Gregor Harbusch
Architektur und Fotografie – eine Berliner Bestandsaufnahme
Ludger Derenthal, Christine Kühn (Hg.): Ein neuer Blick: Architekturfotografie aus den Staatlichen Museen zu Berlin – Berlin: Wasmuth, 2010, 24 x 29 cm, 416 S., 340 farbige Abbildungen, gebunden, 48 Euro
Erschienen in: Fotogeschichte 118, 2010
Im Mai 2010 wurde das um immer neue Kulturangebote bedachte Berlin um einen weiteren Ort für Kunst reicher. Zwar handelt es sich bei der Eröffnung des Kaisersaals im Museum für Fotografie nur um einen weiteren Ausstellungssaal in der seit 2004 bestehenden Institution am Bahnhof Zoologischer Garten. Doch der neue Saal bedeutet eine erhebliche inhaltliche Neuorientierung des Museums, das bisher durch die Ausstellungen der Helmut Newton Foundation geprägt wurde. Der bisher vor allem populär orientierte Ausstellungsbetrieb findet sich nun erweitert um einen gediegenen Saal, in dem die Staatlichen Museen Berlin, unter kuratorischer Verantwortung der Sammlung Fotografie der Kunstbibliothek, ihre fotografischen Bestände zeigen können.[1]
Die diversen Bestände der Staatlichen Museen, denen sich das Museum für Fotografie nun widmen soll, sind heterogen und Niederschlag unterschiedlicher Sammlungsgeschichten. Eine eigentliche, wissenschaftlich systematische und gezielt zusammengetragene Sammlung, in der Fotografien als Fotografien bewahrt und aufgearbeitet wurden, gab es nie. Um auf dieser Basis eine repräsentative Eröffnungsausstellung im neuen Saal konzipieren zu können, bedurfte es eines thematischen Leitfadens, der sowohl integrierend als auch präzise ist. Ludger Dehrenthal, Leiter der Sammlung Fotografie und Kurator, entschied sich für die Architekturfotografie. Das Ergebnis kann als virtueller Rundgang durch die Sammlungsgeschichte der Staatlichen Museen gelesen werden, ist aber zugleich der gelungene Versuch, aus der Not eine Tugend zu machen und die Fotografiegeschichte von den Sujets und den historischen Kontexten des Bildermachens her zu erzählen, statt sich primär auf große Namen abzustützen. Vor allem aber liegt nun mit dem Begleitbuch zur Ausstellung ein aktuelles Übersichtswerk zur Architekturfotografie von den Anfängen bis zur Gegenwart vor. Der Titel Ein neuer Blick. Architekturfotografie aus den Staatlichen Museen zu Berlin zeigt die Leistungen des Wiederentdeckens und Systematisierens der verstreuten Bildbestände unter den heutigen Bedingungen fotografiehistorischer Forschungsinteressen klar an.
Derenthal begreift den „neuen Blick“ jedoch auch in einer weiter gefassten, interpretierenden Bedeutung, wie er in seiner Einleitung darlegt und exemplarisch durchspielt. Ausgangspunkt seines Bogenschlags über mehr als ein halbes Jahrhundert Fotoproduktion hinweg sind die Bilder der 1818/19 errichteten Parker Mansion in Boston die der von der Forschung bisher unbeachtete us-amerikanische Fotografen Frank Cousins um 1910 machte und die sich in der Sammlung Fotografie der Kunstbibliothek befinden. Cousins Aufnahmen entstanden aus einem denkmalpflegerischen Interesse für die damals teils akut bedrohten Bauten des frühen 19. Jahrhunderts in den USA. Sie sind zugleich dokumentarisch und atmosphärisch – präzise Fixierungen eines irritierend unbelebten räumlichen Rahmens bürgerlichen Wohnens. Genau an dieser Irritation einer heutigen Lesart setzt Derenthal an, wenn er – mit Seitenblick auf die künstlerische Umwertung von Eugène Atgets Fotografien des alten Paris durch den surrealistisch informierten Blick Berenice Abbotts – Cousins Dokumentation als typologische Reihe zum Thema Wohnen zeigt und mit den seriellen Ansichten bedrohter Industriebauten vergleicht, mit denen Bernd und Hilla Becher seit den 1960er Jahren berühmt wurden.
Im Gegensatz zu dieser anregenden Verknüpfung unterschiedlichster Fotografien über die Grenzen der Sammlungen, Entstehungszusammenhänge, Bildgattungen, Orte und Zeiten hinweg, folgen die weiteren Texte des Buchs der Logik historischer und sachlicher Themensetzungen. Das Spektrum reicht von den „Ruinenwahrnehmungen“ im 19. Jahrhundert bis zum Wandel der fotografischen Auffassung von Detail und Interieur. Die insgesamt 15 Textbeiträge sind knapp gehalten und fungieren als Erläuterungen zum reichhaltigen und gelungen umgesetzten Tafelteil. Sie erschließen und kontextualisieren ausgewählte Fotobestände der Staatlichen Museen und zeichnen dabei die Geschichte der Architekturfotografie nach. Architekturfotografie meint dabei das ganze Spektrum von Bauwerken als fotografisches Motiv und reicht von Grabungsdokumentationen des 19. Jahrhunderts über pittoreske Straßensituationen und technische Messbilder bis zu künstlerischen Fotografien der Gegenwart. Nicht wenigen der Beiträge merkt man jedoch das Problem an, in ihrer Kürze von maximal vier Seiten sowohl das Material im Tafelteil ausreichend erläutern, als auch in einen vernünftigen Kontext stellen zu müssen. Bei ausgreifenden Themen mit Bildbeispielen unterschiedlichster Provenienz ist dies naturgemäß schwerer als bei echten case studies, die sich auf ein konkretes fotografisches Konvolut beschränken können. Es überrascht nicht, dass Letzteres an Hand von Berliner Beispielen geschieht. Aus dem lokalen Kontext stammt auch die einzige Fotografenpersönlichkeit, deren Arbeit ein eigener Aufsatz gewidmet ist, nämlich Arthur Köster, dem wichtigen Dokumentaristen der Berliner Architekturmoderne, zu dem seit Kurzem zwei umfassende Forschungsarbeiten vorliegen.[2]
Die klassisch moderne Architekturfotografie der Zwischenkriegszeit, die durch Köster beispielhaft und auf hohem Niveau vertreten wird, gilt nicht zu Unrecht als zentral für die Entwicklung des Genres. Die damals geforderte Rationalisierung und Technisierung des Bauens korrespondierte mit den medialen Eigenheiten der Fotografie. Und durch die fotografische Inszenierungen der Bauten im Spiel von Licht und Schatten und in dynamischen Schräg- und Eckansichten konnte der formale Fokus der Avantgarde auf den eigentlichen Baukörper, glatte Wandflächen und scharf geschnittene Öffnungen treffend ins Medium Bild übersetzt werden. Dass die Industrialisierung des Bauens oft bloße Forderung blieb und nicht wenige Bauten schnell und unschön alterten, machte die fotografische Inszenierung der frisch fertig gestellten Bauten und die anschließende Verbreitung der Aufnahmen in Büchern und Zeitschriften umso wichtiger. Die Architekturfotografie wurde so zum zentralen Medium mit dem das Neue Bauen in der Öffentlichkeit propagiert wurde. Die Programmatik sozialer Veränderungen und das Ideal einer dynamisierten zukünftigen Gesellschaft wurden dabei vor allem über die Inszenierung der Bauwerke an sich erreicht – sei es mit den formalen Mitteln des Neuen Sehens oder durch sachliche Präzision. Die Bilder blieben meist eigenwillig unbelebt und menschenleer – eine Leere, die zum hartnäckigen Topos der Architekturfotografie wurde.
Berlin spielte als kulturelles Zentrum der Zwischenkriegszeit eine entscheidende Rolle. Die Wohnsiedlungen an den Rändern sowie die Kultur- und Geschäftshausbauten im Zentrum der Stadt zeugen von den Anstrengungen der Avantgarde. Ein erheblicher Teil der innerstädtischen Bauten wurde durch den Krieg zerstört und wird seither vor allem durch die historischen Fotografien erinnert. Diese Bauten leben heute nur noch als erstarrte Bildikonen, entmaterialisierte Projektionsflächen und unüberprüfbare Zeugen ihrer eigenen Intentionen. Die Geschichte der Berliner Avantgarde dezidiert an Hand der Fotos und ihrer Instrumentierung sowie den Nachwirkungen der historischen Selbstinszenierungen bis in die neueste Rezeption hinein kritisch zu erzählen, könnte für das Museum für Fotografie eine lohnende zukünftige Aufgabe sein.
[1] Im Vorfeld der Neueröffnung des Kaisersaal veranstaltete die Sammlung Fotografie der Kunstbibliothek im November 2008 das Symposium „Fotografie im Museum“, auf dem vor allem Vertreter jüngerer Institutionen sprachen. Die Beiträge der Referenten sind online zugänglich unter: www.smb.museum/smb/news/details.php?objID=27204&lang=de [letzter Zugriff: 27.08.2010]
[2] Simone Förster: Masse braucht Licht. Arthur Kösters Fotografien der Bauten von Erich Mendelsohn. Ein Beitrag zur Geschichte der Architekturfotografie der 1920er Jahre, Diss. Berlin 2008; Michael Stöneberg: Arthur Köster. Architekturfotografie 1926-1933. Das Bild vom „Neuen Bauen“, Berlin 2009.
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