Nataša Mišković
SIBA – Visuelle Zugänge zur vergleichenden Lebensweltforschung in Jugoslawien und in der Türkei, 1920er und 1930er Jahre
Forschungsprojekt an der Universität Basel, Seminar für Nahoststudien, Projektteam: Nataša Mišković, Joël László, Milanka Matić; Veröffentlichungsform: Aufsatz- und Buchpublikationen, Webportal, Tagungen, Lehre, Ausstellung; Finanzierung: Schweizerischer Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung; Kontakt: https://nahoststudien.unibas.ch/forschung/siba/
Erschienen in: Fotogeschichte, Heft 136, 2015
Vier Städte stehen im Zentrum dieses am Basler Seminar für Nahoststudien angesiedelten visuellen Forschungsprojekts, die im Akronym SIBA zu einem Wort zusammengefasst werden: Sarajevo, Istanbul, Belgrad und Ankara. In der Zwischenkriegszeit gehörten diese Städte zum 1918 gegründeten Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen (Belgrad und Sarajevo) und zur 1923 gegründeten Republik Türkei (Istanbul, Ankara). Alle vier waren einst Teil des im Ersten Weltkrieg untergegangenen Osmanischen Reichs gewesen. Und alle vier durchliefen in den Jahrzehnten vor und nach dem Ersten Weltkrieg einen von den Behörden stark geförderten Modernisierungs- und Urbanisierungsschub: Istanbul als imperiale Metropole im spätosmanischen Reformzeitalter und Sarajevo als Entwicklungsobjekt der österreichischen Besatzungsmacht (1878 bis 1918) davor, Ankara als 1923 gekürter Sitz der Republik Türkei danach, und Belgrad zunächst als Residenzstadt des 1878 in die Unabhängigkeit entlassenen Serbiens, und nach 1918 als neue Hauptstadt Jugoslawiens. Das Forschungsprojekt untersucht anhand von Pressefotografie lokaler Fotografen und Printmedien Konvergenzen und Divergenzen in der Entwicklung dieser Städte: Wie veränderten sich die städtischen Lebenswelten in der jugoslawischen Monarchie respektive der türkischen Republik? Lässt sich ein gemeinsames osmanisches Erbe erkennen? Wie gingen die vier Städte damit um? Wie äusserte sich Moderne? Welche Themen griff die Presse auf, und wie stellte sie sie dar?
Die Fotografie wurde im Raum des ehemaligen Osmanischen Reiches erst mit dem Ersten Weltkrieg zu einem Massenphänomen. Dabei erhielt sie sich eine gewisse Exklusivität. Eine wichtige Ursache war die weitverbreitete Armut: Den Gang zum Fotografen konnten sich viele Menschen nur zu ganz besonderen Ereignissen leisten; eine eigene Kamera war den Reichen und den Profis vorbehalten. Ein zweiter Grund war die Religion: Insbesondere in muslimisch dominierten Regionen hielten sich die Menschen aufgrund des religiösen Bilderverbots vom Lichtbild fern — sie galt als „des Teufels, nur für Ungläubige“.[1] Doch die langen Kriegsjahre hatten die alte Welt aus den Fugen gehoben und vieles möglich gemacht, was vorher undenkbar gewesen wäre. Kriegszerstörungen und der Aufbau neuer Staaten erforderten eine Totalerneuerung der Infrastruktur, was einen Modernisierungsschub unter anderem im Pressewesen beförderte. Die großen Zeitungsredaktionen Jugoslawiens und der Türkei heuerten erstmals eigene Fotoreporter an, die ihre Städte nach auffälligen Ereignissen und Motiven durchforschten. Die besten unter ihnen kamen selber zu lokalem Ruhm, wie Selahattin Giz von der Istanbuler Cumhuriyet oder Aleksandar-Aca Simić von der Belgrader Politika. In städtischen Gesellschaften mit einem nach wie vor hohen Anteil analphabetischer Bevölkerung hatte ihre Arbeit auch erzieherische und propagandistische Funktionen.
Neben einer seriellen Auswertung bereitet das Projektteam eine digitale wissenschaftliche Edition der aus der Türkei, Serbien und Bosnien zusammengetragenen Bilder vor. Zu diesem Zweck arbeitet es mit renommierten Fotografiehistorikern in Istanbul, Belgrad und Sarajevo zusammen und ist eine enge Kooperation mit dem Grazer Visual Archive Southeastern Europe (VASE) eingegangen. Zwei Dissertationsprojekte untersuchen ausgewählte thematische Aspekte: Milanka Matić analysiert das Bild der modernen Frau in türkischen und jugoslawischen Illustrierten, und Joël László beschäftigt sich mit Fragen fotografischer Repräsentation und visueller politischer Semantik in der kemalistischen Tagespresse. Weitere thematische Tiefenanalysen werden im Rahmen einer Wanderausstellung für die Öffentlichkeit aufbereitet.
[1] Mehmed A. Akšamija: Alija M. Akšamija – Monografija arhivografije, Sarajevo: BANU 2015, 2 Bände. Hier Band 1, 20. Siehe auch Karl Kaser: Andere Blicke. Religion und visuelle Kulturen auf dem Balkan und im Nahen Osten, Wien, Köln, Weimar: Böhlau 2013.
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