Steffen Siegel
Beim Wort genommen
Anthologien zur Geschichte der Fotografie
Duncan Forbes, Florian Ebner (Hg.): Manifeste! Eine andere Geschichte der Fotografie, Göttingen: Steidl, 2014, 422 S, 28,5 x 21 cm, zahlreiche Abb., kartoniert, 38 Euro.
Andrew E. Hershberger (Hg.): Photographic Theory. An Historical Anthology, CBoston. Oxford: Wiley Blackwell, 2014, 462 S., zahlreiche Abb., 34,90 Euro (kartoniert), 81,30 Euro (gebunden)
Erschienen in: Fotogeschichte 135, 2015
„Wird die Beschriftung nicht zum wesentlichsten Bestandteil der Aufnahme werden?“, fragte Walter Benjamin ganz am Ende seiner Kleinen Geschichte der Photographie.[1] Der Philosoph traf den Punkt haargenau – und verfehlte ihn doch zu gleicher Zeit. Denn einerseits hat Benjamin unbedingt recht: „Beschriftungen“ im Sinn von diskursiven Rahmungen sind ein unverzichtbarer Teil der Fotogeschichte. Andererseits aber war es auch 1931, als Benjamins Sammelrezension erschien, längst nicht mehr nötig, eine solche Frage im prognostizierenden Futur zu stellen. Genau besehen gehört es ja gerade zum Erstaunlichsten der Fotogeschichte, dass sich hier von Anfang an „Aufnahme“ und „Beschriftung“, das heißt Bilder und Texte wechselseitig bedingen. Eine eigene Theorie der Lithographie, der Kreidezeichnung oder des Siebdrucks, so schrieb Rolf H. Krauss einmal, muss es nicht wirklich geben. Der Bedarf an fototheoretischer Verständigung hingegen war seit der Pionierzeit des Mediums unübersehbar und mündete in einer unmöglich zu überschauenden Vielzahl von Texten. Um dennoch Übersicht zu gewinnen, leistet jener Typ von Anthologien eine gewisse Hilfestellung, für den die von Wolfgang Kemp in drei Bänden herausgegebene und von Hubertus von Amelunxen um einen weiteren Band ergänzte Theorie der Fotografie als prominentes Beispiel stehen mag.
Doch was genau lesen wir eigentlich, wenn wir diese und andere Auswahlausgaben zum historischen Fotodiskurs aufschlagen? Die nicht eben geringe Attraktivität solcher Bände besteht ja gerade darin, leicht fasslich an einem Ort zusammengeführt zu finden, was aus sehr unterschiedlichen Quellen bezogen wurde. Angesichts der Vielfalt fotografischer Verfahren ist es überaus voraussetzungsreich, von der einen „Fotografie“ (im Singular) zu sprechen. Nicht weniger schwierig wiederum ist aber auch die abkürzende Rede von der „Fototheorie“. Solche „Beschriftungen“ wurden und werden in sehr unterschiedlichen Handschriften und mit bemerkenswert vielfältigen Absichten verfasst. Gerade diese Beobachtung nahmen das Museum Folkwang in Essen und das Fotomuseum Winterthur beim Wort: Die in beiden Häusern gezeigte Ausstellung „Manifeste!“ (in Essen als Teil einer größeren Ausstellung zur bildanalytischen Fotografie der Gegenwart) verwechselte absichtsvoll die musealen Zeigeordnungen. Die „andere Geschichte der Fotografie“, die diese Ausstellung im Untertitel vollmundig versprach, bestand aus nichts anderem als Texten; fotografische Bilder hingegen traten bestenfalls kommentierend und erst in zweiter Instanz an deren Seite.
Der diese Ausstellung begleitende Katalogband stellt den programmatischen Witz einer solchen Verkehrung von Bild und Text nun auf Dauer. Gleichwohl scheint eine Warnung angebracht. Wer zu diesem Band greift, um ihn als einen visuell ansprechenderen Nachfolger älterer Anthologien zu benutzen, wird zwangsläufig enttäuscht werden. Gewiss finden sich auch hier, auf den mehr als 400 großformatigen Seiten, zahlreiche Klassiker des Fotodiskurses; und gewiss können auch Kenner noch einige interessante Entdeckungen machen. Doch bieten die meist nur in kurzen Auszügen gegebenen Texte (und gegebenenfalls auch Transkriptionen und Übersetzungen) kaum mehr als einen ausschnitthaften Eindruck von den größeren Linien der Fototheorie. Die grundlegende These der Herausgeber ernst zu nehmen, heißt, diese Sammlung von Texten als ein Fotobuch zweiter Ordnung aufzuschlagen. Das sich gerade in jüngerer Zeit intensivierende Bewusstsein für die große Bedeutung, die die materielle Dimension für eine genauere historische Differenzierung des Fotografischen spielt,[2] erfährt mit diesem Band eine ebenso logische wie konsequente Erweiterung. Mit dem ganzen Nachdruck, der den zwangsläufig begrenzten Zeigemöglichkeiten eines Buches überhaupt zur Verfügung steht, wird hier die frappierende Vielfalt von Fototexten als eine phänomenologisch bedeutsame ausgespielt. Zwischen der eleganten Typographie von Talbots The Pencil of Nature, die ganz der victorianischen Buchkultur verpflichtet ist, und einem auf der Schreibmaschine angefertigten, von zahlreichen Korrekturen durchsetzten Vortragstyposkript von August Sander öffnet sich ein ganzes Spektrum möglicher Text-Materialitäten.
Als ein Fotobuch mit lauter Texten führt dieser Band zurück zu jenen Orten, an denen sich die fototheoretische Auseinandersetzung ursprünglich abspielte. Wie uneben das hierbei durchschrittene Gelände tatsächlich ist, wird bereits bei flüchtigem Blättern, erst recht aber bei genauer Betrachtung der hervorragenden Text-Reproduktionen deutlich. All diese „Beschriftungen“ des Fotografischen verfügen über eine visuelle Ästhetik eigenen Rechts. Und diese kann, das ist keine geringe Pointe für eine genaue Verständigung über die Geschichte des Fotodiskurses, auf den Sinn des Geschriebenen auf weitreichende Weise einwirken. Als eine Sammlung von Bildern von Texten sollte dieser Band vorderhand sehenden Auges betrachtet, erst dann aber gelesen werden. Oder besser noch: Er sollte direkt neben einer jener Anthologien liegen, die auf klassische Weise die Geschichte des Fotodiskurses als homogenen, alle formalen Differenzen aufhebenden Fließtext abbilden.
Von Wolfgang Kemps Theorie der Fotografie (1979–1983) über Beaumont Newhalls Photography: Essays & Images (1980) bis André Rouillés La photographie en France (1989) – die Auswahl an entsprechenden Auswahlausgaben ist mehr als reichlich. Nicht allein die drei genannten Editionen sind (wenigstens in ihren jeweiligen Sprachkreisen) längst zu Referenzwerken für die fotohistorische Arbeit aufgestiegen. An deren Seite tritt seit Neuestem nun ein weiterer Band, der im Sinn einer „Historical Anthology“ das Spektrum fotografischer Theoriebildung repräsentativ zu erfassen verspricht. Herausgegeben wurde er von Andrew E. Hershberger, der an der Bowling Green State University in Ohio Kunstgeschichte unterrichtet und in jüngeren Jahren als engagierter Kritiker moderner Fototheorie hervorgetreten ist.[3] Vom Bild auf dem Umschlag (eine Aufnahme Berenice Abbotts) einmal abgesehen, folgt auch Hershberger mit seiner Anthologie jenem von Kemp und anderen angelegten Muster: Geboten wird, hier auf 462 Seiten, eine Folge kommentierter, in zahlreichen Fällen gekürzter Originaltexte – unter vollkommenen Ausschluss jeder Abbildung, seien es die Textquellen selbst oder seien es auch fotografische Bilder, die in Bezug zum Text stehen könnten.
Einmal mehr liegt der Reiz dieser Anthologie – ganz wie bei ihren zahlreichen Vorgängerinnen – in der durch den Herausgeber getroffenen Auswahl. In sechs großen Kapiteln folgt sie hierbei einer chronologischen Ordnung, die jedoch ihrerseits zugleich nach systematischen Gesichtspunkten unterteilt sind. Den zurückliegenden Jahrzehnten seit ca. 1960 wird hierbei deutlich mehr Platz eingeräumt als der vorangehenden, durch diese Anthologie erfassten Zeit (die Hershberger mit einem Auszug aus Platons „Staat“ bereits in der griechischen Antike beginnen lässt). Es dürfte aber gerade diese Schlagseite hin zu unserer Gegenwart sein, die für heutige Leserinnen und Leser einen besonderen Reiz ausmacht; werden doch die erst jüngst ausgelegten Linien der Fototheorie, hierbei natürlich insbesondere jene zur Digitalität, aber auch zu Fragen wie Interdisziplinarität und Intermedialität des Fotografischen, von älteren Anthologien naturgemäß nicht erfasst. Von der für die Fotodebatte so charakteristischen Internationalität des Diskurses hingegen hält sich Hershberger bedauerlicherweise beinahe vollständig fern. Annähernd sämtliche der von ihm zusammengetragenen 86 Texte stammen von englischsprachigen Autorinnen und Autoren.
In seiner inhaltlichen Aufbereitung dürfte sich diese Anthologie der langjährigen Erfahrung des Herausgebers als eines auf die Fotografie-Geschichte spezialisierten Hochschullehrers verdanken. Ganz wie Wolfgang Kemp dies einst tat, moderiert auch Hershberger jeden einzelnen Text durch eine kurze Einleitung an. Kemps beschwingt-essayistischer Tonfall verwandelt sich bei Hershberger jedoch in deutlich trockenere Prosa. Vor allem aber beschneidet er zumeist allzu empfindlich in die zusammengetragenen Texte kürzend ein, so dass zuweilen kaum mehr als ein minimaler Auszug aus dem größeren Argumentationsgang stehen bleibt. Gemeinsam mit seiner umfassenden Auswahlbibliografie sollte man diesen Band daher wohl vor allem als eine Anstiftung zum Weiterlesen in den Originaltexten verstehen. Dies aber ist gewiss nicht das Schlechteste, was sich über eine Anthologie sagen lässt.
[1] Walter Benjamin: Kleine Geschichte der Photographie [1931], in: ders.: Gesammelte Schriften, 7 Bde., Bd. 2, hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt am Main 1977, S. 368–385, hier S. 385.
[2] Siehe einzig stellvertretend Elizabeth Edwards, Janice Hart (Hg.): Photographs Objects Histories. On the Materiality of Images, London, New York 2004.
[3] Siehe unter anderem Andrew E. Hershberger: Malraux’s Photography, in: History of Photography 26, 2002, S. 269–275. Ders.: Krauss’s Foucault and the Foundation of Postmodern History of Photography, in: History of Photography 30, 2006, S. 55–67.
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