Anton Holzer
Susan Meiselas" politische Recherchen
Kristen Lubben (Hg.): Susan Meiselas. In History – Göttingen, New York: gemeinsame Veröffentlichung des International Center of Photography und des Steidl Verlags, 2008 – 20 x 26 cm, 356 S., zahlreiche Abb. in Farbe und S/W – gebunden – 50 Euro
Erschienen in: Fotogeschichte 111, 2009
Im vergangenen Juni ist die amerikanische Fotografin Susan Meiselas 60 Jahre alt geworden. Die Ausstellung, die ihr im Winter 2008 das ICP – International Center of Photography in New York ausrichtete, war freilich kein höfliches Geburtstagsgeschenk. Die Ausstellungsmacher traten mit anderem Anspruch an, sie wollten zum ersten Mal einen Überblick über Meiselas fotografisches Lebenswerk geben, angefangen von ihren ersten Porträtaufnahmen im Jahr 1971 in New York bis hin zu ihren jüngsten Fotografien, aufgenommen 2007 im Nordirak.
Susan Meiselas ist als Fotografin nicht ganz leicht zu charakterisieren. Den Großteil ihres beruflichen Lebens hat sie als Pressefotografin gearbeitet, 1976 – sie war damals Ende 20 – wurde sie Mitglied der legendären Fotoagentur Magnum, 1978 reiste sie erstmals nach Nicaragua, in ein Land, in das sie immer wieder zurückkehrte, dessen Sprache sie lernte und dessen jüngere blutige Geschichte des Bürgerkriegs sie über Monate und Jahre hinweg als Fotografin dokumentierte. Meiselas arbeitete und fotografierte in vielen Ländern, in den USA, im mittleren und südlichen Amerika (außer in Nicaragua u.a. in El Salvador, Argentinien, Kolumbien und Mexiko), im Mittleren Osten (vor allem im Nordirak) und in Südostasien. Sie ist aber keine klassische Pressefotografin, die allein im Auftrag einer Zeitung, eines Magazins unterwegs ist und Bilder und Reportagen zu vereinbarten Themen mitbringt. Von Anfang an hat sie ihre fotografischen Reisen mit umfassenderen Recherchen verbunden, die oft weit über das hinausgingen, was sie in Einzelbildern mitteilen konnte. Susan Meiselas ist – und das macht ihre Arbeit spannend – immer wieder "hängen geblieben". Sie hat sich von den Menschen, die sie fotografierte, von den Orten, an denen sie unterwegs war, den Geschichten, die sie erzählte, nicht sofort wieder gelöst, sondern hat – weit über den ursprünglichen Fotoauftrag hinaus – weitere Recherchen begonnen. Sie ist eingetaucht in die Umgebung, aus der sie berichtete, sie blieb nicht die distanzierte Beobachterin, sondern sie wurde immer wieder zur leidenschaftlichen Botschafterin für eine Sache, ein Land, ein Volk: Nicaragua in den 1980er Jahren etwa oder Kurdistan seit den 1990er Jahren.
Und dennoch: Susan Meiselas, das zeigen ihre Arbeiten im Längsschnitt von vier Jahrzehnten, ist nicht einfach eine engagierte Fotoreporterin. Sie berichtet über Gewalt und Krieg, aber sie will in ihren Bildern nicht nur Recht und Unrecht (und damit Moral und Unmoral) deutlich trennen. Ihre fotografischen Projekte sind weit komplexer und hintergründiger. Eigentlich handelt es sich weniger um Reportagen als vielmehr um aufwändige Rechercheprojekte. Susan Meiselas ist eine politisch engagierte Foto-Forscherin, eine visuelle Ethnologin, die viel Zeit mitbringt, eine politisch engagierte Historikerin, die nicht nur mit der Kamera arbeitet. Sie führte Gespräche mit den Porträtierten und anderen Menschen vor Ort, trug schriftliche Dokumente zusammen, sammelte jahrelang historische Fotografien (etwa in ihrem Kurdistan-Projekt), filmte, schrieb Texte, gab Fotobände heraus, stellte aus, hielt Vorträge usw.
In History heißt daher auch – ganz folgerichtig – der Band, der unterschiedliche Arbeiten von Susan Meiselas im Überblick zeigt. Dieser Titel verdeutlicht, so die Kuratorin der Ausstellung und die Herausgeberin des Katalogs, Kristen Lubben, wie sehr die Fotografin politische Rechercheurin geblieben ist – auch dann noch, als sie seit den 1990er Jahren der internationale Kunst- und Museumsbetrieb entdeckt und ausgestellt hat. Lubben schreibt: "It is important to see Meiselas"s photographs not in art, but in History."
Wie zeigt man derart anspruchsvolle, oft multimedial operierende visuelle Forschungsprojekte in einer Ausstellung, wie setzt man diese Arbeiten in einen Katalog um" Den einfachsten Weg, nämlich die vielfältigen Bezüge einfach zu kappen und aus Meiselas die heroische Fotoreporterin zu machen und möglichst viele ihrer eindrucksvollen Fotos zu einem chronologischen Panorama der Zeitgeschichte zusammenzustellen, geht das vorliegende Katalogbuch zum Glück nicht. Vielmehr folgt die Herausgeberin sowohl der Entstehungsgeschichte der einzelnen Arbeiten und stellt diese auch in den wechselnden Kontext der medialen und politischen Rezeption. Der rote Faden, sozusagen das interpretatorische Rückgrat, bildet im Band ein sehr langes, mehrstündiges, überaus informatives Interview, das Kristen Lubben mit Susan Meiselas während der Vorbereitungen zur Ausstellung geführt hat. Das Interview zieht sich – immer wieder unterbrochen durch thematisch aufbereitete Fotoarbeiten – durch das gesamte Buch und gibt den Bildern, Texten und Dokumenten eine kommentierende, verdeutlichende, oft klärende, oft widersprechende Stimme aus dem Off. Dazwischen finden sich, im Layout deutlich abgesetzt, Kommentare und Analysen von außen: Essays von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, Wegbegleitern und Autoren (Abigail Solomon-Godeau, Caroline Brothers, David Levi-Strauss, Lucy Lippard, Edmundo Desnoes, Diana Taylor, Elizabeth Edwards, Allan Sekula u.a.). Diese (oft sehr guten, oft auch mäßig interessanten) Analysen vertiefen einzelne Aspekte des Werks, fügen sich aber nicht zu einem geschlossenen Interpretationsrahmen. Das Ergebnis ist ein Patchwork im positiven Sinne. Eine Vielzahl an Perspektiven ergänzen und überlagern sich – ganz so wie im Werk von Meiselas.
Die Arbeiten der Fotografin werden in drei Themenblöcken präsentiert: Im ersten Abschnitt werden die frühen Porträts aus den 1970er Jahren gezeigt, u.a. die Aufnahmen zum 1976 erschienenen Fotobuch Carnival Strippers, das der Fotografin den Weg zu Magnum ebnete. Bereits dieses frühe Rechercheprojekt über die Arbeit von Frauen in einer reisenden Vaudeville-Community von Stripperinen, die die Fotografin monatelang begleitete, zeigt die Methodik von Susan Meiselas. Sie sammelte nicht nur Bilder, sondern auch Erfahrungen, die sie in Form von Notizen, Interviews und Briefen zusammentrug. Im zweiten Teil werden die Fotoarbeiten aus Mittel- und Südamerika vorgestellt, ausgehend von den ersten Fotoreportagen aus Nicaragua im Jahr 1978 (die u.a. im New York Times Magazine erschienen) bis zu dem den Film- und Ausstellungsprojekt "Reframing History", das 25 Jahre später ebenfalls in Nicaragua entstand und die Kontinuität und die Kluft zwischen damals und heute thematisierte. Im dritten, abschließenden Teil schließlich geht es um das medial und politisch wohl komplexeste Rechercheprojekt, jenes über Kurdistan, das Meiselas 1991 begann und das sie immer noch weiterführt. In diesem Fall tritt Meiselas als Fotografin ein stückweit zurück. Im Schatten des ersten Irakkrieges begann sie, angestoßen von Nachrichten über Massaker an den Kurden im Nordirak, sich für dieses Volk ohne Nation zu interessieren. Sie fotografierte, bald aber begann sie historische Fotografien und Dokumente zu sammeln und legte nach und nach ein großangelegtes Kurdistan-Archiv an, das sie im Internet, in Ausstellungen und in einem umfangreichen Bild-Text-Band veröffentlichte. Wie auch in ihren früheren Recherchen blieb Meiselas nicht die neutrale Beobachterin am Rande des politischen Geschehens, sondern tauchte ein in die Zeitgeschichte und die gegenwärtige Politik. So tief, dass sie – wie 20 Jahre zuvor in Nicaragua – jahrelang an diesem Projekt arbeitete.
Susan Meiselas ist, wiewohl sie in ihren Fotos nüchtern und genau beobachtet, eine von ihrem Thema und ihrem Material Besessene. Sie ist eine Archivarin, die mit multimedialen Mitteln aus der Vergangenheit für die Gegenwart arbeitet. Im Unterschied zu jenen Archivaren, die ihr Archiv bloß in Ordnung halten und damit Abstand zur Vergangenheit herstellen, ist für Meiselas die Vergangenheit aufs engste mit der Gegenwart verknüpft (und im Falle Kurdistans auch mit der erhofften besseren Zukunft). Tausende von Kurdistanfotos sind in den Händen dieser politischen Archivarin lebendige Dokumente, Meiselas" Part ist es, sie zu verbreiten, sie zum Sprechen zu bringen. Die Botschaft dieser Bilder ist in die Gegenwart gerichtet. Das Publikum, an das sie sich richten, bilden nicht Wissenschaftler, sondern politisch Interessierte, Zeitgenossen also, die die vielschichtigen visuellen Recherchen als Beitrag des aktuellen politischen Engagements sehen und nicht als verstaubte Dokumente der Historie.
In History ist ein Buch über Susan Meiselas. Es ist aber auch ein Katalog, der von ihr stammt, ein Projekt, an dem sie aktiv mitgearbeitet hat, dessen visuelle Ausgestaltung und Kommentierung sie angeregt und mit ihrem Material, ihren Erinnerungen ermöglicht hat. Dieses Buch ist daher ein guter Ausgangspunkt, nicht nur über die Karriere und die Arbeiten einer Fotoreporterin nachzudenken, sondern um, ausgehend von konkreten Fotoarbeiten, das Verhältnis zwischen Fotografie und Geschichte zu überdenken. Susan Meiselas" Arbeiten zeigen, dass dieses Verhältnis nicht ein für allemal festgefügt ist. Sie selbst hat ihre eigenen Fotos, die zunächst als einfache Reportagebilder aus aktuellen Krisen- und Kriegsgebieten kamen, immer wieder neu gesichtet und zusammengestellt. So wie die Fotografin länger als für einen Nachrichtenjournalistin nötig in den Ländern blieb, aus denen sie berichtete, so hat sie auch die Verwendung der Bilder später "entschleunigt": indem sie sie in einem anderem Kontext noch einmal verwendete, in neuer Reihung, mit neuen Kommentaren, als Dokumente der Geschichte, die Fragen aufwerfen (wie im Fall des Projekt "Reframing History") mehr als dass sie Fragen beantworteten. Gelegentlich hat sie den schnelllebigen Pressebildern historische Fotografien an die Seite gestellt, deren Horizont und Erzählung viel weiter zurückreicht (wie in ihrem Kurdistan-Projekt). Fotografien, das zeigt Meiseals immer wieder, sind dann besonders intensiv mit der Geschichte verknüpft, wenn ihre rein illustrierenden Bezüge geringer und ihre erzählenden Bezüge stärker werden. Dieses erzählende Moment nimmt bei ihr zweierlei Formen an. Fotos werden, erstens, in einen lebensgeschichtlichen Kontext gebracht. Im Kurdistan-Projekt sehen wir des immer wieder Menschen, die Familienfotos in Händen halten, diese vorzeigen, an die Wand heften, ausstellen. Diese Bilder, so scheint Meiselas zu suggerieren, berichten viel intensiver von der Vergangenheit als jene Fotos, die auf den Titelbildern der internationalen Magazine erscheinen. Zweitens werden die Fotos untereinander in Verbindung gesetzt. Das Modell dieser Anordnung ist – wie im Fall des Kurdistan-Projekts – das Archiv. Nicht Einzelbilder erzählen von der Vergangenheit, sondern Bildgruppen, die sich immer mehr verzweigen und sich mit ihren Geschichten überlagern. Die Präsentationsformen ändern sich mit dem Umfang der Recherche. Das solitäre Einzelbild in einer Illustrierten wird nun zum Anachronismus, synchrone Darstellungsformen wie sie im Internet, in Ausstellungen und teilweise in Fotobüchern möglich sind, rücken in den Vordergrund.
Die Anordnung des Archivs erzählt, so zeigt Meiselas" Kurdistan-Projekt, eher eine Geschichte im Ganzen als dies Einzelbilder vermögen. Aber Meiselas hütet sich, das historische Fotoarchiv als Präsentations- und Erkenntnismittel zu mythologisieren. Sie musste erfahren, dass das weit in die Vergangenheit zurückreichende Bild des kurdischen Volkes, das sie in ihrer historischen Fotosammlung zusammengetragen hat, Risse bekam, als die gegenwärtigen politischen Interessen ins Spiel kamen. Nicht allen Kurdenvertretern erschien die Zusammenstellung repräsentativ, mache kreideten ihr Parteilichkeit und Vergesslichkeit an. Die Geschichte des eben zusammengestellten Albums drohte wieder zu zerfallen. Susan Meiselas ist sich dieser Gefahr des Bedeutungskollapses von Fotografien im Widerstreit politischer Interessen durchaus bewusst. Sie hält die Bilder mit großer Leidenschaftlichkeit fest, aber sie entlässt sie auch wieder ins Unbestimmte, wissend, dass die Zeit die Fotografie verändert. Oft unmerklich, oft im Handumdrehen. In History ist daher kein monumentales Schlusswort zum Thema Fotografie und Geschichte. Das Buch ist viel eher eine nachdenkliche Zwischenbilanz, ein gedehnter Augenblick, in dem Bilder und Geschichte für kurze Zeit in der vorliegenden Form zusammenfinden. In zehn Jahren könnte diese Verbindung vielleicht ganz anders aussehen.
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