Anton Holzer
Kertész: Der wiederentdeckte Fotograf
Michel Frizot, Annie-Laure Wanaverbecq: André Kertész, Ostfildern: Hatje Cantz, 2010, Katalog zur Ausstellung im Jeu de Paume, 28. September 2010 bis 6. Februar 2011, im Fotomuseum Winterthur, 26. Februar bis 15. Mai 2011, im Martin Gropius-Bau, Berlin, 11. Juni bis 11. September 2011, Magyar Nemzeti Galería, Budapest, 30. September bis 31. Dezember 2011, 26 x 31,9 cm, 360 S., 544 Abb. in Farbe, gebunden mit Schutzumschlag, 49,80 Euro.
Erschienen in: Fotogeschichte 119, 2011
In der Pariser Médiathèque de l’Architecture et du Patrimoine liegt ein wichtiges Konvolut zum Fotografen André Kertész (1894–1984). Am 30. März 1984, wenige Monate vor seinem Tod, hatte dieser sämtliche seiner erhaltenen Negative und die Korrespondenz seines langen Lebens dem französischen Staat vermachte. Vor einigen Jahren begannen die Fotohistoriker Michel Frizot und Annie-Laure Wanaverbecq in mühsamer Kleinarbeit diesen archivarischen Schatz zu heben und zu erforschen. Das Bild des Fotografen, das sie ausgehend von diesen Unterlagen gewannen, wurde um zahlreiche bisher unbekannte Facetten erweitert. Der Fotograf erhielt nun erstmals ein gut recherchiertes biografisches Gesicht. Wir wissen nun mehr über seine bisher getrennt wahrgenommenen Lebens- und Arbeitsphasen in Ungarn, Frankreich und den USA. Und gänzlich neue Aspekte seines Werkes, etwa die umfangreichen Arbeiten für die Presse, die bisher wenig bekannt waren, wurden erstmals erforscht. Die Ergebnisse sind in einem ausgezeichneten Katalog und in einer Ausstellung, die an zahlreichen Orten zu sehen ist, einem breiten Publikum zugänglich gemacht worden.
Andor Kertész, geboren 1894 in Budapest, aufgewachsen in einer jüdischen Familie, hätte ein halbwegs geruhsames bürgerliches Leben führen können, wäre ihm nicht der Erste Weltkrieg, das für Ungarn katastrophale Kriegsende 1918 und die Fotografie in die Quere gekommen. Die ersten Fotos machte er mit 18 Jahren, im Jahr 1912. Mit seiner billigen Boxkamera fotografierte er sein nahes Umfeld, Freunde, Familienangehörige, Orte, die er besuchte. Im Ersten Weltkrieg packte ihn dann die fotografische Leidenschaft. Er knipste viel: den Alltag des Krieges, Zivilisten, Gesichter von Soldaten, Gruppenbilder und immer wieder Bahnhöfe, Eisenbahnen, Waggons – die endlose Logistik des Krieges. Nach dem Krieg wäre er gerne beim Fotografieren geblieben. Von seiner Familie, die im Krieg verarmt war, durfte er sich freilich keine Unterstützung erwarten, sie schlitterte in den 1920er Jahren in den wirtschaftlichen Ruin. Kertész wusste, dass er von der Fotografie allein nicht leben konnte. Und so schlug er sich Anfang der 1920er Jahre mit Büroarbeiten und als Imkergehilfe am Land durch. Nebenbei fotografierte er. Immer wieder schickte er Bilder an die Redaktionen. Einige wenige wurden gedruckt. Es sind einfache, klare Alltagszenen, weit entfernt von der idealisierenden, weichzeichnenden Manier des Piktorialismus, der in diesen Jahren in Mode war. Mitte der 1920er Jahre war für Kertész klar: Wenn er bei der Fotografie bleiben wollte, musste er Budapest verlassen.
Am 8. Oktober 1925 kam Kertész in Paris an. In der französischen Metropole erhoffte er sich ein besseres Leben. Er hatte keinen leichten Einstieg in Paris. Wirtschaftsflüchtlinge wie ihn, die mit Fotografie ihr Geld verdienen wollten, gab es viele. Zunächst musste er sich monatelang mit Gelegenheitsjobs über Wasser halten. Doch dann besserte sich seine Situation. Er erhielt ein paar Porträtaufträge, verkaufte Fotopostkarten und veröffentlichte die ersten Bilder an die illustrierte Presse. Auch in deutschen Zeitungen erschienen einige seiner Aufnahmen. Kertész war ein genauer Beobachter. In vielen seiner Porträts erkundet er das nähere Umfeld der Protagonisten, oft bleibt er an einem unbedeutenden Detail hängen und rückt es ins Zentrum: einen Teppich, ein Regal, einen Wandschmuck. Kertész hielt fest, was er auf den Straßen der Großstadt sah: Marktbesucher, Handwerker, Straßenarbeiter, Wartende, vorbeihuschende Passanten, Nachtschwärmer. Es sind oft träumerische, leicht entrückte Szenen.
Ende der 1920er Jahre war Kertész in der Fotografie kein gänzlich Unbekannter mehr. 1929 wurde er sogar zur Ausstellung „Film und Fotografie“ nach Stuttgart eingeladen. Er sah eine Zukunft in Paris und änderte er seinen Vornamen von Andor in André. 1930 zählte er bereits zu den festen Mitarbeitern der neugegründeten Illustrierten VU, die zwei Jahre zuvor von Lucien Vogel gegründet worden war. In den folgenden Jahren lieferte Kertész insgesamt 36 Reportagen an die Zeitschrift. Auch außerhalb der Presse stellten sich nun die Erfolge ein, 1933 erschein sein erstes Fotobuch, eine Sammlung von Kinderfotos, ein Jahr später folgte ein Paris-Band, 1936 folgte ein weiterer über Tiere. Paris war die Stadt, in der er sich zunehmend zu Hause fühlte.
Wieso ging André Kertész 1936, als er gerade beruflich in der französischen Metropole Fuß gefasst hatte, nach New York? Weil er sich der Neuen Welt noch bessere Aufträge, mehr Erfolg und größere Anerkennung erhoffte. Ein verlockendes Angebot der Agentur Keystone versprach ihm all das. Er sollte Werbung, Mode und Reportagen fotografieren. Als André Kertész zusammen mit seiner Frau Elisabeth am 15. Oktober 1936 in New York an Land ging, kam alles ganz anders. Statt der erhofften Fotoreportagen für große amerikanische Magazine sollte er v.a. Modeaufnahmen im Atelier machen. Diese Arbeit langweilte ihn. Immer wieder versuchte er ein berufliches Fortkommen auf eigene Faust. 1937 veranstaltete er eine erste Ausstellung in New York, die ohne Echo blieb. 1938 gelang es ihm, ein paar Fotos bei Vogue unterzubringen, aber der Anschluss an die amerikanische Fotografie misslang. Als er 1942 der Zeitschrift „Life“ eine Reportage über das französische Trappistenkloster in Soligny anbot, erhielt er eine deutliche Abfuhr: „Leider passen (Ihre Fotos) nie so ganz in unser Programm.“ Kertész blieb in New York ein Außenseiter, beruflich konnte er jahrelang nicht Fuß fassen. Die schnelle amerikanische Art der Fotoreportage blieb ihm fremd. In Paris um 1930 hatte er noch vorwiegend mit Stativ gearbeitet hatte, er war kein wendiger Schnappschussfotograf, sondern ein bedächtiger Beobachter, der sorgfältig inszenierte und erst dann abdrückte. Erst spät tauschte er seine schwere Glasplattenkamera gegen die mobile Rolleiflex – und später die Leica.
1945, kurz nach Kriegsende, kehrte er in seinem Buch Day of Paris in der Erinnerung sehnsüchtig zurück in bessere Tage seiner Vergangenheit. Sein Buch, gestaltet vom Emigranten Alexei Brodowich, der als Art Director bei Harper’s Bazaar Karriere gemacht hatte, versammelte Aufnahmen aus den Jahren 1925 bis 1936. 1946 fand Kertész endlich eine feste Anstellung. Vermittelt über Alexander Liberman, den er als ehemaligen Gestalter bei VU kenngelernt hatte und der nun bei der Zeitschrift House and Garden arbeitete, erhielt er einen Job als Zeitschriftenfotograf.
Vielleicht wäre er in dieser Funktion als fotografischer Zuarbeiter für ein mittelmäßiges Magazin in Pension gegangen, finanziell abgesichert aber intellektuell unterfordert, wäre ihm nicht eine glückliche Fügung zu Hilfe gekommen. 1961, gerade als Kertész sich anschickte, die Zeitschriftenarbeit aufzugeben und nur mehr für sich zu fotografieren, zeigte das New Yorker Museum of Modern Art plötzlich Interesse an einer großen Einzelausstellung. Die Vorbereitungen zogen sich hin, 1964/65 fand die Schau statt. Kertész war zu diesem Zeitpunkt kein sehr bekannter Fotograf, eher ein Geheimtipp. Den Fachleuten waren seine französischen Erfolge in Erinnerung geblieben, manch einer, unter ihnen der Fotokurator am Museum of Modern Art, John Szarkowski, schätzte auch seine sachlich-nüchtern, oft melancholischen Aufnahmen, die er privat neben seinem Brotjob in den USA machte: entleerte Landschaften, architektonische Details, Straßenszenen, Stilleben.
Die plötzliche Anerkennung verlieh ihm neuen Elan. Kertész interessierte sich nun wieder für seine alten Fotos. 1963 reiste er nach Frankreich und stellte in einem Schloss in der Dordogne sein verloren geglaubtes französisches Fotoarchiv sicher. Der Erfolg kam für Kertész spät. Er war 70, als in New York die große Retrospektive im Museum of Modern Art stattfand. Nun war er als künstlerischer Fotograf anerkannt. Es ist paradox: Just in jenen Jahren als der amerikanische Fotojournalismus in die Krise geriet – die Zeitschrift Look wurde 1971 eingestellt, Life 1972 – wurde Kertész als einer der großen Fotoreporter des 20. Jahrhunderts wiederentdeckt. Cornell Capa, der Bruder des großen Kriegsfotografen Robert Capa, präsentierte ihn 1967 in der New Yorker Ausstellung „The concerned photographer“ als frühen Heroen der Fotoreportage. Aber nicht auf den Zeitungsseiten, für die er stets gearbeitet hatte, wurde Kertész gefeiert, sondern an der weißen Wand des Fotomuseums, im Kunsthandel und in Galerien. Er profitierte von der Verwandlung historischen Bildmaterials in Kunst, von billigen Fotoabzügen in teure „Vintage prints“, die zu dieser Zeit einsetzte.
25 Jahre nach seinem Tod rekonstruieren die beiden Fotohistoriker detailliert und präzise das turbulente Leben und die einzelnen Arbeitsphasen des Fotografen. Es ist wenig auszusetzen an ihrem Werk, das auch ansprechend gestaltet ist. Hoch anzurechnen ist den beiden Autoren, dass sie die Zeitschriftenarbeiten, die bisher als kaum erwähnenswerte Nebenprodukte seiner Arbeit wahrgenommen wurden, ins Zentrum der Analyse rücken und erstmals zahlreiche Fotoreportagen in Faksimile zeigen. Dasselbe gilt für die Buchpublikationen des Fotografen, deren Entstehungsgeschichte in der vorliegenden Publikation erstmals umfassend rekonstruiert wird. Man hätte sich lediglich gewünscht, dass die Autoren die autobiografischen Zeugnisse, vor allem jene aus späteren Jahren, als Kertész bemüht war, sich eine kontinuierliche autobiografische Erzählung zurechtzulegen, etwas kritischer hinterfragt hätten. Insbesondere gilt das für die „Wiederentdeckung“ seines französischen Fotoarchivs im Jahr 1963: Kertész inszeniert dieses Ereignis in Worten und Bildern als wahre Detektivgeschichte und er liefert für seine späte „Neugeburt“ als Fotograf eine aufregende Gründungslegende. Eben eine Legende.
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