Anton Holzer
Fotobücher
Eine andere Geschichte der Fotografie
Schweizer Fotobücher. 1927 bis heute. Eine andere Geschichte der Fotografie, hg. von Peter Pfrunder unter Mitarbeit von Martin Gasser und Sabine Münzenmaier. Katalog (dt. mit engl. und franz. Anhang) zur Ausstellung in der Fotostiftung Schweiz, Winterthur, 22. Oktober 2011 bis 19. Februar 2012, Baden: Lars Müller Publishers, 2011, 28 x 22 cm, 576 S., 861 Abb. in S/W und Farbe, gebunden mit Schutzumschlag, 75 Euro
Eyes on Paris. Paris im Fotobuch 1890–2010, hg. von Hans-Michael Koetzle, Katalog zur Ausstellung im Haus der Photographie/Deichtorhallen, Hamburg, 16. September 2011 bis 8. Januar 2012, München: Hirmer Verlag, 2011, 422 S., 30 x 24 cm, 844 Abb. in Farbe und S/W, gebunden mit Schutzumschlag, 49,90 Euro
Thomas Wiegand: Deutschland im Fotobuch. 287 Fotobücher zum Thema Deutschland aus der Zeit von 1915 bis 2009, hg. von Manfred Heiting, Göttingen: Steidl, 2011, 28 x 32 cm, 491 S., zahlreiche Abb. in S/W und Farbe, gebunden, 75 Euro
Werner Schäfke, Roman Heuberger: Köln und seine Fotobücher. Fotografie in Köln, aus Köln, für Köln im Fotobuch von 1853 bis 2010, Köln, mit Beiträgen von Wolfgang Vollmer und Eusebius Wirdeier: Emons, 2010, 29 x 25 cm, 287 S., zahlreiche Abb. in Farbe und S/W, gebunden, 78 Euro
Erschienen in: Fotogeschichte 122, 2011
Bis vor etlichen Jahren galt das Fotobuch im Vergleich zum fetischisierten Vintage Print als ein zweitrangig eingestuftes Produkt der Fotografie. Inzwischen hat sich das geändert und zwar gründlich. Um nur ein paar Meilensteine zu nennen[1]: 2001 war in Zusammenarbeit von Andrew Roth und dem Antiquar Roth Horowitz The Book of 101 Books erschienen, eine Art Hitlist der angeblich wichtigsten (v.a. amerikanischen) Fotobücher. Ein Jahr zuvor war in Spanien der Band Fotografia publica. Photography in Print 1919–1939 erschienen. Und 2004 brachte Andrew Roth gemeinsam mit dem schwedischen Hasselblad Center den Katalog The open book. A History of the Photographic Book from 1878 to the Present heraus. Am wichtigsten für die Rehabilitierung des Fotobuchs war das 2004 und 2006 erschienene zweibändige Werk von Martin Parr und Gerry Badger The Photobook: A History, das einen regelrechten Boom in der Beschäftigung mit historischen Fotobüchern auslöste und das es bis heute auf eine Auflage von 25.000 Exemplaren brachte.
Im Sommer 2010 schrieb ich im Editorial eines Fotogeschichte-Heftes, das sich dem Thema „Fotobücher im 20. Jahrhundert „widmete: „Die rasante Aufwertung des Fotobuchs ist in zunächst ohne großen Widerhall im musealen Ausstellungsbetrieb geblieben. In Museen werden Fotobücher nach wie vor kaum gezeigt, vielmehr wird (historische) Fotografie weiterhin wie eh und je ausgestellt: als Originalabzug, gerahmt, an der weißen Wand. Das Fotobuch versperrt sich dieser gemäldeähnlichen Präsentation. Es bringt Fotografie in anderer Weise zur Anschauung: in reproduzierter, gedruckter Form, gebunden im Buchformat, oft durchsetzt mit Texten. Wer diese Bilder sehen will, muss das Buch zur Hand nehmen, er muss blättern. Aber vielleicht steht dem Fotobuch der Einzug ins Kunstmuseum unmittelbar bevor.“[2]
Ein gutes Jahr später hat sich diese Prognose erfüllt. Das Fotobuch hat die (Foto-)Museen erobert. Die Wiederentdeckung und Aufwertung der gedruckten Fotografie schlägt sich aber nicht nur in musealen Präsentationen nieder, sondern auch in neuen Katalogen, Nachschlagwerken und Lexika. Es ist also Zeit, ein wenig innezuhalten, und Bilanz zu ziehen. Was hat sich seit dem beginnenden Fotobuch-Boom vor zehn Jahren getan? Welche Ergebnisse hat die Forschung im deutschen Sprachraum vorgelegt, welche neuen Publikationen zum Thema sind auf den Markt gekommen und welchen Blickwinkel nehmen Autoren und Kuratoren ein?
Es fällt auf, dass die bisher vorherrschende enzyklopädische Annäherung, die Highlights und wichtige Bücher in eine Art Rangliste brachte, nicht mehr der dominierende Zugang ist. Weiters ist bemerkenswert, dass inzwischen vermehrt regionale und nationale Eingrenzungen des Untersuchungsfeldes vorgenommen wurden. So wurden jüngst etwa Schweizer und deutsche Fotobücher untersucht, aber auch Stadtgeschichte und Fotobuchgeschichte parallel geführt. 2010 etwa erschien ein Band über Kölner Fotobücher, 2011 ein Buch von Hans-Michael Koetzle über Paris im Fotobuch. Schließlich lässt sich konstatieren, dass einige neuere Untersuchungen umfassende Medienanalysen ausgewählter Fotobücher bieten, die neben Text-Bild-Bezügen auch gesellschaftliche und kulturhistorische Faktoren miteinbeziehen. Auf diese Weise haben die Fotobücher allmählich einen geschichtlichen Ort bekommen. Zu ihrer Beschreibung gehören nun nicht nur Angaben über Fotograf, Verlag, Herstellung, Auflage und Gestaltung, sondern auch Hinweise zu kulturhistorischen Positionierung und zur Rezeption der Bücher. Kurz: die Fotobuchforschung hat, was Anspruch und Methodik betrifft, deutlich an Qualität zugelegt.
Mit dieser Entwicklung verbunden ist die Tatsache, dass die Fotobuchsammler, die eine Zeit lang als „Amateure“ das Feld beherrscht haben, Konkurrenz bekommen haben. Nun sind immer öfter Spezialisten am Werk, professionelle Fotohistoriker, Buchwissenschaftler, Kuratoren. Einige wichtige der jüngsten Buchprojekte gehen mit großen Ausstellungen einher. Der Anspruch dieser Präsentationen geht weit darüber hinaus, Ordnung im Dschungel des unübersichtlichen Fotobuchmarktes zu schaffen. Statt dessen stellen die Kuratoren umfassendere fotohistorische und kulturgeschichtliche Fragen an das Medium Fotobuch.
Das heißt freilich nicht, das enzyklopädische Editionsvorhaben nun ausgedient haben. Der Überblicksband Deutschland im Fotobuch von Thomas Wiegand, der 2011 bei Steidl erschien, folgt weitgehend dem klassischen Modell der Enzyklopädie. Die Einordnungen und Beschreibungen sind knapp und beschreibend, pro Fotobuch ist eine oder zwei Seiten reserviert, einige wenige Bildbeispiele geben Einblick in Machart und Ästhetik der Bücher. Allerdings ist, anders als in vielen anderen Zusammenstellungen, an die Stelle der chronologischen eine thematische Ordnung getreten. Auch der 2010 erschienene Band über Kölner Fotobücher ist streng enzyklopädisch und chronologisch aufgebaut. In die Auswahl aufgenommen wurden nicht nur ästhetisch ansprechende Bücher, sondern (fast) alle 600 nennenswerten fotografisch illustrierten Publikationen, die in 150 Jahren in Buch- oder Broschürenform über die Stadt erschienen sind. Die einzelnen Bände werden nur kurz vorgestellt. Oft werden nur die Umschläge abgebildet, hie und da auch Beispielseiten aus dem Innenteil. Um die Masse an Informationen etwas zu bändigen, heben fünf Exkurse einzelnen Aspekte des Themas heraus und informieren umfassend über einzelne herausragende Fotobuchprojekte, etwa ein (unveröffentlichtes) Mappenwerk August Sanders Köln wie es war.
Weit anspruchsvoller sind zwei andere Publikationen, die ebenfalls 2011 erschienen sind. Das bisher avancierteste Fotobuch-Projekt entstand 2011 in der Fotostiftung Schweiz. Die Ausstellung und der Katalog Schweizer Fotobücher von 1927 bis heute. Eine andere Geschichte der Fotografie, die unter der Leitung von Peter Pfrunder erarbeitet wurden, ist ein anspruchsvolles und, so kann man getrost sagen, überaus gelungenes Unternehmen. Das Katalogbuch, das im Lars Müller Verlag erschienen ist, besticht zudem durch die hervorragende grafische Gestaltung. Es unternimmt den Versuch, durch die Brille ausgewählter Fotobücher (insgesamt 70) einen neuen Blick auf die jüngere Schweizer Fotogeschichte (von 1927 bis heute) zu werfen. Nach den beiden bisher von der Fotostiftung Schweiz unternommenen umfassenden Standortbestimmungen zur Schweizer Fotogeschichte aus den Jahren 1974 und 1992 will der vorliegende Katalog wiederum auf neue Weise eidgenössische Fotogeschichte schreiben – aus einem ganz anderen Blickwinkel als dies bisher geschah.
In seiner Einführung stellt Peter Pfrunder ausführlich das Anliegen und den Stellenwert des Vorhabens vor und skizziert Periodisierung, Auswahlprozess und methodische Herangehensweise. Er legt aber auch die Grenzen eines fotohistorischen Projekts offen, das ausschließlich gedruckte Bilder heranzieht und auf diese Weise Fotografen und deren Arbeiten „übersieht“, die nicht in Gestalt des Fotobuchs an die Öffentlichkeit getreten sind. Um diese Lücken zu schließen und die Fotobücher im historischen und gesellschaftlichen Kontext ihrer Zeit verorten zu können, leiten fünf Überblickstexte die jeweiligen Kapitel mit den Einzelporträts ein.
Aus einem Fundus von mehreren hundert (deutschsprachigen, englischen, französischen und italienischen) Fotobüchern wurden 70 ausgewählt und durch Experten (Beat Grossrieder, Peter Pfrunder, Roland Jaeger, Arthur Rüegg, Ulrike Meyer Stump, Martin Gasser, Thilo Koenig, Markus Schürpf, Sabine Münzenmaier, Olivier Lugon, Natalie Herschhofer, Matthias Christen, Sylvie Henguely, Antonio Marotti, Sarah Greenough und Jean-Christophe Blaser) einer eingehenden Analyse unterzogen. Eine ausgewählte Bildstrecke gibt jeweils Einblick in Machart, Themen und Gestaltung der Bände.
Die Texte sind durchwegs fundiert und geben sich nicht mit einer äußeren Beschreibung der Fotobücher zufrieden, sondern gehen in die Tiefe. Hinweise zu Produktion und Verlagsgeschichte (etwa zu den bis in die 1960er Jahre hervorragenden Druckereien Fretz, Conzett & Huber, Orell Füssli u.a.) finden wir ebenso wie ausgewählte Bildanalysen und Informationen zur Rezeptionsgeschichte der Bände. Insgesamt erweitert die Publikation den Blick auf die Schweizer Fotogeschichte enorm. Neben bekannten Figuren tauchen auch viele wenig bekannte und unbekannte Protagonisten auf. Ihr Beitrag wird nicht auf die üblichen Kriterien reduziert, etwa auf ihre Biografie oder auf ihr an Einzelfotos festgemachtes „Werk“. Statt dessen werden bewusst Medienensembles untersucht, die Fotogeschichte als kollektiven, medial verankerten, durchaus dissonanten Veröffentlichungsprozess begreifen. Gedruckte Fotografie, das zeigen diese Essays, ist ein höchst vielschichtiges Unternehmen der Sichtbarmachung, Gestaltung und Verbreitung. Seine mediale Seite, verkörpert im Fotobuch, ist beileibe nicht nur äußere Hülle, also Verpackung oder Transportmittel, sondern unablösbarer Teil des Fotografischen.
Eine mustergültige Bibliografie der vorgestellten Werke, zusammengestellt von Hans Rudolf Gabathuler und ein Index (aber leider keine Kurzbiografien der vorgestellten Fotografen und kein Literaturverzeichnis) ergänzen den Band, der nicht nur ein Standardwerk zur Schweizer Fotografiegeschichte ist, sondern auch als Nachschlagewerk auf Jahre hin unverzichtbar sein wird.
Während die Untersuchungen der Schweizer Fotobücher ein dezidiert kollektives Unternehmen darstellt, dem die Vielstimmigkeit der Expertise und die Erfahrungen zahlreicher Spezialisten überaus gut getan hat, ist der Überblick über die Pariser Fotobücher von 1890 bis heute weitgehend das Werk eines einzigen Autors: des Münchener Fotopublizisten Hans-Michael Koetzle. Der Band erschien anlässlich einer Ausstellung im Haus der Photographie/Deichtorhallen, Hamburg. Während das Schweizer Projekt mit dem Einzug der Tiefdrucktechnik Ende der 1920er Jahre einsetzt, beginnt Koetzle ebenfalls mit einer neuen Ära im Druck: der Autotypie, die ab den 1890er Jahren im Zeitungs- aber auch im Buchdruck eingeführt wurde und hohe Auflagen ermöglichte. Auch Koetzle entfernt sich dezidiert von der simplen Hitparade, die in ein Best of-Ranking mündet. Statt dessen hat er den Anspruch, Fotobuchgeschichte, Fotogeschichte sowie Kultur- und Stadtgeschichte auf produktive Weise zusammenzubringen. Auch sein Band verortet die einzelnen Bücher bewusst in einer breiter angelegten Medien- und Kulturgeschichte.
Nach drei einleitenden, durchwegs sehr guten, Texten von Koetzle, Hans Christian Adam und Thomas Wiegand, die den gesellschaftlichen und fotohistorischen Hintergrund der Einzelanalysen skizzieren, folgen, chronologisch geordnet, 130 Kurzanalysen von Paris-Fotobänden. Die Beschreibungen sind kürzer und beschreibender als bei Schweizer Projekt, gemeinsam ist den beiden Bänden, dass die vorgestellten Bücher in einer beispielhaften Bildstrecke vorgestellt werden. Ein Literaturverzeichnis und ein Personenindex (hilfreich wäre auch ein Sachindex gewesen) beschließen den Band, Biografien der Fotografen finden sich leider keine im Anhang.
Sind mit diesen beiden Studien nun die Möglichkeiten der Fotoforschung im einschlägigen Bereich ausgereizt? Keineswegs. Peter Pfrunder bilanziert am Ende seiner Einleitung: „Was die Erforschung dieses weitläufigen und komplexen Themas angeht, stehen wir am Anfang – das wurde uns bei den Recherchen zu dieser Publikation so richtig bewusst.“ Wir dürfen also auf die kommenden Studien gespannt sein. In Vorbereitung ist ein Überblicksband von Roland Jaeger über die Hamburger Fotobücher[3] und eine großangelegte, zweibändige Studie von Manfred Heiting und Roland Jaeger zu deutschsprachigen Fotobüchern der Zwischenkriegszeit.[4]
[1] Einen guten aktuellen Überblick über die inzwischen sehr breite Literatur zum Thema Fotobücher bieten beispielsweise Hans-Michael Koetzle: Eyes of Paris. Paris im Fotobuch 1890 bis heute, München 2011, S. 11 f. und Peter Pfrunder: Nochmals lesen lernen, in: Schweizer Fotobücher 1927 bis heute. Eine andere Geschichte der Fotografie, Baden 2011, S. 12 f.
[2] Anton Holzer: Editorial zum Themenheft der Zeitschrift Fotogeschichte „Fotobücher im 20. Jahrhundert“, Heft 117, 2010, S. 4.
[3] Roland Jaeger: Vision Hamburg. Das Bild der Hansestadt und ihres Hafens im Fotobuch 1880−1980 (in Vorbereitung).
[4] Manfred Heiting, Roland Jaeger (Hg.): Autopsie. Deutschsprachige Fotobücher 1918 bis 1945 (in Vorbereitung). Band 1 ist für 2012 angekündigt, Band 2 für 2013.
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