Katharina Sykora
Im Doppel. Ein erweiterter Blick auf Claude Cahun
Claude Cahun. Contexte, posture, filiation. Pour une ésthétique de l"entre deux. Sous la direction de Andrea Oberhuber – Paragraphes Vol. XXVII, Département des littératures de langue française. Université de Montréal, Montréal 2007 – ISBN 978-2-921447-20-1 – 22 Dollar – Bestellung: www.librairie.umontreal.ca
Erschienen in: Fotogeschichte 111, 2009
Claude Cahun (1894–1954) ist aus dem Kosmos von "Fotografie und Gender" nicht mehr weg zu denken. François Leperlier hat die Vita Lucy Schwobs, wie Cahun mit bürgerlichem Namen hieß, und zahlreiche Fotos, die sie in unterschiedlichen Posen und Verkleidungen zeigen, seit Beginn der 1990er Jahre sukzessive veröffentlicht. Seit 2003 liegen auch ihre Texte in einer französischen Edition vor. Bekannt geworden ist Cahun, weil sie in zahlreichen Ausstellungen und Katalogen zum Thema Alterität und Geschlecht als "Ahnin" Cindy Shermans ausgerufen wurde. Der Sherman-Effekt färbte jedoch bald ab. Bestimmte Fotos wurden kanonisch und die Queer Art hatte ihre historische Ikone. Kurzum: Der Eindruck entstand, Cahun sei durch und durch bekannt. Einzelausstellungen in Paris (1995) und München (1997) sowie Dissertationen im deutschen und englischsprachigen Raum versuchten zwar, das feste Bild zu revidieren, doch bislang ist dies nicht gelungen.
Auch das von Andrea Oberhuber herausgegebene Buch tritt an, um Claude Cahun aus ihrem Status als Markstein für ein "anderes Geschlecht" zu befreien. Die Autoren und Autorinnen entfalten die Vielseitigkeit des künstlerischen Prozesses, in dem die Fotos, Collagen und Texte entstanden sind. Ziel ist eine Entflechtung der alleinigen Autorschaft Claude Cahuns und ihre Einbettung in die historischen Kontexte der Zwischenkriegszeit, des französischen Symbolismus und der Postmoderne. Der Ikonoklasmus bringt Gewinn. Das zeigt das vorliegende Buch. Er tappt jedoch, wie so oft bei Bilderstürmen, auch in nahe liegende Fallen.
Was an der Publikation besticht, ist die konsequente Weitung des Blicks auf die schriftstellerische und schauspielerische Arbeit Claude Cahuns und ihre Zusammenarbeit mit ihrer Lebensgefährtin Suzanne Malherbe. Poesie und Fotografie treten dadurch als Komplizen ans Licht. Sie machen die Pose, das Kostüm und die Inschriften auf der Kleidung Cahuns als Palimpsest sichtbar, das immer neue Hüllen aus Text und Textilien hervortreibt. Das theatrale Text-Körper-Bild Cahuns wächst uns gleichsam aus den Fotos entgegen, so wie sich eine Kasperlefigur über den Papprahmen des Puppentheaters lehnt und gleichzeitig "Seid Ihr alle da" ruft. Der Witz dieser Aufführungen kommt dadurch wieder zu seinem Recht. Die meisten Beiträge des Bandes berücksichtigen zudem den konkreten fotografischen Akt der Aufnahmen. Und hier gibt es mehr als eine Protagonistin. Suzanne Malherbe, die im männlichen Pseudonym Marcel Moore heißt, stand hinter der Kamera. Moore war bildende Künstlerin und hatte einen entscheidenden Anteil an den Fotografien. Sie schuf auch die Fotocollagen, die in Cahuns Buch Aveux non avenus (Unerklärte Bekenntnisse) erschienen. Diese spiegeln durch ihr Montage- und Wiederholungsprinzip die fragmentarische Schreibweise Cahuns. Für die Aufnahmen selbst brachten beide Künstlerinnen Theatererfahrungen mit. In experimentellen Zirkeln, namentlich auf der Bühne des Pariser Theaters Le Plateau, war Cahun als Schauspielerin aufgetreten und Moore für das Dekor und die Szenenfotos verantwortlich. Vor diesem Hintergrund lassen sich die inszenierten Fotografien als dialogischer Austausch zwischen Claude Cahun und Marcel Moore verstehen. Wie Schauspielerin und Regisseurin richten sich beide aber auch an eine breitere Zuschauerschaft: an die Betrachter und Betrachterinnen der Fotos. Das Bewusstsein über das eigene Schauen wird durch dieses theatrale Setting der Aufnahmen Cahuns/Moores exponiert. Die Fotos sind somit nicht monologischer Ausdruck einer Selbstreflexion Cahuns über die Multiplizierung des Selbst. Sie sind vielmehr dialogisch und multiperspektivisch angelegt. Eine inkohärente, aber dynamische Wahrnehmung der BetrachterInnen trifft so auf ein dichtes Geflecht künstlicher Personae. Ihnen auf den Grund zu gehen, gibt es keinen Grund mehr.
Die Aufsätze der ersten beiden Teile des Buches, die sich der Dynamik zwischen Kunst und Körperpolitik widmen und sich dem Wechselspiel von Fotografie und Text nähern, sind ausgesprochen erhellend, weil sie zur Differenzierung des lieb gewonnen Bildes von Claude Cahun beitragen. Der dritte Teil hingegen fällt konzeptionell dahinter zurück, indem er historische Filiationen "von Künstlerin zu Künstlerin" herzustellen versucht. Hier bekommt Claude Cahun nun ihrerseits "Ahninnen" in den Figuren der Gräfin von Castiglione, die sich während des zweiten Kaiserreichs eine beispiellose Selbstinszenierung im Fotoatelier Meyer Pierson leistete, und der Baronesse von Freytag-Loringhoven, die sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts in New York als Kunstobjekt inszenierte und zur "Muse" des Dada Movement um Marcel Duchamp wurde. Hannah Höch, Unica Zürn und Sophie Calle werden dann exemplarisch als moderne und postmoderne "Erbinnen" von Cahun angeführt. Das genealogische Prinzip der Vorläuferinnen und der "Töchter im Geiste" führt jedoch implizit den Diskurs der herausragenden Autorin wieder ein, die hier mit einer Geschichte von "Ihresgleichen" ausgestattet wird. Die Figur Claude Cahuns wird dadurch erneut hermetisch und die Tür zu einer "geteilten", spielerischen und reflexiven Wahrnehmung wieder geschlossen.
Dennoch ist dem Band eine breite Rezeption zu wünschen. Die spärliche und qualitativ schlechte visuelle Ausstattung und der Vertrieb über die Universität Montréal stehen dem leider im Wege. Um dem Anspruch des komplementären Lesens/Schauens gerecht zu werden, bedürfte es daher einer optisch reicheren und konzeptionell konsequenteren Neuauflage.
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