Isabelle Haffter
Der erste Berufsfotograf im Bergell
Beat Stutzer: Andrea Garbald (1877–1958). Fotograf und Künstler im Bergell – Fotografo e artista in Bregaglia. Hg. von der Fondazione Garbald und vom Bündner Kunstmuseum Chur, Zürich: Scheidegger & Spiess, 2014, 208 S., 24 x 29 cm, zweisprachig dt./ital., 91 Abb. in Farbe und 89 Abb. in S/W, geb., EUR 58.00
Erschienen in: Fotogeschichte, Heft 133, 2014
Jahrzehntelang lag das fotografische Werk Andrea Garbalds (1877–1958) auf dem Dachboden seines Elternhauses, der Villa Garbald, in Castasegna und drohte in Vergessenheit zu geraten. 1985 entdeckte der Fotograf und Künstler Hans Danuser die fotografischen Gerätschaften, Originalabzüge und zahlreiche Glas- und Zelluoidnegative. Zum Vorschein kamen neben Aufnahmen, die das Alltagsleben im Bergell dokumentieren, auch Porträt-, Stillleben-, Architektur-, Landschafts- und Gebirgsfotografien. Die bereits 1955 von den Geschwistern Andrea und Margherita Garbald (1880–1956) gegründete Fondazione Garbald setzt sich seit den 1990er Jahren für die wissenschaftliche Aufarbeitung und entsprechende Würdigung des Garbald-Nachlasses ein. Dieser umfasst neben einer erlesenen Bibliothek auch das literarische Werk der Mutter, Johanna Garbald-Gredigs (1840–1935), mit Pseudonym Silvia Andrea. 2010 wurde das mittlerweile um einige Zukäufe erweiterte fotografische Werk als Depositum dem Bündner Kunstmuseum in Chur anvertraut. Im Frühjahr 2014 wurde das 150-Jahr-Jubiläum der Villa Garbald, die vom Architekten Gottfried Semper (1803–1879) 1864 erbaut, zwischen 2001 und 2004 denkmalpflegerisch saniert und durch den Roccolo-Neubau erweitert wurde, gefeiert. Zu diesem Anlass wurde der Fotoband von Beat Stutzer, ehemaliger Direktor des Bündner Kunstmuseums, in Zusammenarbeit mit der Stiftung und dem Bündner Kunstmuseum herausgegeben. Die Publikation begleitet zwei Ausstellungen im Bündner Kunstmuseum in Chur und im Bergell.
Andrea Garbald war der erste Berufsfotograf des Bergells und gleichzeitig auch dessen erster Bildchronist. Dieser Umstand verleiht seinem fotografischen Œuvre einen unschätzbaren historischen Wert. Der 1877 geborene Sohn des Zolldirektors von Castasegna wuchs in einer für das Bergtal außergewöhnlich bildungsbürgerlichen Familie auf. Die Eltern bemühten sich den Kindern Andrea, Margherita und Augusto (1881–1932) eine angemessene Ausbildung zu ermöglichen. Andrea Garbalds Wunsch Fotograf zu werden, ist vermutlich auf den Maler und Fotografen Francesco Prevosti (1832–1899) zurückzuführen, zu dem die Familie Garbald Kontakt pflegte. Von 1896 bis 1898 absolvierte Garbald seine Lehre bei Johannes Barbieri (1852–1926) am Photographischen Laboratorium des Polytechnikums (ETH) in Zürich. Nach einem Praktikum beim Zürcher Porträtfotografen Rudolf Ganz (1848–1928) bewarb sich Garbald einem Brief der Mutter zufolge im Dezember 1898 bei der Graphischen Gesellschaft, die ihn jedoch ablehnte. Nach dieser Niederlage kehrte Garbald ins Bergell zurück. 1899 eröffnete der 22-Jährige mit dem Geld seiner Eltern in der Villa ein Tageslichtstudio. Dort empfing er seine Kundschaft und stellte Passbilder, Gruppen- oder Einzelporträts als Carte de Visite (bis circa 1910) oder als Einzelabzug her. Nach dem Tod Prevostis übernahm Garbald dessen Optiker- und Fotografiegeschäft in Castasegna und warb in Inseraten für seine Foto- und Filmapparate, Feldstecher und Brillen. Margherita liess sich 1904 bei Carl Anton Lang (1851–1911) in Chur und 1905/06 bei Maria Bernoulli (1868–1963) in Basel zur Fotografin ausbilden. Danach arbeitete sie mit ihrem Bruder im Fotogeschäft, das in den 1920er Jahren in das Studio Fotografico A. & M. Garbald, Castasegna umbenannt wurde.
Stutzer betont, dass die enge Zusammenarbeit der Geschwister eine gesicherte urheberrechtliche Zuordnung des fotografischen Nachlasses erschwert. Die Datierung der Fotos und die Benennung der abgebildeten Personen sind ebenfalls problematisch, da bislang aussagekräftige Quellen fehlen. Zudem sind immer noch viele Originalabzüge, welche möglicherweise beschriftet und signiert waren, verschollen oder während der Zwischennutzung der Villa als Polizeistelle in den 1960er Jahren vernichtet worden. Der Bibliotheksbestand und die vorhandene Fotoausrüstung lassen darauf schließen, dass sich Garbald mit der neuesten Kameratechnik ausgerüstet und internationale Fachzeitschriften und Sachbücher abonnierte hatte, um sein fotografisches Handwerk weiterzuentwickeln.
Neben den Auftragsarbeiten und vereinzelten Publikationen seiner Landschafts- und Bergaufnahmen hatte Garbald auch künstlerische Ambitionen. So sind im Nachlass einige Porträts von Familienmitgliedern und Fotomodellen, Selbstporträts und Landschaftsaufnahmen vorhanden, die dem Piktorialismus zuzuordnen sind. Im Porträt Alberto Giacomettis (1834–1900), dem Großvater des Malers und Bildhauers Alberto Giacomettis (1901–1966), gelang es Garbald eine malerische Bildwirkung zu erzeugen, die der strengen Männergestalt dank der weichen Lichtführung und der unscharfen Konturen eine sinnliche Note verleiht. Die Familie Garbald stand in engem Kontakt mit den Giacomettis. Dies erklärt, warum das weltberühmt gewordene Familienporträt aus dem Jahr 1909 von Andrea Garbald aufgenommen wurde.
Der Fotoband präsentiert in 91 Abbildungen eindrücklich das Wirken Garbalds im Bergell. Die Publikation würdigt seine jahrzehntelange Leistung als begabter Fotochronist. Sowohl alltägliche Szenerien einer Kastanienernte oder einer weidenden Schafsherde, die an Giovanni Segantinis Malerei erinnern, als auch außergewöhnliche Anlässe wie die Aufführung einer Laientheatergruppe, die Einschulung der Dorfkinder, Feste oder Arbeitsjubiläen, Vereinsgesellschaften oder Berufsgruppen wurden von Garbald über Jahre hinweg fotografisch dokumentiert. Die Auswahl der Bildmotive und Ausschnitte, die Lichtführung und Schärfeziehung und die präzise Ausarbeitung der Bildträger zeugen von Garbalds fotografischem Wissen und Können. Diese Aufnahmen sind entweder als piktorialistisch oder sachfotografisch zu bezeichnen. Stutzer argumentiert, dass sie eine fotografische Wirklichkeit vom sozialen, kulturellen und architektonischen Wandel der Bergregion wiedergeben und daher als Quellenmaterial von Historikern näher erforscht werden sollten.
Trotz seiner Begabung strebte der Berufs- und Kunstfotograf keine Karriere an und starb 1958 vereinsamt und verwahrlost in seiner Villa. Erstmals wurde sein Werk 1999 in der Kulturzeitschrift DU erwähnt. Dank der Aufarbeitung seines Nachlasses wird Garbald mittlerweile neben anderen bekannten Bündner Fotografen aufgeführt, was z.B. die Ausstellung Foto Szene GR 2010 im Bündner Kunstmuseum beweist. 2013 strahlte 3sat den Film Andrea Garbald Fotografo. Eine Spurensuche im Bergell von Peter Spring und Adrian Zschokke aus.
Beat Stutzer ist mit diesem ersten Fotoband über den Fotografen Garbald eine informative und sorgfältig recherchierte Monografie gelungen, die einfühlsam die Familiengeschichte der Garbalds rekonstruiert und kritisch reflektiert. Die sorgfältige Bildauswahl, die in den nach Bildgenres aufgeteilten Kapiteln als hochwertige Reproduktionen erscheinen, vermittelt einen repräsentativen Überblick über das vielseitige Werk. Das Verdienst des Fotobandes ist die erstmalige umfassende Aufarbeitung des Werks. Die präzisen Angaben zu den Text- und Bildquellen und zur Rezeptionsgeschichte stellen einen wichtigen Beitrag zur Schweizer Fotogeschichte dar. Kunsthistorische Erkenntnisse vermitteln exemplarische Bildbeschreibungen und Analysen in den Kapiteln zum Piktorialismus oder zum künstlerischen Porträt. Ein explizit fotoästhetischer Vergleich mit Schweizer Piktorialisten, Tourismus- und Sachfotografen, wie es im interessanten Gespräch am Ende des Buches zwischen Hans Danuser und Stephan Kunz, dem Direktor des Bündner Kunstmuseums, anklingt, hätte dazu beigetragen, Garbalds fotografische Arbeit im zeitgenössischen Fotodiskurs noch besser verorten zu können. Man darf gespannt sein, ob weitere Forschung zur Fotografie im Bündnerland auf der wertvollen Grundlage dieses vortrefflich gestalteten Fotobandes betrieben wird.
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