Eva Tropper
Was sind „post card studies“?
David Prochaska, Jordana Mendelson (Hg.): Postcards. Ephemeral histories of modernity, The Pennsylvania State University Press, University Park, Pennsylvania 2010 – 27.1 x 24,6 cm, 234 Seiten, zahlreiche Abb. in Farbe und S/W, gebunden – 64,99 EURO
Erschienen in: Fotogeschichte 118, 2010
1976 macht die Künstlerin Dove Bradshaw einen Feuerwehrschlauch, der im Metropolitan Museum of Art an der Wand hängt, zum Gegenstand einer künstlerischen Intervention: Sie versieht ihn mit einer Beschriftung („Dove Bradshaw: Fire Hose, 1976, brass, paint, canvas“), fotografiert ihn und produziert aus dem Abzug eine Postkarte. Der Feuerwehrschlauch kommt solcherart unter den Kunstreproduktionen im Museumsshop zu liegen, eine „Guerilla-Karte“, die sich ohne institutionelle Legitimität unter die autorisierten Karten mischt. Mit Erfolg. Denn einige Jahre später ist es das Metropolitan Museum selbst, das die Karte neu auflegt.
Worum geht es in dieser Arbeit, die Ellen Handy in ihrem spannenden Beitrag „Postcards and the Art-Historical Canon“ bespricht? Postkarten, so Handy, kommt in kunsthistorischen Kanonbildungsprozessen eine kaum jemals wahrgenommene Autorität zu. Auch wenn die Kunstgeschichte traditionell gegen die Postkarte dicht machte und ihr einen niederen Platz unter den Bildmedien zuwies, nimmt diese doch eine konstitutive Rolle im Museum ein; ein Aspekt, den Dove Bradshaws Aktion spielerisch auf die Probe stellt. Denn was auf Postkarten reproduziert wird und was nicht, wirkt direkt zurück auf das, was wir als Teil des Kanons begreifen.
Der Aufsatz ist einer von vierzehn durchwegs interessanten Beiträgen, die der Historiker David Prochaska und die Kunsthistorikerin Jordana Mendelson in dem Band „Postcards. Ephemeral histories of modernity“ versammelt haben. Nicht nur hierzulande, auch im amerikanischen Raum ist ein solcher Band eine Pioniertat, über die man sich nicht genug freuen kann. Anspruch der Herausgeber war es, ambitionierte Texte zum Medium Postkarte aus dem Feld der Visual Culture Studies zu versammeln. Das sind einerseits Wiederabdrucke, wie etwa ein Aufsatz von Naomi Schor, der erstmals 1992 unter dem Titel „Cartes Postales. Representing Paris 1900“ in Critical Inquiry erschienen ist und nach wie vor aufregende theoretische Fährten legt (etwa in Bezug auf das Sammeln von Postkarten). Es sind andererseits aktuelle Texte, die zugleich immer wieder eine Historiographie der eigenen Tätigkeit mitbetreiben. Der Bezug zu Malek Alloulas „Harem Colonial“ aus dem Jahr 1981 etwa ist allgegenwärtig, zu jenem Buch also, das als erstes Postkarten zu einem Gegenstand kritischer Reflexion gemacht hat. Um Alloulas These, dass die um 1900 zirkulierenden Postkartenmotive algerischer Frauen als koloniale Unterdrückung durch einen männlichen Blick zu lesen seien, hat sich im amerikanischen Raum eine äußerst produktive und kontroversielle Debatte entwickelt, von der hierzulande allerdings nur Ausläufer angekommen sind.[1] Ihre Fortschreibung in diesem Band leistet Rebecca de Roo, die danach fragt, was mit den Bildern der lasziv posierenden Algerierinnen passiert, wenn man sie mit einer unerwarteten Tatsache konfrontiert: dass sie nämlich weniger von Männern als von bürgerlichen französischen Frauen verschickt und gesammelt worden sind. Mit dieser Verlagerung der Perspektive vollzieht sie eine Bewegung, die für den Band insgesamt typisch ist: weg von einem isolierten Betrachten der Bilder, hin zu jenem Sinnüberschuss, der durch die Praktiken und Aneignungen des Mediums produziert wird.
Der Band geht aber noch weiter zurück, um relevante Auseinandersetzungen mit dem Medium Postkarte aufzunehmen, etwa zu jenem Beitrag, den Paul Eluard 1933 unter dem Titel „Les plus belles Cartes Postales“ für die surrealistische Zeitschrift „Minotaure“ verfasst hat. Eine Übersetzung ins Amerikanische ergänzt das Faksimile. Ebenso als faksimilierte Reproduktion aufgenommen wurde ein 1948 in der Zeitschrift „Fortune“ erschienener Beitrag von Walker Evans, „Main Street Looking North from Courthouse Square“. Die historische und thematische Schichtung, die sich durch eine solche Zusammenstellung ergibt, die Mischung aus analytischen und angewandten Beiträgen liefert die Konturen für das, was die Herausgeber „post card studies“ nennen, ein Fach, das – heterogen wie sein Gegenstand selbst – dennoch schon eine Geschichte hat, deren verstreute Fragmente Prochaska und Mendelson aufgesammelt haben.
Die disziplinäre Spannbreite des Bandes reicht von der Urbanistik über die Kunstgeschichte und die historische Anthropologie bis zur Literaturwissenschaft. Gemeinsam ist den meisten Zugängen die methodische Entscheidung, die Ebene visueller Argumentation mit den textuellen Aneignungen zusammenzubringen. Nancy Stieber suchte für ihren Beitrag über Amsterdam nur solche Postkarten aus, die von BewohnerInnen der Stadt, und nicht von Touristen, versendet worden sind. Denn während einzelne Postkartensujets von Touristen als Symbole für die Stadt schlechthin gelesen werden, verlaufen die Lektüreprozesse der Einheimischen komplexer; sie interessieren Stieber vor allem dort, wo sie auf urbanen Wandel reagieren und diesen auf der Ebene einer „persönlichen Geografie“ aushandeln, etwa auch in der Auswahl, die BewohnerInnen von Amsterdam in Alben und Sammlungen getroffen haben. Postkarten, so eines ihrer Ergebnisse, kamen inmitten der rasanten Veränderungen des Stadtbilds dem Bedürfnis nach einer integrierbaren „Ganzheit“ der Stadt entgegen, in der Altes und Neues, analog auf Postkartenformat gebracht, koexistieren. Dieser enzyklopädische Gestus der Postkarte, die um 1900 so etwas wie ein visuelles Archiv herzustellen bemüht ist, wird von mehreren Autoren diskutiert (Schor, Prochaska). Interessant ist, wo dieser Gestus aussetzt: Kriegspostkarten, so argumentiert Cary Nelson in seinem lesenwerten Beitrag über die „Wartime Poem Postcard“, stehen seltsam quer zum Archivierunsgdrang des Mediums und zu seinem Funktionieren in Serien. Statt einer flächendeckenden Bebilderung vollziehe die Kriegspostkarte eher solitäre Sprechakte: „The wartime postcard needs to say everything at once“. Die Kriegsportkarte ist auch der Ausgangspunkt für Andrés Mario Zervigón, der die späteren Fotomontagen von John Heartfield und George Grosz mit ihrer Kriegskorrespondenz zusammendenkt. Aber auch für John O’Brian, der die „atomic postcard“ des Kalten Krieges einer Analyse unterzieht.
Zahlreiche Reproduktionen machen aus dem Band auch ein schönes Bilderbuch, das zum Blättern und zum Schweifen des Blicks genauso einlädt wie zur konzentrierten Lektüre. Ein wenig verwirrend ist die Praxis, die Postkarten nicht in der Größe der Vorlage zu reproduzieren, sondern nach den Erfordernissen des Layouts unterschiedlich zu skalieren. Damit geht einiges von der Haptik des Mediums verloren, genauso wie der Effekt, dass es sich ja um normierte Bildträger handelt, deren weltweit annähernd einheitliches Format wesentlich zu ihrem „Wiedererkennungswert“ und ihrer gemeinsamen Rhetorik beigetragen hat. Insgesamt aber bleibt der Eindruck eines ausgesprochen gelungenen Bandes, der die „post card studies“ entscheidend weiterbringt.
[1] Silke Förschler: Die orientalische Frau aus der hellen Kammer. Zur kolonialen Postkarte, in: Ethnizität und Geschlecht. (Post-)Koloniale Verhandlungen in Geschichte, Kunst und Medien, hg. vom Graduiertenkolleg ‚Identität und Differenz’, Köln 2005, S. 77-94.
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