Anja Nadine Werner
Arnulf Rainers Fotoséancen
Christina Natlacen: Arnulf Rainer und die Fotografie. Inszenierte Gesichter, ausdrucksstarke Posen – Petersberg: Michael Imhof Verlag, 2010 – 30,5 x 25 cm, 240 S., 233 Schwarzweiß-Abbildungen, Hardcover – 35 Euro
Erschienen in: Fotogeschichte 117, 2010
Der österreichische Künstler Arnulf Rainer bewegt sich im Spannungsfeld von Malerei, Fotografie und Performance-Kunst. In der Eröffnungsausstellung des 2009 gegründeten Arnulf-Rainer-Museums in Baden bei Wien werden aktuell frühe surrealistisch-gegenständliche Zeichnungen bis zur ersten Phase der Übermalungen gezeigt.[1] Die Werkauswahl verwundert nicht, immerhin ist Rainer durch seine Übermalungen bekannt geworden, was zur Folge hat, dass er oftmals auf diese Praxis reduziert wird. Dass aber seine fotografischen Selbstdarstellungen ursprünglich nicht für den Zweck der Übermalung erschaffen wurden, sondern durchaus ein eigenständiges Konvolut darstellen, rückt Natlacens Studie erstmals umfassend in den Fokus. Sie untersucht Rainers Bildmaterial unter fotohistorischen, -technischen und -ästhetischen Gesichtspunkten. Dabei setzt sich Natlacen von der weit verbreiteten Meinung ab, Fotografie bei Rainer nur als bloßes Hilfsmittel zu sehen.[2]
1968 bis 1976 entstand ein umfangreicher fotografischer Zyklus performativer Selbstinszenierungen, die keine Selbstbildnisse im eigentlichen Sinne sind, da sich Rainer der Hilfe professioneller Fotografen bedient hat. Dennoch zeugt die Bearbeitung des fotografischen Materials von einer künstlerischen Aneignung und Auseinandersetzung mit diesem Medium. Natlacen hat für ihre profunde Studie, die 2006 als Dissertation an der Karl-Franzens-Universität Graz eingereicht wurde und hier in überarbeiteter Form vorliegt, eingehend das fotografische Privatarchiv Rainers untersucht und mit dem Künstler zahlreiche Gespräche geführt. Das Buch gliedert sich in zwei Teile. Zunächst untersucht und klassifiziert Natlacen das unveröffentlichte fotografische Material, um dann im zweiten Teil Themenkomplexe für das inhaltliche Verständnis besonders zu untersuchen: den Bereich der Pathognomik sowie Physiognomik, die Psychopathologie und die Performativität.
Natlacen weist im ersten Teil nach, dass sich Rainer bereits in seiner informellen Werkphase (1951-52) mit gestischen Spuren der Malerei und expressiven Ausdrucksbewegungen des Körpers auseinander gesetzt hat. Das Interesse an Körperspuren als Ausdrucksmittel führt Rainer schließlich zum Medium der Fotografie. Mit den Gesichtsbemalungen (1968-70) wird der eigene Körper zum Ausdrucksträger. Sie stellen "Schwellenwerke" dar und sind somit ein Verbindungsglied zwischen Malerei und den späteren Automatenfotos. Das heterogene fotografische Material dieser Schaffensphase zeigt noch keinen systematischen Umgang mit der Fotografie, allerdings weisen Ausschnittmarkierungen Rainers bereits auf eine Auseinandersetzung mit den medialen Möglichkeiten hin. Ab Oktober 1968 enstehen als Fortführung der intensiven Beschäftigung mit physiognomischen Themen die Automatenfotos. Sie zeichnen sich insbesondere durch ein performatives Element aus. Dies wird aufschlussreich im Kontext der Momentfotografie verortet. Das Quellenstudium im fotografischen Privatarchiv Rainers ergab, dass er Reproduktionen nur nach der Qualität der Bildinformation und nicht der des fotografischen Abzugs herstellen ließ. Die performative Ausdrucksqualität erreicht er dabei durch die Synchronisation des Ausdruckshöhepunkts und des Auslösemoments. Zur kameralosen Fotografie findet sich ein aufschlussreicher Exkurs "Zwischen Personenidentifizierung und Jahrmarkt", der von der Erfindung des Passbildautomaten über die Gesichtsvermessung Bertillons, die Aneignung im Surrealismus und der Pop Art bis zur Konzeptkunst reicht. In den darauf folgenden Fotoséancen 1969-76 entschließt sich Rainer zur Zusammenarbeit mit professionellen Fotografen wie Alexander Prinzjakowitsch. Dies hat den Vorteil, dass er selbstbezüglicher agieren kann und Reproduktionen hergestellt werden können. Rainer ist dabei an einem neutralen Lichtbild interessiert. "Zugespitzt formuliert, besteht für Rainer kein qualitativer Unterschied in der fotografischen Arbeit des Reproduzierens seiner Werke und des Dokumentierens seines performativen Körpertheaters - in beiden Fällen kommt es Rainer auf das fotografische Anfertigen von Bildern an." (S. 44) Folglich stellt sich die Frage nach dem Status der Fotografien zwischen Inszenierung und Dokumentation. Aufschlussreich ist zudem die Untersuchung von Filmserien, die 1972 in enger Zusammenarbeit mit dem Filmemacher Peter Kubelka enstehen und die die Autorin in Verbindung zum filmischen Fotogramm setzt. Darüber hinaus untersucht sie Rainers archivarische Praktiken, indem sie der Arbeit mit Kontaktabzügen nachspürt, die sich durch einen schnellen Selektionsprozess auszeichnet. Diesen macht sie anhand ausgewählten Bildmaterials greifbar. Erhellend ist auch der Exkurs zu Fotografie und Archiv, die sich beide durch Selektion und Objektivität auszeichnen.
Der zweite Teil befasst sich zunächst mit dem "Ausdrucksträger Gesicht". Er wird in Bezug zu den Diskursen der Ausdruckstheorie des 19. Jahrhunderts, der Physiognomik und Pathognomik, gestellt. In Rainers Sammlung befinden sich zahllose Lehrbücher zum pathologischen Körperausdruck, psychiatrische Fotografien und Werke der sogenannten Art Brut, deren expressiven Stil er schätzt. Natlacen zeichnet die Verwendung der Fotografie als Aufzeichnungsmedium für die Pathognomik nach. Zudem widmet sie sich in einem Diskurs zum Wahnsinn und Schauspiel der Grimasse, die in Rainers Automatenfotos eine wichtige Rolle spielt. Rainers Körperposen verordnet sie zwischen pathognomischen Gesichtsausdrücken und performativen Strategien wie der Schauspieltheorie. Der Abschnitt zur Psychopathologie weist nach, dass Rainers Körperposen ohne Kenntnis von Bildzeugnissen der pathologischer Körpersprache so nicht möglich gewesen wären. Rainers Konzept des "Autistischen Theaters der Katatonen" wird im Bezug zu Bildmaterial aus Lehrbüchern der Psychiatrie analysiert. Der Exkurs zur Ästhetik und Geschichte der psychiatrischen Fotografie sowie zur Kontextualisierung von Kunst und Psychopathologie ist für das Verständnis Rainers Selbstinszenierungen darüber hinaus sehr aufschlussreich. "Seine originäre Herangehensweise zeichnet sich dadurch aus, wissenschaftliche Darstellungen performativen Affektausdrucks zu rezipieren und am Beispiel des eigenen Körpers in den Kunstkontext zu überführen" (S. 167). Zuletzt werden Rainers performativen Posen vor Hintergrund der aktuellen Diskussionen über Performativitätskonzepte analysiert. Natlacen geht dabei primär auf die Performance als künstlerische Ausdrucksform ein, beispielsweise im Wiener Aktionismus. Dort wird die Fotografie aufgrund ihrer Indexikalität vorrangig als bloßes Aufzeichnungsmedium eingesetzt. An dieser Stelle wäre lohnenswert gewesen, noch eingehender den Auslösemoment als Performanz selbst aufzugreifen. Denn nach Dubois kann keine Fotografie nur als Bild betrachtet werden, sondern sie ist immer ein Resultat des fotografischen Akts.[3] Verbunden mit den Repräsentationsweisen des fotografischen Mediums ist zudem die Frage nach der Autorschaft. Natlacen spricht diese eher Rainer als dem Fotografen zu, was diskutiert werden müsste. Die folgende Verortung in der Tanz- und Theaterfotografie ist insofern sinnvoll, weil Rainer seine Selbstdarstellungen zwischen Theater und bildender Kunst verortet. Dabei wird deutlich, dass er der Aktionskunst näher als dem Theaterkonzept steht. 1976 beendet Rainer seinen Korpus der fotografischen Selbstinszenierungen, danach wendet er sich wieder grafischen und malerischen Ausdrucksformen zu und lässt der Fotografie nur den Status als bloßes Hilfsmittel für Übermalungen zukommen. An dieser Stelle wäre ein abschließendes Fazit und ein Ausblick auf die folgenden Werkkomplexe wünschenswert gewesen.
Die Studie stützt sich auf eine profunde Kenntnis der Forschungsliteratur. Das zahlreiche, erstmalig veröffentlichte Bildmaterial aus Rainers Privatarchiv ermöglicht interessante Einblicke in den Schaffenprozess und stützt die Argumentation der Autorin. Eine umfangreiche Bibliografie und Tabellen mit Hintergrundinformationen zu den fotografischen Konvoluten der Gesichtsbemalungen, Automatenfotos, Fotoséanchen und Filmserien schließt die Publikation ab. Natlacens weist nach, wie Rainers Selbstinszenierungen von der Auseinandersetzung mit der Psychopathologie geprägt sind, wobei sich sein interdisziplinärer Anspruch gewinnbringend auf die Forschungsarbeit selbst übertragt. Dabei setzt sie sich von anderen Veröffentlichungen[4] ab und rückt endlich den Aspekt des Fotografischen im Kontext Rainers performativer Selbstinszenierungen in den Fokus. Eine Ausstellung zu diesem bislang vernachlässigten Themenkomplex, vielleicht in dem neu eröffneten Arnulf-Rainer-Museum, wäre eine gute Möglichkeit, auch diesen Aspekt Rainers Oeuvres einem breiteren Publikum näherzubringen.
[1]Arnulf-Rainer-Museum: Arnulf Rainer: "Aller Anfang ist schwer". Frühe Arbeiten 1949-1961, Köln 2009.
[2]Wie beispielsweise Johannes Cladders: Die Bedeutung der Photographie in Arnulf Rainers Werk, in: Jean-Baptiste Joly (Hg.): Symposium: Die Photographie in der zeitgenössischen Kunst: eine Veranstaltung der Akademie Schloss Solitude, 6./7.12.1989, Stuttgart 1990, S. 83-99.
[3]Philippe Dubois: Der fotografische Akt. Versuch über ein theoretisches Dispositiv, hg. von Herta Wolf, Amsterdam/Dresden 1998.
[4]Beispielsweise Ingried Brugger (Hg.): Arnulf Rainer. Gegen. Bilder. Retrospektive zum 70. Geburtstag, Kunstforum Wien 2000.
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