Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie

hg. von Dr. Anton Holzer

Anton Holzer

Tschechische Fotografie im Überblick

 

Vladimír Birgus, Jan Mlčoch: Tschechische Fotografie des 20. Jahrhunderts, hg. von der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland in Zusammenarbeit mit dem Museum für Angewandte Kunst in Prag, Bonn, Prag: Kant Publishing, 2009, 359 S., 25,5 x 28 cm, 450 Abb. in Farbe und S/W, Gebunden, 29 Euro (Museumsausgabe: 29 Euro, Bestellung: order(at)buchhandlung-walther-koenig.de).

 

Erschienen in Fotogeschichte 114, 2009

 

 

Bis Ende der 1980er Jahre war die tschechische Fotografie im Westen relativ wenig bekannt. Zwar gab es – vor allem in den 1980er Jahren – ein paar wenige Präsentationen in westdeutschen Museen. Zu erinnern ist etwa an die Ausstellung 1984 im Folkwang Museum in Essen (mit dem Katalog von Antonin Dufek und Ute Eskildsen: Tschechische Fotografie 1918-1948, Museum Folkwang, Essen 1984). Nach der „samtenen Revolution“ 1989 änderte sich die Situation schlagartig. Die tschechische Fotografie, vor allem jene der Avantgarde und der Zwischenkriegszeit, wurde zum privilegierten Kulturexportartikel. Zahlreiche Ausstellungen und Publikationen haben seither die tschechische Fotografieentwicklung in den deutschen und angelsächsischen Ländern präsentiert. Mittlerweile gibt es wohl kein Land des ehemaligen sog. „Ostblocks“, das, 20 Jahre nach dem Fall des „Eisernen Vorhangs“, derart aktiv und erfolgreich in der internationalen Präsentation seiner Fotografiegeschichte ist wie Tschechien. Um nur ein paar Meilensteine der deutschsprachigen Rezeption zu nennen. 1997 gab Susanne Anna den nach wie vor wegweisenden Band Das Bauhaus im Osten. Slowakische und tschechische Avantgarde-Fotografie 1918–1948 heraus. 1999 erschien der Band von Vladimír Birgus (Hg.): Tschechische Avantgarde-Fotografie 1918–1948, Stuttgart 1999, ein Jahr später erschien der Katalog von Margit Zuckriegl (Hg.): Laterna Magica – Einblicke in eine tschechische Fotografie der Zwischenkriegszeit, Salzburg 2000. Im Jahr 2007 schließlich wurde von Howard Greenberg, Annette und Rudolf Kicken (Hg.) das Buch Czech Vision. Avantgarde-Photography in Czechoslovakia (Ostfildern 2007) herausgegeben.

Waren zu Beginn der 1990er Jahre nur einige wenige Namen der tschechischen Fotografie international bekannt, etwa Josef Sudek, František Drtikol, Jaromir Funke, Jaroslav Rössler, Josef Koudelka oder Jan Saudek, so hat sich das Bild inzwischen gründlich gewandelt. Im jüngsten Band, einer begleitenden Publikation zur Ausstellung in der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland (Bonn), dessen Katalog hier vorgestellt wird, werden neben den Klassikern eine Reihe von hervorragenden Fotografen präsentiert, die bisher außerhalb Tschechiens kaum geläufig waren. Um nur ein paar wenige zu nennen: der frühe Pressefotograf Rudolf Bruner-Dvořak, die bekannten Ateliers Schlosser &Wenisch und Jan Langhans, die Neuerer der Fotografie der 20er Jahre, etwa Adolf Schneeberger oder Eugen Wiškovsky. Aber auch innovative Pressefotografen der Zwischenkriegszeit werden präsentiert, etwa Alexander Hackenschmied, Jindřich Štyrsky, Jan Lukas, Evžen Markalous, Karel Hájek, Rudolf Kohn, Sláva Štochl, Oldřich Stratka, Václav Jírů und ZdeněkTmej, Karel Drohlav und Géza Včelička. Ähnliches gilt für die Fotografie nach 1945.

            Die umfangreichste Zusammenschau tschechischer Fotografie im 20. Jahrhundert wurde 2005 in einer monumentalen, an drei Standorten stattfindenden, Ausstellung in Prag gezeigt. Das Ausstellungsprojekt in Bonn geht auf diese Schau zurück. Die Auswahl der Objekte wurde von 1300 Fotos und 200 Bücher und Zeitschriften auf 451 Abzüge reduziert (die zumeist im Original gezeigt wurden). Der überwiegende Teil der Leihgaben kam aus dem Museum für Angewandte Kunst in Prag (das auch Kooperationspartner der Bonner Schau war), kleinere Teile aus anderen öffentlichen Sammlungen, etwa der Mährischen Galerie in Brünn, dem Nationalarchiv Prag und dem Kunstmuseum Olmütz. Auch einige Privatsammlungen (etwa jene der Finanzgruppe PPF, Prag), private Galerien und Fotoagenturen (Z.B. Magnum) steuerten Ausstellungsstücke bei.

Kuratoren der Schau und Textautoren des Katalogs sind Vladimír Birgus und Jan Mlčoch, die sich beide seit Jahren unermüdlich der Erforschung und Präsentation der tschechischen Fotografie widmen. Welchen Zugang haben die beiden Autoren gewählt, was zeichnet das Buch aus, wo liegen seine Schwächen? Die Publikation ist, rein quantitativ gesehen, die bisher umfassendste Darstellung der tschechischen Fotografie im 20. Jahrhundert, die in deutscher Sprache vorliegt. In ihrem Aufbau und ihrem inhaltlichen Zuschnitt ist der Katalog als breit angelegter, chronologisch aufgebauter Überblick angelegt, der die Geschichte der tschechischen Fotografie in kurzen Textkapiteln mit anschließendem Bildteil erzählt. Hervorzuheben ist die Breite der Darstellung. Immerhin werden an die 250 Fotografinnen und Fotografen kurz vorgestellt, von den meisten von ihnen wird auch Bildmaterial (in sehr guter Druckqualität) gezeigt. Allein schon diese Materialfülle rechtfertigt den Begriff „Standardwerk“. Auch wenn die Publikation im Großen und Ganzen bestehende Forschungen rekapituliert und bündelt, gibt es in einigen Bereichen doch auch neue Recherchen und Erkenntnisse, etwa zu den deutschen Fotografen in Tschechien, über die bis vor kurzem – abgesehen von einigen wenigen jüngeren Monografien, etwa zu Franz Fiedler und Grete Popper – kaum umfassendere Forschungen existierten . Ein ausführliches Literaturverzeichnis, eine Übersicht über die vorgestellten Fotografen (mit Lebensdaten, aber leider keinen Kurzbiografien) und eine orientierende Zeitleiste schließen den Band ab. Die Fülle des Materials bedingt eine sehr gedrängte Darstellung, die ein wenig den Charakter eines Nachschlagewerks hat.

            Den unbestrittenen Vorzügen stehen auch ein paar Mängel gegenüber. Stillschweigend und ohne weitere Begründung wird ein überaus weiter (und teilweise widersprüchlicher) Begriff des „Tschechischen“ angelegt. Präsentiert werden nämlich auch Arbeiten ausländischer Fotografen, die – wenn auch nur kurz – in der Tschechoslowakei tätig waren (etwa deutsche Emigranten nach 1933), darüber hinaus Tschechen, die zur Zeit der k.u.k. Monarchie in Böhmen oder Mähren geboren wurden, aber nach 1920 dauerhaft im Ausland lebten (etwa in Paris oder Wien). Umgekehrt aber werden nicht alle „tschechoslowakischen“ Staatsbürger, die zwischen 1920 und 1938 in den Grenzen der damaligen Republik lebten, berücksichtigt. Während sehr wohl Fotografen der deutschen Minderheit vorgestellt werden (diese Erweiterung der Perspektive ist durchaus ein Verdienst), gilt das erstaunlicherweise nicht für slowakische Fotografinnen und Fotografen, die in der Zwischenkriegszeit vor allem in Bratislava, aber auch anderswo eine höchst lebendige Fotoszene entwickelten. Einige wenige werden zwar nebenbei kurz erwähnt (Ladislav Foltyn, Irena Blühová), aber Bildbeispiele von ihnen suchen wir in dem Band vergebens. Ebenso wenig werden Arbeiten ethnischer Minderheiten präsentiert, die zwischen 1920 und 1938 im Vielvölkerstaat Tschechoslowakei lebten: etwa polnische, ukrainische oder ungarische Fotografen. Auch deutsche und österreichische Fotografen, die nach 1939 im sog. nationalsozialistisch beherrschten „Protektorat Böhmen und Mähren“ fotografierten, kommen nicht vor.

Die Autoren suggerieren mithin, dass es – entgegen aller zeithistorischen Verwerfungen – eine Kontinuität der tschechischen Fotografie über alle Brüche hinweg gibt. Nicht zufällig rücken sie daher die Highlights – die Avantgarde, das Neues Sehen und die Neue Sachlichkeit, aber auch den Surrealismus – ins Zentrum. Demgegenüber sind Vertreter, die weniger in dieses Bild passen, etwa der sog. „Heimatfotografie“, die ab Mitte der 1930er Jahre ländliche Idyllen in den Karpaten entdeckten und fotografierten, deutlich unterbelichtet. Auch die Brüche der nationalsozialistischen Herrschaft und der Kriegszeit kommen im Buch nur am Rande vor. Und die propagandistische kommunistische Fotografie nach 1945 wird ein wenig wie ein lang anhaltender „Betriebsunfall“ auf dem Weg zu einer freien Gesellschaft geschildert. Überhaupt fällt auf, dass die Fotoentwicklung in Tschechien ohne allzu viele Querverbindungen zu Politik, Kultur und Gesellschaft rekonstruiert wird. Die beiden Autoren sind große Rechercheure im Detail, aber der Blick über die Grenzen von Biografie und Werk fällt ihnen sichtlich schwer.

            Die vorliegende Publikation ist – trotz einiger Mängel – ein umfassendes und wichtiges Kompendium zur tschechischen Fotografie des 20. Jahrhunderts. Es wäre zu wünschen, wenn es ähnliche Überblicksdarstellungen in deutscher Sprache auch aus anderen Ländern Ostmitteleuropas gäbe. Noch besser aber wären Fotografiegeschichten, die den offenen und oft untergründigen transnationalen Verbindungen ebenso wie den Trennungen nachgehen, die stärker noch als das bisher geschieht, Gesellschafts- und Fotoanalyse verzahnen. Dass dies möglich ist, hat vor kurzem Matthew S. Witkovsky mit seinem hervorragenden Band Foto: Modernity in Central Europe 1918-1945, London 2007, Katalog zur gleichnamigen Ausstellung in der National Gallery of Art, Washington, gezeigt (vgl. die Rezension in Fotogeschichte 108, 2008).

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