Matthias Weiß
Das Sterben ist ästhetisch bunt
Katharina Sykora: Die Tode der Fotografie. Band 1: Totenfotografie und ihr sozialer Gebrauch, München: Wilhelm Fink Verlag, 2009, 17,3 : 23,4 cm, 603 S., 201 teils farbige Abb., gebunden mit Schutzumschlag, Euro 58,00
Erschienen in: Fotogeschichte 118, 2010
Der Tod ist fotografisch nicht darstellbar, wohl aber die Toten – auch wenn dies, von den Schreckensmeldungen in journalistischen Formaten einmal abgesehen, heute fast in Vergessenheit geraten, oder besser: aus dem öffentlichen Bewusstsein verdrängt worden ist. Eindrücklich in Erinnerung ruft diesen Umstand nun der ebenso gewissenhaft recherchierte wie prächtig ausgestattete, erste Teil einer zweibändig angelegten Studie, welche die Kunsthistorikerin Katharina Sykora vorgelegt hat. Das Buch trägt den Titel „Die Tode der Fotografie“ und gibt umfänglich Auskunft über die Rolle des Lichtbildes in den Toten-, Begräbnis- und Erinnerungspraktiken der sogenannten westlichen Welt. Mit gut sechshundert Seiten ist der Band von imposanter Stärke, lässt sich jedoch angenehm flüssig lesen. Grund hierfür ist die großzügige Gestaltung der Seiten, zuvorderst jedoch die wohltuend klare Sprache der an der Hochschule der Bildenden Künste Braunschweig lehrenden Autorin, die selbst für den heutigen Leser abstoßende oder makabre oder doch zumindest recht schaurige Details zwar pietätvoll, aber ohne falsche Scham beim Namen zu nennen versteht.
Der nicht nur bezüglich seines Umfangs, sondern auch bezogen auf das ausgebreitete Material fast enzyklopädisch anmutende Band deckt den gesamten Zeitraum von den Anfängen der Fotografie bis in die unmittelbare Gegenwart ab und nimmt nicht nur Postmortemfotografie im engeren Sinne, also Aufnahmen von kurz zuvor Verstorbenen, in den Blick. Er nähert sich dem Phänomen auch von seinen Rändern, indem er beispielsweise Lichtbildnisse von Totenmasken oder kriminalistische Fotografien mit einbezieht, seien diese nun am Tatort, in der Pathologie oder auf dem Schafott entstanden. Zusammengehalten wird das zum Teil recht disparate Material durch die luzide Verschränkung kunstgeschichtlicher Überlegungen mit kulturhistorischen und medientheoretischen Reflexionen. Und auch der wiederholte Wechsel zwischen Überblick und Detailbetrachtung ist überzeugend: Sykora verfolgt zum einen große Linien, wenn sie im Modus statistischer Auswertung darüber informiert, dass die im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert ubiquitäre Postmortemfotografie zwischen 1940 und 1960 in Nordeuropa und den Vereinigten Staaten zunächst zurückging und dann völlig verschwand, während sie sich in stärker katholisch geprägten Gebieten als deutlich langlebiger erwies. Anhand präziser Fallstudien erläutert sie zum anderen, welch strengem Regularium die Totenfotografie trotz oder gerade wegen ihrer Ubiquität unterworfen war. Besonders gut greifbar werden diese Regeln im Verstoß: Charles Nègres Bildnis der toten Rachel von 1858 zum Beispiel löste Rechtsstreitigkeiten aus, weil durch sie nur allzu deutlich wurde, dass der Tod die einst große Tragödin ihrer ebenfalls fotografisch dokumentierten Kunst – dem virtuosen Minenspiel nämlich – auf ewig beraubt hatte. Hinzu kam wohl, dass die jüdische Glaubenszugehörigkeit der Bühnenkünstlerin eigentlich keinerlei Aufschub der Beisetzung erlaubte, besagtes Bildnis jedoch von beträchtlichem Zeitaufwand für die Bestellung des Fotografen, die Herrichtung der Leiche, die Einrichtung des Lichts und so weiter zeugt. Komplementär hierzu verhält sich das unangemessen früh und wohl eher hastig aufgenommene, vierzig Jahre jüngere Totenbild des Reichskanzlers Bismarck, das Max Priester und Willy Wilcke durch Bestechung eines Kammerdieners unrechtmäßig aufnehmen konnten und das den ehemals mächtigsten Mann des Kaiserreiches wenig schmeichelhaft und bar aller Gloria recht unmittelbar nach seinem Dahinscheiden zeigt.
Noch aufschlussreicher sind die aus dem komplexen theoretischen Apparat und den umfangreichen Materialanalysen abgeleiteten, allgemeinen Schlussfolgerungen, deren besonderes Augenmerk immer wieder den medialen Aspekten der Fotografie gilt. So rekapituliert Sykora zum Beispiel, dass das analoge fotografische Bild aufgrund seiner indexikalischen Qualität unter anderem als (Selbst)Abdruck konzeptualisiert wird, und schließt dies mit den Überlegungen von Maurice Blanchot kurz, der Leichnam sei sein eigenes Bild, das heißt durch Entweichen der Lebensgeister, durch Ankleiden, Schminken, Aufbahren und so fort nurmehr ein Abbild der einstigen Person. Erst nach der Herstellung eines solchen Schauleibs war denn auch das Fotografieren statthaft, wodurch der Leichnam von einem dreidimensionalen in ein zweidimensionales Bild überführt wurde – ein doppelter, sich potenzierender Akt der Bildwerdung also, nach dem das eine Nach- und Ebenbild erst den Blicken entzogen wurde und dann de facto verschwand, während das andere auf Verewigung zielte und durch die Möglichkeit der Vervielfältigung auch quantitativ maximale Sichtbarkeit garantierte.
Hervorzuheben ist auch, wie viel Aufmerksamkeit Sykora den häufig als Parerga marginalisierten Präsentations- und Aufbewahrungsmöglichkeiten wie Passepartout, Rahmen, Medaillon oder Schatulle widmet. Denn diese geben nicht nur über die Wichtigkeit des Schauens Aufschluss, sondern auch über die Bedeutung der Handhabung, des körperlichen Kontakts. Zudem macht diese Vorgehensweise deutlich, dass die Wahl weiterer Materialien kaum dem Zufall überlassen war, sondern ihrerseits in einem engen Austausch- und Beglaubigungsverhältnis mit der Fotografie stand. Die Verwendung von Wachs zum Beispiel weist auf den Effigiescharakter des fotografischen Bildnisses hin, während das Haar als Analogie zur indexikalischen Spur der Fotografie zu verstehen ist. Beide Materialien dienen also nicht zuletzt dem Ziel, die den Totenfotografien ohnehin immanente Reflexion der eignen Medialität noch zu steigern oder deutlicher herauszustellen.
Gerahmt und maßgeblich inspiriert durch die Texte von Pierre Bourdieu und Roland Barthes entfaltet Sykora demnach ein ebenso weites wie lichtdurchflutetes Panorama, das uns eine mehr als hundert Jahre lang alltägliche, heute jedoch befremdlich wirkende kulturelle Praxis neu erschließt. Nur punktuell droht sich das Großzügige dieses enzyklopädischen Ansatzes als Danaergeschenk zu erweisen: Mit Blick auf das ausdrückliche Einbeziehen der USA zum Beispiel ist nicht so recht erklärlich, warum bei der Diskussion von Hinrichtungsbildern die vor allem aus den Südstaaten stammenden Lynchfotografien unberücksichtigt bleiben, entstammen sie doch einem hochgradig prekäreren und deshalb umso interessanteren Grenzbereich: Als öffentliches Spektakel inszenierte Lynchmorde, wie sie bevorzugt an männlichen Afroamerikanern verübt wurden, waren gesetzlich verboten, wurden aber rechtlich nicht verfolgt. Der infame Mord und seine fotografische Fixierung gerieten deshalb zum doppelten Triumph, nämlich sowohl über den als minderwertig eingestuften Schwarzen wie auch über die von offizieller Seite behauptete Rassengleichheit. Gleichermaßen irritierend ist die Verknüpfung von Totenfotografie und Shoah. Denn obwohl Sykoras These durchaus bestechend ist, dass die fotografischen Inventare der Nationalsozialisten den gewaltsamen Tod des jüdischen Bevölkerungsanteils antizipierten, will sich das hier ausgewählte Material nicht so recht in das übrige fügen. Aufschlussreicher wäre vielleicht die Auseinandersetzung mit der Alliiertenfotografie gewesen – von Lee Miller etwa, die nicht nur die ebenso bekannten wie beklemmenden Aufnahmen von den Leichenbergen in den aufgelassenen Konzentrationslagern anfertigte, sondern auch von gefallenen, ermordeten oder selbstentleibten Kriegsgegnern wie einem erschossenen Soldaten, einem ertränkten Aufseher oder der vergifteten Tochter des Leipziger Bürgermeisters, die sie mit teils lakonischen, teils verachtenden Kommentaren versah.
Wichtige Denkanstöße liefert Sykora wiederum in Form des durchgängigen Rückgriffs auf die Sprache des Theaters, wirft dies doch ein Schlaglicht auf das intrikate Verhältnis von Inszenierung und Fotografie – ein Verhältnis, das sich nicht zuletzt in der ungewöhnlich aufwändigen Gestaltung des gleichsam im Witwenstaat daherkommenden Buches spiegelt. Noch einmal herauszustreichen ist außerdem die konsequente sozialhistorische Einbettung der besprochenen Bilder, bekräftigt sie doch die These von Philippe Dubois und anderen, dass Fotografie nicht nur als papiernes Artefakt, sondern als ein ganzes Bündel sozialer Praktiken zu verstehen ist, wobei das stete Betonen des Herstellungsmodus – gemeint ist hier nicht das Produzieren von, sondern das Produzieren mit Bildern – auf das eminent performative, das heißt Wirklichkeit konstituierende Potenzial des fotografischen Akts verweist. Als letzten Gruß gewährt Sykora Einblick in ein Fotobuch der niederländischen Fotografin Marrie Bot, der wohl auch als Ausblick auf den noch ausstehenden, zweiten Band verstanden werden soll. Er wird künstlerischen Auseinandersetzungen mit dem Thema Totenfotografie gewidmet sein. Man darf ihn mit Spannung erwarten.
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