Anton Holzer
Capa, Taro, Chim: Fororeporter im Spanischen Bürgerkrieg
The Mexican Suitcase, hg. von Cynthia Young, 2 Bde. im Schuber: Bd. 1: The History. The Rediscovered Spanisch Civil War Negatives of Capa, Chim, and Taro, Bd. 2: The Films: The Rediscovered Spanish Civil War Negatives of Capa, Chim, and Taro, Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im International Center of Photography, New York, 24. September 2010 bis 9. Januar 2011, New York: International Center of Photography, Göttingen: Steidl, 2010, 30,9 x 25,4 cm, Bd. 1: 160 S., Bd. 2: 431 S., kartoniert, 85 Euro.
Erschienen in: Fotogeschichte 121, 2011
Ein Jahrhundertfund, eine Sensation, ein heiliger Gral. Mit diesen und ähnlichen Ausrufen der Begeisterung ging am 28. Januar 2008 die Nachricht über die Wiederentdeckung eines Fotokoffers von Robert Capa um die Welt. Der geheimnisvolle Koffer war in den Wirren des Spanischen Bürgerkriegs verschwunden und Jahrzehnte nach dem Tod des Fotografen in Mexiko wieder aufgetaucht. Er enthielt bisher verloren geglaubte Negative aus dem Spanischen Bürgerkrieg. Die Neugier kannte kein Ende. Ließ sich, so mutmaßte man, mit Hilfe dieses Fundes gar das Rätsel des berühmtesten Capa-Fotos, jenes des „fallenden Soldaten“, aufgenommen am 5. September 1936 in Cerro Muriano, lösen?
Knapp drei Jahre später legt nun das International Center of Photography (New York), das in den letzten Jahren bereits wichtige Publikationen zu Robert Capa und Gerda Taro herausgebracht hat[1], eine umfangreiche Dokumentation über den Inhalt dieses Koffers vor. Nach Durchsicht der Negative zeigte sich: das Bild des „fallenden Soldaten“ ist nicht dabei. Und auch andere bekannte Fotos Capas fehlen. Man hätte es bei diesem – für viele enttäuschenden – Ergebnis bewenden lassen können und aus dem Material eine gefällige Best of-Collection zusammenstellen können, mit vielen unbekannten Fotos von Capa an der Spitze. Cynthia Young, die Herausgeberin des umfangreichen Werkes, hat sich für eine andere, weitaus anspruchsvollere, aber auch herausforderndere Vorgehensweise entschieden: Zusammen mit einem Team von Spezialisten hat sie die Negativrollen monatelang intensiv erforscht, geordnet und konservatorisch gesichert. Die Ausstellung und der begleitende Band stellen diese Recherchen vor. Ergänzt wird die Analyse der Negative durch zahlreiche Aufsätze internationaler Experten, die eine Reihe von Themen im Umfeld des Bildmaterial verfolgen und vertiefen. Der Band zeigt mustergültig vor, welche Ergebnisse sich erzielen lassen, wenn man historische Fotografie sorgfältig kontextualisiert und als Quellenmaterial für historische Zusammenhänge lesbar macht. Der mexikanische Koffer, auch das zeigen diese Analysen, ist auch ohne das lange gesuchte Capa-Foto ein wichtiger Fundus für die Fotogeschichtsschreibung: er ermöglicht es, die Arbeitsweise dreier Kriegsfotografen (Robert Capa, Gerda Taro und Chim=Dawid Szymin, später bekannt geworden als David Seymour) aus unmittelbarer Nähe zu beobachten. Er wirft ein neues Licht auf die Zusammenarbeit zwischen diesen drei Fotoreportern und zeigt erstmals anschaulich, wie die Fotoberichterstattung im Spanischen Bürgerkrieg in der Praxis funktionierte. Zugleich bereichert die Recherche auch das Wissen um einige Schlüsselereignisse des Krieges.
Dass diese aufwendige Forschungsarbeit überhaupt zustande kam, hat gewiss mit dem Status Capas als herausragender Figur der Kriegsfotografie zu tun. Kein anderer Fotograf des Krieges ist derart bekannt, kein anderes Werk ist derart detailliert erforscht worden. Die vorliegende Dokumentation, die im Windschatten der Capa-Mythologie entstand, hat allerdings zweischneidige Effekte. Sie bestätigt nicht nur seine Heldenmythologie. Die genauere Analyse rückt auch einige angebliche Gewissheiten zurecht: Capa war zwar der erfolgreichste der Bürgerkriegsfotografen, aber die Qualität seiner Bilder unterscheidet sich nicht wesentlich von der seiner Kollegen Taro und Chim. Capa hatte das Glück, mit einem Bild, das in der auflagenstarken illustrierten Presse zur Ikone wurde, bekannt zu werden. Er hat diesen Ruhm in den folgenden Jahren weidlich genützt, während seine Freundin Gerda Taro nach ihrem Tod 1937 in Vergessenheit geraten ist und Chim zumindest als Fotograf des Spanischen Bürgerkrieg ziemlich unbekannt geblieben ist. Aber beide Fotografen waren hervorragende Reporter – Chim war sogar vor Capas Fotokarriere als Fotoreporter anerkannt –, beide brauchen den Vergleich mit Capa nicht zu scheuen.
Aber zurück zum mexikanischen Koffer, der in Wirklichkeit kein Koffer ist. Die Negative wurden nämlich in mehreren Kartonschachteln aufbewahrt, aus denen in der Berichterstattung über den angeblichen Sensationsfund ein mysteriöser „Koffer“ wurde. In den Schachteln befinden sich 127 Negativrollen mit insgesamt 4.500 Einzelbildern aus den Jahren 1934/35 bis 1939. Die meisten stammen von Capa, ca. 800 davon von Gerda Taro und der Rest von Chim. Auch Aufnahmen von Fred Stein, einem deutschen Fotografen, der seit 1933 in Paris lebte, finden sich in der Sammlung, darunter eine bemerkenswerte, bis auf ein paar wenige Bilder bislang unbekannte Serie von Fotos, die Taro, Capa und ihre Freunde in Paris zwischen Ende 1934 und Anfang 1936 zeigen. Auf diesen Fotos posiert Taro in gelöster Stimmung allein, mit Freundinnen und mit Robert Capa. Nichts deutet in diesen Aufnahmen auf den baldigen Einsatz der beiden als Kriegsfotografen hin. Der überwiegende Teil der Bilder im „Koffer“ wurde im Spanischen Bürgerkrieg aufgenommen, aber es finden sich auch Fotos aus Paris und Belgien in der Sammlung, ebenso Aufnahmen der republikanischen Flüchtlingslager in Frankreich, in denen die beisiegten und geflüchteten Spanienkämpfer Aufnahme fanden. Insgesamt erweitern die Bilder das bisher bekannte Spektrum von Bildern der drei Fotografen enorm. Während Capas Spanienaufenthalte bereits jetzt einigermaßen gut dokumentiert sind, erhalten nach diesen neuen Funden auch seine Begleiter Gerda Taro und Chim deutlichere Konturen.
Die Überlieferungsgeschichte des Konvoluts ist überaus komplex und gibt bis heute einige Rätsel auf. Mit ziemlicher Sicherheit stammen die Bilder im „Koffer“ aus dem Fotoatelier, das Capa seit Mitte der 1930er Jahre in Paris unterhielt und das (v.a. während seiner zahlreichen Reisen) von seinem ungarischen Freund Emeric Weiss geführt wurde. Allerdings umfasst das Konvolut nicht alle Bilder aus dem Atelier, einen weiteren Teil konnte Cornell Capa, der Bruder Robert Capas, nach dessen frühem Tod im Jahr 1954 bergen. Wer genau für die Zusammenstellung und Beschriftung – die von mehreren Personen stammt – verantwortlich ist, lässt sich nicht mehr genau klären. Vermutlich war Weiss, der nachweislich versucht hatte, Capa-Bilder in Sicherheit zu bringen, daran beteiligt. Die Schachteln wurden wohl zwischen Mai und Oktober 1939 zusammengestellt. Im Mai hatte Capa noch in Brüssel fotografiert – es sind die zeitlich letzten Bilder in der Sammlung. Im selben Monat reiste Chim zusammen mit anderen Spanienflüchtlingen nach Mexiko. Im Oktober 1939 ging Capa nach New York. Zwischen 1941 und 1942 gelangten die Schachteln unter nicht geklärten Umständen in den Besitz von General Francisco J. Aguilar González, der damals mexikanischer Botschafter in Vichy-Frankreich war. In seinem Gepäck erreichten sie Mexiko. Der General starb 1972, seine Frau 1990. Danach übergab die Tochter der beiden die Negative an Benjamin Tarver, ihren Cousin.
Erste Nachrichten über die Existenz des „Koffers“ wurden 1995 in Mexiko City am Rande einer Ausstellung über den Spanischen Bürgerkrieg bekannt. Benjamin Tarver wandte sich an den Kurator Jerald R. Green mit dem Hinweis, er besitze Fotos von Robert Capa. Da der Besitzer aber sehr zurückgezogen lebte und seinen Schatz sorgfältig hütete, war es jahrelang nicht möglich, die Bilder zu sehen und genauer zu untersuchen. Erst als Anfang 2007 die aus England stammende und in Mexiko lebende Filmemacherin Trisha Ziff im Auftrag des International Center of Photography (ICP) die Recherche und den Kontakt vor Ort übernahm, kam Schwung in die Angelegenheit. Die Verhandlungen mit dem ICP führten Ende 2007 zum Ankauf der Sammlung. Am 19. Dezember 2007 übergab Benjamin Tarver den „Koffer“ den neuen Besitzern.
Die Untersuchung der Negative förderte viel Überraschendes und Wichtiges zutage. Nun, da die fotografische Arbeit der drei Reporter in zusammenhängenden Filmstreifen überliefert ist, lässt sich die Praxis des Fotografierens im Krieg viel anschaulicher rekonstruieren als das entlang von Einzelbildern möglich ist. Es wird deutlich, wie sehr die Fotografen ein Ereignis in zusammenhängenden Bildserien alblichten und wie wenig sie in Einzelbildern dachten. Capa, Taro und Chim, die bevorzugt für Reportagen fotografierten, wussten, dass in Bildern Erzählungen liefern mussten. Immer wieder lösten sie ein Ereignis in inhaltlich miteinander verbundenen Detailansichten auf. Zu diesem Zweck wechselten sie häufig die Perspektive (konkret: sie waren viel auf den Beinen) und pendelten ständig zwischen Nähe und Überblick. Diese aufwendige Arbeit am Bild, die vor Ort begann, setzt sich in der grafischen Gestaltung der gedruckten Reportagen fort. Je nach Kontext konnte ein und dasselbe Bild in ganz unterschiedliche Bilderzählungen integriert werden, teilweise auch mit stark voneinander abweichenden Beschriftungen. Es ist eine Stärke des Bandes, dass es besonderes Augenmerk auf den Dialog der unterschiedlichen Quellengattungen legt: den neu aufgetauchten Negativstreifen, den (teilweise erhaltenen) Notizbüchern mit Kontaktabzügen und den veröffentlichten Reportagen in der Presse. In der Engführung dieser drei Medien ergeben sich spannende Aufschlüsse über die fotografische Praxis im Krieg.
Während im ersten Band des Werkes die Überlieferungsgeschichte des „Koffers“, sein Inhalt und seine fotohistorische Einordnung im Mittelpunkt stehen, breitet der zweite Band auf einer Zeitleiste (die mit Hinweisen zu den Orten der Aufnahmen ergänzt ist) alle vorhandenen Negative aus und ergänzt sie in kurzen oder längeren Exkursen und Dossiers um relevante Informationen. Auf diese Weise entsteht ein beeindruckendes Panorama dreier Fotografen, die monatelang in Spanien unterwegs waren und teils allein, teils zusammen gearbeitet haben. Wenn man den Fundus an Bildern überblickt, wird deutlich, wie sehr die Dokumentation des Alltags der Soldaten, aber auch der Bevölkerung im Kriegsgebiet und im Hinterland im Zentrum der Aufmerksamkeit steht und nicht die Kämpfe selbst. Die Fotoikone des „fallenden Soldaten“ machte lange Zeit glauben, dass Capa stets die Nähe zur Frontlinie gesucht hat, dass er besonders gerne den entscheidenden Augenblick des Kampfes abgelichtet hat. Das stimmt nicht: In seiner fotografischen Arbeit im Bürgerkrieg überwiegen bei weitem Alltagsszenen, oft aufgenommen weit ab von jeglichen Kämpfen. Dasselbe gilt für Taro und Chim, die zwischen ihren Einsätzen im Frontgebiet immer wieder das Alltagsleben festhielten.
Besonders aufwendig war, so berichtet Cynthia Young in ihrem sehr lesenswerten Aufsatz, die Zuordnung einzelner Filme zu den Fotografen. Es stellte sich heraus, dass die Beschriftungen im „Koffer“ teilweise nicht korrekt waren. Immer wieder stieß die Forscherin auf neue Information, die nahelegten, dass bisher gültige Zuordnungen neu zu überdenken sind. Eine Reihe von Fotos, die bisher Capa zugeschrieben wurden, wurden nachweislich von Chim, andere von Taro aufgenommen. Die Negative ergaben auch neue, interessante Informationen über die Zusammenarbeit zwischen Capa und Taro und über jene zwischen Capa und Chim, über die bisher kaum etwas bekannt war.
Insgesamt verdient das vorliegende Buch höchstes Lob. Es bietet einen fundierten Überblick über die aktuelle Fotoforschung zum Spanischen Bürgerkrieg. Es bietet viel Neues zu den spanischen Fotoreportagen der drei präsentierten Fotografen. Aber es erweitert auch den fotohistorischen Blick in ganz neue Richtungen, etwa im Aufsatz von David Balsells (The war of images), der eine Reihe im englisch- und deutschsprachigen Raum weniger bekannter Bürgerkriegsfotografen vorstellt (z. B. Augustí Centelles i Osso, Josep Maria Sagarra i Plana, Andreu Puig i Farrán oder Brangulí, um nur einige wenige zu nennen). Lesenswert sind auch die Beiträge von Simon Dell über die Rolle der (illustrierten) Presse in der Darstellung des Bürgerkriegs, von Kristen Lubben über die Zusammenarbeit von Capa und Taro und schließlich von Irme Schaber, die ihrer vor Jahren vorgelegten, ausgezeichneten Biografie über Gerda Taro nun neue Details hinzufügen kann.[2] Wertvoll für die weitere Forschung ist auch die Aufstellung aller bisher bekannten Zeitschriften und Zeitungen, in denen Capa, Taro und Chim veröffentlichten. Allein diese beeindruckend lange Liste zeigt, wie international die Vernetzung dieser jungen Generation von Fotoreportern während des Krieges war. Diese Internationalität, die das Kennzeichen der Spanienbegeisterung war, schlägt sich auch im länderübergreifenden Vertrieb von Fotografien nieder.
The Mexican Suitcase, das lässt sich jetzt schon prophezeien, wird in den nächsten Jahren zum Referenzwerk der Bürgerkriegsfotografie von Capa, Taro und Chim werden. Schade ist nur, dass das Papier, auf dem das Buch gedruckt ist, sehr rau ist. Die zahlreichen kleinen und kleinteiligen Abbildungen der Negative verlieren auf diese Weise an Qualität.
[1] Richard Whelan: This is War! Robert Capa at Work, New York: International Center of Photography, Göttingen: Steidl, 2007; Irme Schaber, Richard Whelan, Kristen Lubben (Hg.): Gerda Taro. From the Collection of the International Center of Photography, New York: International Center of Photography, Göttingen: Steidl, 2007, siehe dazu die Rezension in: Fotogeschichte, Heft 109, 2008.
[2] Irme Schaber: Gerta Taro. Fotoreporterin im Spanischen Bürgerkrieg, Marburg, Jonas Verlag, 1994.
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