe, die von einer Männerhand ausgeknipst wird. Der Titel „Artículos eléctricos para el hogar“ (Elektrische Geräte für daheim) offenbart Sterns progressiv-feministische Haltung (Abb. 1). Zeitlebens widmete sich Grete Stern in ihren Portraitaufnahmen und Fotocollagen dem Inneren, der Psyche der Menschen.
Horacio Coppola hingegen konzentrierte sich in seinem Schaffen auf die Darstellung der Stadt, sozusagen des „Außen“ (Abb. 2). Sarah Hermanson Meister stellt das Werk des argentinischen Fotografen und Filmemachers dem Sterns gegenüber. Für die Vollständigkeit der Beiträge wären zumindest tabellarische Lebensläufe im Anhang wünschenswert gewesen – ein kleiner Wermutstropfen in dem ansonsten herausragenden Werk. Die Autorin fokussiert auf Coppolas künstlerisches Schaffen und geht dabei auch auf dessen erste fotografische Versuche mit der Kamera seines Bruders und seine Mitbegründung des ersten Filmclubs von Buenos Aires ein. Schließlich nimmt Hermanson Meister die Leser mit auf die Europareisen des jungen Fotografen, auf denen er Grete Stern trifft und kurzzeitig am Bauhaus lernt, dessen moderne Sichtweisen des Neuen Sehens seine Arbeit grundlegend prägen werden. Mit Nachdruck wird aufgezeigt, dass Coppolas künstlerische Wurzeln im Medium Film und sein anfängliches künstlerisches Interesse im Surrealismus lagen. Die vier Filme, die Coppola zwischen 1933 und 1936 schuf, finden ausführlich Erwähnung („Der Traum“, 1933; „Un Muelle del Sena“ (Ein Kai an der Seine), 1934; „A Sunday on Hampstead Heath“ (Ein Sonntag in Hampstead Heath), 1935; „Así Nació el Obelisco“ (Die Geburt des Obelisken), 1936), begleitet von zahlreichen Film-Stills. Bisher widmete noch keine andere Publikation sich derart ausführlich Coppolas Filmkunst und ordnete deren Bedeutung in sein Gesamtwerk ein. Anschließend geht Hermanson Meister auf Coppolas Wirken nach der Rückkehr in seine Heimat gemeinsam mit Grete Stern und den beiden Kindern ein: Unter anderem erhält Coppola den Auftrag der Stadt Buenos Aires, diese fotografisch zu dokumentieren (1936) – es entstehen unzählige Fotos, von denen viele auch im fast 80-seitigen Bildteil gezeigt werden. Hier finden sich überdies Arbeiten Coppolas aus der Zeit im Londoner Exil, Filmausschnitte sowie einige seiner am Bauhaus gefertigten Bilder (leider sind nur 5 der 18 Fotografien von dieser Station abgebildet).
Das dritte Kapitel bespricht die gemeinsame Arbeit von Stern und Coppola zwischen 1935 und 1943 in Buenos Aires. Hier argumentiert die Autorin Jodi Roberts ausgehend von der ersten gemeinsamen Ausstellung der Fotografen in den Redaktionsräumen der Zeitschrift Sur im Oktober 1935 schlüssig, inwiefern das Künstlerpaar zu Begründern der modernen Fotografie in Argentinien avancierte. Ihre Werke zeichneten sich durch ungewöhnliche Perspektiven, extreme Nahsichten und surreal anmutende Bildthemen – Stilmittel, die in Europa längst verbreitet waren und in nahezu jeder Fotoillustrierten publiziert wurden –, gepaart mit fototechnischer Versiertheit, aus. In Argentinien dagegen galt die Fotografie zu der Zeit noch immer als Imitator der Malerei oder als Vehikel zur Abbildung der Natur. Als eigenständige Kunstrichtung wurde sie noch längst nicht akzeptiert. Während die Werkschau mit dem Titel „Fotos: H. Coppola y G. Stern“ von der damaligen lokalen Fotofachpresse weitgehend ignoriert wurde, veröffentlichten Stern und Coppola lediglich eine einseitige Begleitbroschüre zur Ausstellung. In der hauseigenen Zeitschrift „Sur“ erschien dazu ein längerer Artikel von dem anerkannten Kunstkritiker Romero Brest (einem langjährigen Freund von Coppola), der die Fotoschau als „erste ernsthafte Manifestation fotografischer Kunst in Argentinien“ einordnete. Ansonsten publizierten nur die zwei Tageszeitungen La Nación und La Prensa zwei reichlich bebilderte Beiträge zur Ausstellung. Roberts analysiert die Begleitpublikation bis ins Detail und erklärt wie die Qualität der Fotografien, das Timing der Ausstellung und das Netzwerk von Intellektuellen und Künstlern, in dem sich Stern und Coppola bewegten und dessen Zentrum sie bildeten, entscheidend dazu beitrugen, eine Veränderung in der argentinischen Fotobewegung hin zur Avantgarde herbeizuführen. Der Beitrag schließt mit Betrachtungen zur Arbeit des Ehepaares Coppola in ihrem Werbestudio – ein Kapitel, das derart ausführlich bisher in keiner anderen Publikation zu finden ist.
Im letzten Teil des Katalogs kommen die Künstler schließlich selbst zu Wort. Texte von Stern und Coppola sowie zeitgenössische Artikel über sie – allesamt heute nur noch in geringer Zahl verfügbar – runden die Publikation ab. Direkt neben den Übersetzungen werden Abbildungen der Originalpublikation gezeigt. Eine sorgfältig recherchierte Bibliografie, die alle bisher veröffentlichten Beiträge und Publikationen über die Fotografen überblicksmäßig zusammenfasst, wertet den Katalog zusätzlich auf. Mit dem Wechsel zwischen qualitativ hochwertigem Glanzpapier in den Bildteilen und mattem festen Papier in den Textteilen changiert er gelungen zwischen Kunstbuch und Enzyklopädie. Dem MoMA ist ein Standardwerk zu Grete Stern und Horacio Coppola gelungen, das beide Künstler gleichwertig ehrt und sowohl für Kunstinteressierte als auch für Experten eine absolute Bereicherung darstellt.
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